Fasziniert, was Zeitung kann - Heimliche Machtzentrale der Landespolitik: Und wir mittendrin

Junger Lokalredakteur im Kreis Ludwigsburg, zudem politisch interessiert, neugierig auf die zeitweise Mächtigen, der sich was traut, die Einflussreichen in einem demokratischen System beobachtet und die Kritik auch an ihnen nicht scheut. Doch die Nähe zu ihnen droht, auch einmal eine Fünf gerade sein zu lassen. 

Sicco Mansholt füllte die Stromberghalle Illingen im Juni 1969. Die Pforzheimer Zeitung organisierte Politik. Der Volontär durfte auch berichten (Dritter von rechts, vorne, zweite Reihe)., (Foto: PZ)

Einen Vorgeschmack erhielt ich am 26. Juni 1969 in der Stromberghalle in Illingen, noch Volontär bei der Pforzheimer Zeitung. Dort zeigte mein Kollege Leo Spielhofer, Redakteur des Württembergischen Abendblattes/Pforzheimer Zeitung, sein journalistisches und organisatorisches Talent: Er stellte einen Diskussionsabend mit Sicco L. Mansholt (Vize-Präsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) auf die Beine – der Saal war rappelvoll, denn der Holländer galt als Feindbild der deutschen Landwirte schlechthin. Mansholt trieb angeblich Politik gegen die Familienbetriebe, Gütesiegel der Bauern im Südwesten Deutschlands. Ich jedenfalls war fasziniert, was Zeitung kann. Dann: Zum 1. Juli 1971 Wechsel zur Ludwigsburger Kreiszeitung

Die Neuen genossen das journalistische Allerlei im Kreis Ludwigsburg, die Vielfalt, das Abwechslungsreiche. Denn hier, auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, wohnten und agierten vor allem in den siebziger bis neunziger Jahren prozentual wohl die meisten Mitglieder der Landesregierung und Fraktionschefs. Lothar Späth – vom Bietigheimer Bürgermeister zum Ministerpräsidenten, seine heimlichen Strippenzieher wie der Staatssekretär und  Regierungssprecher Matthias Kleinert aus Besigheim oder Erich Griesinger, Gemeinderat im benachbarten Löchgau und derjenige, der darauf achtete, dass im Landkreis die Christdemokraten nicht aus dem Ruder liefen. Schließlich Annemarie Griesinger, zuerst Arbeits- und Sozial-, dann Bundesratsministerin, die gute Seele der Union aus Markgröningen, die das Lächeln exakt anknipsen konnte wie andere das Licht. Später Annette Schavan, aus dem Rheinland geholte Kultusministerin, die sich eine kleine Wohnung in Bietigheim nahm. Der Kreis Ludwigsburg als heimliche Machtzentrale der Landespolitik: Und wir mittendrin. Junge, neugierige, interessierte Redakteure.

Baden-Württemberg, das war CDU-Land. Von den seinerzeitigen absoluten Mehrheiten wie sie Hans Filbinger und Späth holten, kann die heutige Unionsgarde nur träumen. Aber das waren Zeiten, als für die Union noch Namen standen. Zum Beispiel der Uni-Professor Wilhelm Hahn als Kultusminister oder Robert Gleichauf, der Mechanikermeister aus dem katholischen Rottenburg, der es bis zum Finanzminister schaffte, wohl den besten, den das Ländle je hatte. Der sich auch hier als Familienvater empfand, der solide wirtschaftet, keine ungedeckten Schecks – auch nicht im übertragenen Sinne – unterschreibt.  

Im November 1976 erlebte ich ihn in Bietigheim, als er Wahlkampf für den in Beilstein wohnenden Professor an der Ludwigsburg PH, Wilhelm Walter, machte. Walter sollte bei der anstehenden Bundestagswahl den von Annemarie Griesinger bis zu ihrem Wechsel in die Landesregierung gehaltenen Bundestagssitz verteidigen, doch er unterlag dem Sozialdemokraten Gunter Huonker, Wahl-Ludwigsburger und ansonsten Bad Godesberger. Für Matthias Wissmann kam die Sache zu früh, der angehende Jurist war in Bonn neben dem Studium persönlicher Mitarbeiter von Annemarie Griesinger, zudem Bundesvorsitzender der Jungen Union – der junge Mann vom Ludwigsburger Zuckerberg soll mehr sich in den Medien vermarktet haben als seine Chefin Annemarie, was sicherlich ihr nicht schadete, jedoch seiner Karriere guttat, die ihn dann doch noch in den Bundestag und dann unter Helmut Kohl in die Bundesregierung führte.

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Daube Zwetschga und bachelige Rät – Protokollstreit im Vaihinger Stadtparlament

Albrecht Müller, beileibe keiner der Vielredner, die auch in den Reihen der drei Fraktionen im gedämpft wirkenden Vaihinger Ratssaal - ebenso wie andernorts – zu Hause sind, konnte sich da nicht mehr zurückhalten. Der sonst schweigsame Auricher FFW-Mann spürte den Ernst der Stunde, kramte in seinem wohl breiten, bislang unbekannten Fundus knitzer schwäbischer Sprüche, fragte dann leicht spitzbübisch in die Runde: Ihr kennt alle den Onderschied zwischa ’m Zwetschgaboom on’ am Gmoiderat – beim Zwetschgaboom senn dia Daube onna uff’m Boda.

Doch seine Kollegen im erlauchten Rat der Großen Kreisstadt Vaihingen fanden solch’ Worte, die gar schnell die Pointe erraten ließen, offenbar gar nicht spaßig, geschweige denn hilfreich. Jedenfalls verzogen sie nicht einen Millimeter ihre Mienen. Dabei gedachte Müller, durch den nicht alltäglichen Vergleich die Ehre des Gemeinderates, speziell aber die des Ortschaftsrates im Stadtteil Gündelbach zu retten. Denn, so sein Gedankengang, die Verwaltung solle doch bittschön nicht glauben, im Stadtparlament säßen nur taube Früchte. Man sei immerhin wer, nämlich die gewählten Abgesandten der Bürgerschaft: On dia senn net bachelich, dia mist ihr ernschter nehma.

Wer glaubt, im historischen Vaihinger Rathaus habe es sich in so ernsten Stunden um Jahrhundertbeschlüsse, vielleicht gar um Unumstößliches gedreht, sieht sich freilich trotz gewichtiger Worte enttäuscht. Der Gegenstand, der ons saumäßig gschtonka hoat (Ortsvorsteher Klein), ließ sich mit zwei Fingern fassen; nämlich zwei eng beschriebene weiße Schreibmaschinenblätter. Der Inhalt: Protokoll einer Waldbegehung just in jenem beschaulichen Strombergort Gündelbach.

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The Länd, der Bund, Mühlacker und der Enzkreis: Gesucht der statistische Mittelwert

Quer durch die Statistik: Der Mittelwert in puncto Alter

Heidenei, sagt der Schwabe, staunt einmal und wundert sich mehrfach: Die Daten in der Mitteilung aus der Zentrale der Landes-Statistiker in der Böblinger Straße 68 in Stuttgart mit der laufenden Nummer 342/2021 kennen wir doch. Tatsächlich bestätigt der Blick zurück, was zu vermuten war. In der Aussendung mit der Nummer 224 am 16. August 2021 steht als Schlagzeile zwar diese: Jüngste Bevölkerung in Riedhausen im Landkreis Ravensburg, älteste in Ibach (Landkreis Waldshut) - Baden-Württemberg: Bevölkerung ist im Schnitt 43,8 Jahre alt. Doch wer suchet der findet als überzeugter, wenn auch im Ruhestand lebender Lokalredakteur in den Kolonnen von Zahlen seine viel geliebten lokalen Werte für Mühlacker, den Enzkreis, Pforzheim und den Rest der Welt.

So überrascht dieser Tage die Nachricht nicht, dass der durchschnittliche Enzkreis-Einwohner 44,6 Jahre alt und der von Mühlacker ein ganzes Jahr jünger ist. Das erfuhr die geneigte Leserschaft der regelmäßigen Pressemitteilungen des Statistische Landesamtes Baden-Württemberg schon seinerzeit im August. Da zu den Konsumenten der diversen statistischen Aufbereitungen auch dieser Blogger gehört, also der Autor dieses Beitrags, fand sich bei seiner Auswertung die lokale Botschaft im Sommer schon in seinem Titel: Wurmberg jüngste Gemeinde des Enzkreises, Mühlacker kommt so langsam in die Jahre. Exakt so könnte jetzt, viereinhalb Monate später, die Überschrift wieder lauten. Denn so schnell altert die Menschheit auch nicht. Doch die Mathematiker im Stala sorgten jetzt für einen neuen Dreh, um trotzdem jedermanns Interesse an ihren Zahlen zu wecken.

Statt des internen Vergleichs in The Länd, rückte nun in den Vordergrund, wie Baden-Württemberg in der statistischen Bundesliga spielt. Und siehe da: Mit 44,6 Jahren ist der durchschnittliche Enzkreis-Mensch so alt wie der exemplarische Deutsche. Der sogenannte statistische Mittelwert.

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Ötisheim mit höchstem 7-Tage-Inzidenzwert - Odysee einer Impfwilligen - Wissen nicht alle: Auch Fachärzte setzen die Spritze gegen Corona

Wie ein Tanz auf dem Vulkan? Manchmal beschleicht einen dieser Eindruck. Bundesweit explodiert die Zahl der an Corona-Erkrankten. Allein in den Kliniken des Enzkreises in Mühlacker hat sich die Zahl von Covid-19-Patienten in einer Woche auf zwölf verdoppelt, drei davon werden beatmet. Die folgende Meldung gleicht einer Kapitulation: Mit dem Corona-Virus Infizierte und deren Kontaktpersonen erhalten vom Gesundheitsamt künftig keinen Anruf mehr - das so genannte individuelle Fallmanagement wird eingestellt, auch in ganz Baden-Württemberg. Der Grund: Aufgrund vielerorts stark steigender Inzidenzen war zahlreichen Gesundheitsämtern in den vergangenen Wochen eine zeitnahe Kontaktaufnahme zu den Betroffenen nicht mehr möglich.

Seit Mittwoch, 3. November, gilt in Baden-Württemberg die sogenannte Warnstufe. Ungeimpfte benötigen nun unter anderem für den Besuch von Veranstaltungen (auch Proben und Sporttraining) und die Gastronomie einen PCR-Test, ein Schnelltest reicht nicht mehr aus. Grund für die Ausrufung der Warnstufe ist, dass an zwei aufeinanderfolgenden Tagen 250 oder mehr Covid-Patienten und -Patientinnen auf Intensivstationen behandelt werden. Anders als früher zählen landesweite Werte und nicht mehr die von einzelnen Kreisen.Trotzdem habe ich die Daten des Landkreises umgerechnet.

Die Daten von heute

Erstmals zeigte meine Corona-APP rot an - eine Begegnung mit einem Corona-Erkrankten soll am 26. Oktober erfolgt sein. Da tagten die Stadträte im großen Saal des Rathauses. Bei mehreren Teilnehmern steht die App auf rot. Heute teilte der Oberbürgermeister mit: Ein Mitglied des Gemeinderates hat ein positives Corona-Testergebnis erhalten und befindet sich in Quarantäne. Das Mitglied war in der Sitzung des Gemeinderates am 26.10.2021 anwesend. Da entsprechende Schutzvorkehrungen zuvor getroffen wurden, ergeben sich keine weiteren Konsequenzen. Noch gestern entschieden Frank Schneider und wir Fraktionsvorsitzenden, die Sitzung am kommenden Dienstag digital und nicht in Präsenz abzuhalten. Solange die Zahl der Corona-Erkrankten weiter explodieren, muss dies meiner Meinung nach für alle Sitzungen in den nächsten Wochen gelten: Beraten via Video.

Die Nicht-Geimpften stehen unter Druck, ihr Aktionsradius wird eingeschränkt. Mancher zieht nun das Impfen vor. Ältere wollen die dritte Spritze. Doch ausgerechnet in den vergangenen Wochen baute das Land die zentralen Impfeinrichtungen ab. Schlecht!  Einen Engpass gibt es schon in Mühlacker.

Hierzu meinen Mail-Wechsel in den vergangenen Tagen mit dem Landrat des Enzkreises, hier im Original dokumentiert:

 

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Digital, weil nicht egal

Das waren noch Zeiten, als die Lokalzeitungen mit größtem Abstand die meisten Haushalte erreichten. Es waren gute Zeiten für die Demokratie, aber auch für unsere Kommunen. Unabhängige Nachrichtenbringer und Kommentatoren, die in den Redaktionsstuben den Lauf der Dinge vor Ort verfolgten. Die Redaktionsstuben gibt es  immer noch, doch häufiger mit weniger Journalisten besetzt als noch zu Zeiten der Wende 1990. Damals feierten die Tageszeitungen Rekorde in den Auflagezahlen. Doch der demographische Wandel machte ihnen danach so zu schaffen, so dass manche Blätter bis jetzt ein Drittel ihrer Auflage verloren. Die Alten sterben weg, weniger Jungen wachsen als Abonnenten nach. Auflage stabil zu halten wird schon als Erfolg gefeiert. Wie bescheiden sind wir - zwangsweise - geworden!

Enzberg: hohberg.blog.de - ein weiterer Bürgerblog zu den rechtlichen Festsetzungen in den Gartenhausgebieten, die geändert werden sollen

In manchen Neugebieten sind die Leser der Zeitungen äußerst rar, Mühlackers relativ hoher Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund - besonders in der Kernstadt - ist nicht gerade ein Nährboden, um viele neue Abos zu schreiben. Der Klick auf Smartphone oder Tablet ist schneller und kostet (meist) nichts. In den sozialen Medien spielt sich spürbar lokaler Diskurs ab, manchmal auch in wirrer Form. Subjektives wird zum Objektiven, obwohl es immer subjektv bleibt. Wer fragt nach Fakten, Fakten, Fakten? Die Tageszeitungen liefern täglich und stündlich Gratis-Häppchen der Neuigkeiten im Netz, die manche schon satt macht. Mein Herz schlägt für das gedruckte Medium. Selbst bei meinen abonnierten E-Paper-Ausgaben drucke ich mir schon mal Seiten aus. Ich finde, dann liest es sich besser.

Bürger-Blogger - oder was?

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Der Unbürokrat

Manches bleibt einfach im Gedächtnis hängen. So zum Beispiel ein Schreiben, das mir Heinz Reichert, der damalige Landrat in der Antwort auf einen Beschwerdebrief schickte: Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede, man muss sie billig hören beede. Ich hatte mich in einer Anfrage einseitig auf eine Information gestützt. Und da gab er dem jungen Kreisrat (seit 1979) mit diesem Satz, der zum Beispiel im Frankfurter Römer zu finden ist, einen klugen Ratschlag mit auf den Weg. Ich habe diese Mahnung nicht vergessen.

Der Architekt, Gestalter, Kümmerer schreibt die Pforzheimer Zeitung in einem Nachruf. Heinz Reichert starb am Samstag im Alter von 88 Jahren am Samstag in Pforzheim, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Abschied als erster Landrat des Enzkreises, des Gebildes aus ehemals badischen und württembergischen Gemeinden.

Dr. Heinz Reichert (Foto: Enzkreis)

Heinz Reichert kannte ich seit Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als er Erster Landesbeamter im Landratsamt Vaihingen an der Enz war und ich seit April 1969 Volontär der Bezirksausgabe Vaihingen der Pforzheimer Zeitung, dem Württembergischen Abendblatt. Er war es, der damals die Idee hatte, die Schönheit unserer Landschaft für die Naherholung zu nutzen. Reichert ist quasi der Urvater des Tourismus Kraichgau-Stromberg. Der erste Werbespruch, den er damals im Rahmen einer Kampagne im Landratsamt Vaihingen vorstellte: Wasser, Wälder, Wein, laden in den Stromberg ein. Vergessen ist dieser Satz bis heute nicht.

Seinerzeit leitete ich die Junge Union im Kreis Vaihingen und verpflichtete ihn mindestens zweimal zu Referaten, obwohl er sicherlich nicht unbedingt auf der Linie der CDU lag. Aber er stand für frische Ideen, für neue Gedanken, hielt nicht an alten Zöpfen fest, versuchte neue Wege zu erproben.

Ich war ein Reichert-Fan und deshalb zog ich mir auch den Ärger der Altvorderen in der Kreis-CDU nach der Kreisreform zu als ich ungefragt und öffentlich namens der Jungen Union im Altkreis VAI die Wahl von Reichert 1972 zum Amtsverweser des jungen Enzkreises empfahl, obwohl die Union mit Manfred Oechsle, dem späteren Oberbürgermeister von Reutlingen, einen eigenen Bewerber hatte. Ein Jurist und Kreisverordneter der Union aus Mühlacker ließ mich daraufhin wissen. man sei nicht unbedingt auf meinen Rat angewiesen.

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Fall Oppenländer, zweiter Teil: Lokales Lehrstück über Sühne im Sonderangebot und Politiker, die Straftaten der Nazis weich spülen

Hermann Oppenländer, der Lehrer: Juli 1958 beim Umzug im Rahmen des Kinderfestes bei den Tagen der Heimat. Lienzingen (Foto: Smlg. Roland Straub)

Er war einer der drei Lehrer der Volksschule in Lienzingen: Hermann Oppenländer. Der 59-Jährige brachte im Sommer 1959 die baden-württembergische Allparteien-Regierung in höchste Erklärungsnöte.  Denn der dritte Mann im Pädagogen-Trio saß zehn Jahre zuvor noch im Zuchthaus, weil er als NSDAP-Kreisleiter 1945 einen Hitler-Gegner liquidieren ließ, galt in jener Zeit als Katholikenhasser und Kriegshetzer. Schon drei Jahre lang unterrichtete der Ex-Nazi nun wieder. In aller Stille. Die Schulverwaltung wusste von seinem Vorleben. Eine breite Öffentlichkeit erfuhr von dem Skandal erst durch eine Pressemitteilung am 30.  Juli 1959 – Überschrift: Ein Krimineller als Lehrer im öffentlichen Schuldienst – des Stuttgarter Landtagsabgeordneten Fritz Helmstädter (SPD).


Lienzinger Geschichte(n): Die Akteninhalte demaskieren den guten Menschen von nebenan. Nun das Folgestück über Hermann Oppenländer. Seit dem Sommer 2020 sichtete ich Stöße weiterer Dokumente aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg (Signaturen jeweils angegeben). Zur Einordnung der Geschehnisse in den größeren Zusammenhang soll die Untersuchung von Christine Arbogast dienen, jetzt hauptamtliche Sozialdezernentin in Braunschweig, zuvor Erste Bürgermeisterin in Tübingen, die sie als Dissertation vorgelegt hatte (Christine Arbogast, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP, 7. Band in der Reihe Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland, R. Oldenbourg Verlag München, 1998, 255 Seiten). Empfehlenswert ist, den grundlegenden ersten Beitrag über Hermann Oppenländer zu studieren, auf dem der zweite aufbaut. Überschneidungen wollte der Autor vermeiden, waren jedoch nicht ganz auszuschließen.


Gerhard Storz, Kultusminister (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg)

Einige Tage danach legte der Sozialdemokrat mit einer Kleinen Anfrage im Parlament nach. Der Demokratie sei ein schwerer Schlag versetzt worden, beklagte der Politiker. Lienzingen, die kleine Schule im Dorf und der als freundliche Herr bekannte Oppenländer schafften es am 26. September 1959 gar als Thema des Leitartikels auf die Titelseite der auflagenstarken Stuttgarter Nachrichten. Zunächst hatte der Abgeordnete am 23. April 1959 einen intern gebliebenen Brief an das Kultusministerium verfasst, das am 3. Mai 1959 bei den nachgeordneten Stellen die Personal- und Strafakte des ehemaligen Kreisleiters anforderte.

Beide großen Zeitungen der Landeshauptstadt attackierten nach Bekanntwerden des Falles besonders Kultusminister Gerhard Storz – wie Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger ein Christdemokrat. Doch der Regierungschef und spätere Bundeskanzler distanzierte sich in seiner Antwort von der Personalentscheidung der eigenen Schulbehörden, die in jenem Sommer landesweit für Furore sorgte.  Der Streitpunkt: Durfte 1956 Justizminister Dr. Wolfgang Haußmann (FDP/DVP) den gelernten Lehrer begnadigen, so dass dieser wieder vor einer Klasse stehen und Kinder lehren konnte? Mit fester Unterstützung durch die Schulbehörde. Gleichzeitig war die Gemeinde ausgesprochen froh, die gefährdete dritte Lehrerstelle besetzt zu sehen, die das Schulamt eigentlich hatte streichen wollen (Stadtarchiv Mühlacker=STAM, Li B 325, S. 25).

Als Erstklässler bei Lehrer Oppenländer 1957 in der Volksschule Lienzingen: Günter Bächle

Der Fall Hermann Oppenländer (1900-1973) aus Mühlacker - ein lokales Lehrstück über Landespolitiker, denen nach 1952 langsam die Überzeugung abhanden kam, Schuld sei zu sühnen. Und Schuld luden die NS-Funktionäre, wie das Beispiel Oppenländer zeigt, zuhauf auf sich. Doch die Entnazifizierung wurde Politikern zunehmend lästig. Der Volksschullehrer und Familienvater profitierte davon. Er zählte von 1934 bis 1945 zur regionalen NS-Elite, zu der die Historikerin und Politologin Christine Arbogast in ihrer Untersuchung über Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP besonders die 64 Kreisleiter rechnet. Einer davon war Oppenländer, der Sohn eines Lokomotivführers aus Dürrmenz, zuerst NSDAP-Chef im Oberamt Vaihingen an der Enz, dann im Kreis Schwäbisch Gmünd, Seit 1. September 1956 unterrichtete er die Erst- und Zweitklässler an der Lienzinger Schule. Zwar nicht als Beamter, aber als Angestellter, weil es an Pädagogen mangelte. Seine persönliche Geschichte arbeitete ich vor knapp einem halben Jahr in diesem Blog auf. Denn Oppenländer war 1957 mein erster Lehrer an der Volksschule.

Einstiger Goldfasan - ein vom Volksmund geprägter Begriff für hohe Parteifunktionäre im Dritten Reich mit vielen Abzeichen – nun in der Rolle des Biedermanns und Kinderfreundes. Der Gnadenausschuss beim Landesjustizministerium nannte ihn im März 1954 einen der gewalttätigsten Kreisleiter, der sich in alle möglichen Angelegenheiten mit Drohungen eingemischt habe, der sich zudem eine Vielzahl von individuellen Belastungen zuschulden habe kommen lassen. Alles, was er als Begründung und zu seiner Entlastung vorgebracht habe, verblasse hinter der Schwere seiner Schuld (Aktenvermerk der Abteilung V des Ministeriums über die Sitzung des Ausschusses am 15. März 1954, in der ein weiteres Gnadengesuch von Oppenländer auf Unterhaltsbeihilfe abgelehnt wurde (Staatsarchiv Ludwigsburg=SAL El 902/7 Bü 10968).

Zufällig stieß ich vor Monaten bei einer Online-Recherche in den Beständen des Landesarchivs Baden-Württemberg über Lienzingen auf sie: Die öffentlich zugängliche Personalakte des Hermann Oppenländer, geführt beim Oberschulamt Nordwürttemberg in Stuttgart. Letzte Dienststelle: Mühlacker-Lienzingen (Bestand EL 204 I Bü 2777, Oberschulamt Stuttgart: Personalakten von Lehrern an Volks-, Real- und Sonderschulen/(1903) 1952-1978). Mehr als 60 Jahre nach der Zeit, in der ich ihn als nett und jovial kennen, achten und schätzen lernte. Der uns Volksschüler 1958 beim Umzug anlässlich des Kinderfestes durch die Straßen von Lienzingen begleitete. Der Lehrer, der den örtlichen Männergesangverein Freundschaft dirigierte. Der Wolf im Schafspelz, dem der seinerzeitige Bürgermeister Richard Allmendinger und Pfarrer Gerhard Schwab ein gutes Zeugnis ausstellten, genauso wie Schulrat Friedrich Wißmann nach einem Unterrichtsbesuch. Der Männergesangverein bedauerte, dass unser so beliebter Dirigent, Herr Oppenländer im Herbst 1964 aus Krankheitsgründen nach sechs Jahren sein Amt habe niederlegen müssen (aus: Festschrift zu 125 Jahre Gesangverein Freundschaft Lienzingen e.V., 1988, S. 49).

Reinhold Maier, Ministerpräsident (Fotos: Landesarchiv Baden-Württemberg)
Fritz Helmstädter, Landtagsabgeordneter

Für mich war die Erkenntnis neu: Mein freundlicher Lehrer ein vormals in hohem Maße überzeugter Nazi, auch wenn er sich inzwischen davon distanzierte. Nach meinem ersten Text über ihn blieb ich auf Spurensuche des Mannes, der mit seiner Familie in Mühlacker wohnte. Der im Herbst 1959 von einem Tag auf den anderen nicht mehr Lehrer in Lienzingen war, nach einem Nervenzusammenbruch freiwillig in den Innendienst des Bezirksschulamtes in der Uhlandstraße in Mühlacker wechselte und von 1960 an bis zu seiner Pensionierung 1964 in der Außenstelle im Schloss Ludwigsburg der Württembergischen Landesbibliothek, dem Ausweichmagazin, arbeitete. Hauptsache, er hatte nichts mehr mit der Öffentlichkeit zu tun. Sozusagen ein Angestellter im Versteck.

Die Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Helmstädter kam aus der Villa Reitzenstein: Die Landesregierung ist der Auffassung, dass grundsätzlich eine Wiederverwendung im öffentlichen Schuldienst in derartigen Fällen nicht erfolgen sollte, heißt es in der von Ministerpräsident Kiesinger unterschriebenen Antwort der Landesregierung ganz pauschal auf die Kleine Anfrage des Sozialdemokraten. Ob eine Kündigung des privatrechtlichen Anstellungsverhältnisses des früheren Rektors, der zurzeit als dritter Lehrer an der Volksschule Lienzingen Kreis Vaihingen/Enz tätig ist, vorgenommen werden soll, wird zurzeit durch eine vom Kultusministerium eingeleitete Untersuchung überprüft (Landtag von Baden-Württemberg, Beilage 2921, ausgegeben am 13. Oktober 1959).

Kurt Georg Kiesinger, Ministerpräsident (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg)
Wolfgang Haußmann, Justizminister (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg)

Bis diesen Fall jemand schriftlich in einem am 17. April 1959 bei dem Politiker Helmstädter eingegangenen Brief publik machte, hatte Oppenländer in drei Jahren beruflich festen Boden unter den Füßen gewonnen, war geachtet und beliebt.  Unbemerkt und unaufgeregt, aktiv betrieben vom Oberschulamt Nordwürttemberg. Die Stuttgarter Behörde hatte, nicht ohne Kenntnis des Kultusministeriums, Fakten geschaffen. Möglich machte dies ein Gnadenerweis von Justizminister Haußmann vom 19. März 1956. Helmstädter warf zuvörderst Haußmann indirekt vor, damit gegen die Anordnung des Ministerpräsidenten über die Ausübung des Gnadenrechts vom 18. Juni 1954 (Gesetzesblatt 1954, S. 81) verstoßen zu haben. Das Ministerium habe einem früheren Kreisleiter der NSDAP, der wegen zweier Verbrechen der Tötung und Anstiftung zum Landfriedensbruch von einem Landgericht rechtskräftig verurteilt worden war, die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter wieder verliehen, schrieb Helmstädter, ohne den Namen des Betroffenen zu nennen. Der SPD-Politiker wollte nun wissen, ob die Landesregierung den Gnadenerweis für gerechtfertigt halte (Landtag von Baden-Württemberg, Beilage 2865, ausgegeben am 17. September 1956).

Durchaus geschickt entzog sich Kiesinger in seiner Antwort einer Wertung, denn – so seine Begründung - der Ministerpräsident habe dieses Recht auf die Ressortminister übertragen. Eine Beurteilung dieses Falles liege damit nicht in der Kompetenz der Landesregierung. Das Gnadengesuch war beim Regierungschef eingegangen, vom Staatsministerium aber ans Justizministerium weitergeleitet worden. Der Regierungschef legte seiner Antwort die Stellungnahme des Justizministers bei, in der erst der Name des früheren Kreisleiters genannt wurde: Hermann Oppenländer. Haußmann verteidigte seine mehr als drei Jahre zuvor getroffene Entscheidung.

Die Beurteilung solcher Personen der NS-Herrschaft habe sich, so Haußmann 1969, seit dem Zusammenbruch 1945 mit zunehmend zeitlichem Abstand gemildert. Das kam nach Auffassung des Freidemokraten schon 1953 zum Ausdruck mit der Verabschiedung des Gesetzes zur einheitlichen Beendigung der politischen Säuberung durch die Verfassungsgebende Landesversammlung Baden-Württembergs und die darin erfolgte generelle Wiedereröffnung des Weges in öffentliche Ämter. Auch die Tendenz des Straffreiheitsgesetzes von 1954 weise in diese Richtung.

Akte Hermann Oppenländer (StAL EL 902/7)

Das Landgericht Ellwangen hatte die langjährige Zuchthausstrafe im Herbst 1947 verhängt, weil Oppenländer als Kreisleiter kurz vor der Kapitulation Mitte April 1945 zwei Männer – Robert Haidner (31) und Heinrich Probst (38) - widerrechtlich erschießen ließ, die betrunken durch die Straßen von Schwäbisch Gmünd gezogen und lautstark Parolen gegen Hitler gerufen hatten. Die Strafkammer schickte den Angeklagten für zwölf Jahre und vier Monate in den Knast – bei einer Gesamtstrafe wegen Totschlags und Anstiftung zum Landfriedensbruch.

Letzteres in einem zweiten Verfahren - wegen Randale und Zerstörungen durch etwa 40 aufgehetzte Nazis in der Nacht zum 12. April 1938 vor und in den katholischen Pfarrämtern Gmünd und Waldstetten. Türen und Fenster wurden eingeschlagen, es fielen einige Schüsse, die Geistlichen wurden beschimpft und bedroht. Aufgehetzt von Oppenländer, der zwar nicht direkt beteiligt war, aber zuvor in einer Rede in den Räumen der Kreisleitung wissen ließ, von der Gauleitung aufgefordert worden zu sein, gegen die katholischen Pfarrer zu demonstrieren und dadurch einen Vorwand zu schaffen, um sie in Schutzhaft nehmen zu können. Was dann auch geschah – die Polizei ging nicht gegen den Mob vor, sondern holte die drei Geistlichen an dem Abend in den demolierten Pfarrhäusern ab. Zu ihrem Schutz. Eine infame Begründung. Die Randale dauerte etwa eine halbe Stunde, so lange brauchte es, bis die Polizei von ihrem 100 Meter entfernten Revier kam. Oppenländer wurde nach 1945 zur Rechenschaft gezogen und  verurteilt. Zusammengerechnet mit dem Urteil wegen Totschlags sollte er erst 1960 wieder frei kommen.

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