Abenteurer, Militär, Autor, Abgeordneter, Minister, Maler, Journalist, Kriegsführer, Staatsmann – all dies war Winston Spencer Churchill (1874 bis 1965). Er lebte diese Rollen. Und die Klammer, die sich um alle legt? Der Journalist und Churchill-Biograf Thomas Kielinger findet hier das Wort von Perikles passend: Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber der Mut. An dem mangelte es ihm nicht. Er war kein Mann der Political Correctness. Seine Markenzeichen: Zylinder, Havanna, Gehstock und das Victory-Zeichen. Sein Motto findet sich in seinen Memoiren: Im Krieg: Entschlossenheit. In der Niederlage: Trotz. Im Sieg: Großmut.
Als Winston Churchill 25 Jahre alt war, hatte er Kriege auf drei Kontinenten erlebt, fünf Bücher geschrieben und einen Sitz im britischen Unterhaus gewonnen. Als er 60 war, galt er politisch als gescheiterter Mann. Doch dann kam mit dem Zweiten Weltkrieg Churchills größte Stunde.
An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht. Wir sind doch alle Würmer. Aber ich glaube, ich bin ein Glühwurm. Der Ausspruch des damals 32-jährigen verrät, wie der spätere britische Premierminister sich selbst sah: Ein ungeheurer Anspruch, nicht frei von Arroganz, schreibt Kielinger in seiner Churchill-Biografie Der späte Held.
Winston – sein Vater war Lord Randolph Churchill, dritter Sohn des siebenten Herzogs von Marlborough. Weil aber nur der älteste Sohn eines Herzogs den Titel erbt, galt Winston als bürgerlich. Von nun an war ich Herr meiner Geschicke, zitiert ihn Sebastian Haffner in seiner 1967 erschienen Monografie Winston Churchill. Zwischen Haffners biografischem Essay und Kielingers Sachbuch liegen rund 50 Jahre – letzterer konnte sich auf erst inzwischen verfügbare, weit umfangreichere Quellen stützen. Beide zu lesen, lohnt sich trotzdem. Garantiert ein Lese-Vergnügen: Zuerst Haffners 200 Seiten, dann Kielingers 400. Keine Chance für Langeweile.
In beiden Büchern wird Churchills schwierige Kindheit geschildert – geprägt durch die emotionale Vernachlässigung durch seine Eltern, insbesondere durch seine Mutter Jennie Jerome und den ehrgeizigen, oft abwesenden Vater Lord Randolph Churchill. Schon früh sei sein Eigenwille, sein Ehrgeiz und sein Hang zur Selbstbehauptung deutlich. Der junge Winston, stets auf Anerkennung bedacht, entwickelte früh eine kämpferische Haltung, die sein gesamtes späteres Leben prägen sollte, sowie ein Gespür für Machtpolitik und Inszenierung.
Hoffnungsloser Schulversager
Der Journalist Sebastian Haffner, beibehaltenes Pseudonym des Juristen Raimund Pretzel, der 1938 ins Exil nach London ging und 1954 wieder nach Berlin zurückkehrte, schildert den jungen Winston als hoffnungsloser Schulversager, der nicht einmal das Abitur schaffte, der aber einer der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhundert wurde. Berufsoffizier, Husarenleutnant, begnadeter Schriftsteller, Politiker, im reifen Alter Premierminister des Königreichs. Zweimal wechselte er die Partei, zuerst von den Tories zu den Liberalen und dann wieder zurück – nicht aus Opportunismus, wie er schrieb, sondern weil sich deren Programm jeweils gewandelt hatte. Im Februar 2014 zitierte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in einer Rede vor beiden Häusern des britischen Parlaments den Staatsmann: Leben heißt sich ändern, und vollendet sein heißt sich oft geändert zu haben.
Eine spannende Lebensgeschichte
Der heute 84-jährige Autor Kielinger, jahrelang Korrespondent der WELT in London, bringt es auf den Punkt: Seine Laufbahn begann im Glorienschein des Kriegers und Abenteurers. Churchill sammelte Erfahrungen als Soldat und dann auch als Kriegsreporter in den Kolonialkriegen - in Indien, Südafrika, mit seiner Flucht aus dem Gefangenenlager der Buren: Churchill, ein Held des Empires, schlüpfte nicht selten auch in beide Rollen gleichzeitig. Soldat und Reporter. Er schrieb Zeitungsberichte, recycelte diese in Büchern, finanzierte aus den Honoraren wesentliche Teile seines Lebensunterhalts.
Eine erste Kandidatur fürs Unterhaus ging anno 1900 schief. Doch just die Geschichte vom tapferen Winston, der den Buren entschlüpfte, verbreitete sich aus von Gazette zu Gazette, schaffte zusätzlichen Bekanntheitsgrad, die Engländer applaudierten, was wiederum seiner nun zweiten Kandidatur fürs Unterhaus höchst förderlich war. Somit holte er sich 1901 sein erstes Mandat im Westminster-Palast noch zu Zeiten der legendären Königin Victoria, nach der eine ganze Ära benannt worden war - er blieb Member of Parlament mit kurzen Unterbrechungen bis 1964 und damit bis zur Ära der Königin Elisabeth II. Zweimal Premierminister, mit 66 und mit 77 Jahren, als andere schon an den Ruhestand denken. Vor allem aber Nationalheld: Anführer der Briten im Krieg gegen Hitler-Deutschland.
Es kam wie von Churchill prophezeit
Die von Churchill gegeißelte Appeasement-Politik seines Vorgängers Chamberlain war gescheitert. Es kam, wie der in großen Linien denkende Stratege Churchill es prophezeit hatte. Dem deutschen Diktator war nicht zu trauen. Als Hitler im September 1939 Polen überfiel, erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg. Dass er Polens Freiheit nicht retten konnte, weil der russische Bär und damit die Kommunisten sich des Landes nach 1945 bemächtigten, empfand der britische Regierungschef als Niederlage. Seine Gegenstrategie, von Süden her Europa vom Nazi-Terror zu befreien, stieß bei US-Präsident Franklin D. Roosevelt nicht gerade auf Gegenliebe. Roosevelt wollte Stalin nicht verprellen, Churchill dagegen möglichst viele Gebiete für Briten, Franzosen und Amerikaner unter Kontrolle bringen. Eine solche Taktik umzusetzen, dauerte den Amerikanern zu lange, sie wollten den kürzeren Weg durch die Landung an den Küsten der Normandie (1944: D-Day). Churchill beklagt in dem sechsten und letzten Band seiner 1953 vorgelegten Kriegsmemoiren: Den Krieg gewonnen, den Frieden verspielt. Letztlich hatten die beiden Großen ihre jeweiligen Einflusssphären schon abgesteckt
Der Aufstieg zur politischen Führung
Churchills Weg in die Politik und sein rastloses Engagement in unterschiedlichsten Regierungsämtern – von Kolonialminister über Kriegsminister bis hin zum Premier – werden von Sebastian Haffner als Ausdruck eines unbändigen Willens zur Gestaltung interpretiert. Er beschreibt, wie Churchill häufig gegen den Mainstream schwamm, Risiken einging und auch Niederlagen und Skandale in Kauf nahm, ohne sich entmutigen zu lassen. Diese Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden und unerwünschte Wahrheiten auszusprechen, hebt Haffner als wesentliches Element von Churchills Führungspersönlichkeit hervor.
Churchill als Kriegspremier – Der einsame Rufer
Der wohl wichtigste Teil der Bände gilt Churchills Rolle während des Zweiten Weltkriegs. Haffner stellt heraus, wie Churchill in den entscheidenden Wochen des Jahres 1940, nach dem Zusammenbruch Frankreichs, als Premierminister zum Inbegriff des britischen Widerstands gegen Nazi-Deutschland wurde. Er beschreibt eindrucksvoll, wie Churchill, oft einsam in seinem Widerstandswillen, die britische Nation mit seinen Reden, seinem Mut und seinem unerschütterlichen Optimismus durch die dunkelste Stunde führte. Vor dem Unterhaus rief er am 13. Mai 1940 aus: Er habe nichts anzubieten außer Blut, Schweiß und Tränen. Seine rhetorische Brillanz, der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und die Bereitschaft, notfalls allein gegen Hitler-Deutschland zu stehen, werden als Schlüssel für den britischen Durchhaltewillen und letztlich für den Sieg über den Faschismus herausgearbeitet.
Kielinger analysiert die berühmten Reden Churchills und dessen politisches Geschick, aber auch die psychologischen Aspekte seines Führungsstils. Die Zweifel, Ängste und der immense Druck, dem der Regierungschef ausgesetzt war, werden eindrücklich geschildert: Einerseits der unbeirrbare Optimist, der Großbritannien in finsterster Stunde Hoffnung gab, andererseits der Realpolitiker, der auch harte Entscheidungen traf und nicht frei von Fehlern war. Das Buch beleuchtet Churchills Verhältnis zu Roosevelt und Stalin, zeigt die diplomatischen Herausforderungen und die persönlichen Belastungen, die mit der Rolle als Retter Europas verbunden waren.
Hobby eine äußerst wichtige Strategie
Mit dem Nobelpreis für Literatur 1952 wurden seine schriftstellerischen Leistungen gewürdigt. Er schrieb die Geschichte des Ersten und des Zweiten Weltkrieges – sie ergaben genauso mehrteilige Bände genauso wie Geschichte, vier Bände mit der Invasion Cäsars in Britannien beginnend und mit dem Ende des Victorianischen Zeitalters schließend sowie seine eigenen Lebenserinnerungen und die Familiensaga des Herzogs Marlborough. 34 Bücher brachte er auf den Markt, allesamt Bestseller. Und allesamt Mitarbeitenden diktiert, was ein höheres Tempo erlaubte, als wenn er alles hätte zu selbst zu Papier bringen müssen - Aber auch Essays wie den mit dem unpolitischen Titel Zum Zeitvertreib, in dem er sich feinsinnig und humorvoll mit dem Lesen und Malen beschäftigt auf 60 kleinformatigen Seiten. Abwechslung ist der Schlüssel schlechthin. (…) Ein Hobby und neue Interessen zu pflegen ist daher für jemanden, der im öffentlichen Leben steht, eine äußerst wichtige Strategie.
Der Mensch Churchill – Genie und Exzentriker
Haffner zeichnet Churchill nicht als makellosen Helden, sondern als komplexe Persönlichkeit mit Licht und Schatten. Er beschreibt seine Eitelkeit, seinen Hang zu theatralischen Gesten, seine emotionale Unberechenbarkeit, aber auch seinen Charme und Humor. Churchill erscheint als ein Genie, das gerade aus seinen Fehlern und Niederlagen eine fast übermenschliche Resilienz zog. Die Ambivalenz seines Charakters – zwischen Hybris und Selbstironie, zwischen Übermut und Verzweiflung – macht ihn zu einer außergewöhnlichen, faszinierenden Figur.
Ein weiterer wichtiger Teil des Buches ist der Blick auf Churchills Nachkriegszeit. Kielinger beschreibt, wie Churchill nach dem Krieg politisch und persönlich mit der neuen Weltordnung ringt, sich als Architekt Europas zu profilieren sucht und schließlich aus dem Amt scheidet. Auch Churchills künstlerische Seite, seine Leidenschaft für das Malen und Schreiben, aber auch seine Schwächen, wie der Hang zu Zigarren und Alkohol, werden beleuchtet und tragen dazu bei, ein menschliches und authentisches Bild zu zeichnen. Ich kann mich nicht damit abfinden, den Rest meines Lebens müßigzugehen.
Legendenbildung um den Ex-Premier
Nicht zuletzt geht Kielinger auf das Nachleben Churchills ein – wie sein Bild bis heute weltweit nachwirkt, welche Verehrung und Kritik ihm zuteilwurde und wie sich die Bewertung seiner Leistungen im Laufe der Jahrzehnte wandelte. Auch der Mythos und die Legendenbildung um Churchill werden nüchtern betrachtet.
Kritische Würdigung
Kielinger gelingt mit Der späte Held das Kunststück, Churchill weder zu glorifizieren noch zu entzaubern. Stattdessen zeigt er einen Menschen mit Ecken und Kanten. Haffner betont, dass Churchill, anders als viele andere Kriegspremiers, auch nach dem Ende der Kampfhandlungen eine gewichtige Stimme blieb. Er warnte früh vor den Gefahren des Kommunismus und der sowjetischen Expansion, prägte Begriffe wie Eiserner Vorhang und setzte sich unermüdlich für ein vereintes Europa ein so in seiner bekannten Züricher Rede 1946. Haffners Resümee: Doch auch hier bleibt Churchill der Außenseiter – sein Einfluss auf die konkrete Entwicklung Europas blieb begrenzt, und viele seiner Visionen wurden erst Jahrzehnte später realisiert.
Sebastian Haffner: Churchill. Verlag Rowohlt. Verlag: Rowohlt. Erscheinungstermin: 01.10.2017. ISBN: 978-3-644-51721-9. 160 Seiten. Taschenbuch. 14 Euro
Thomas Kielinger: Winston Churchill. Verlag C.H.Beck. ISBN 78-3-406-71377-4. Erschienen am 29. August 2017, 3. Auflage, 2022. 400 S., mit 43 Abbildungen. 16,95 Euro
Winston Churchill: Zum Zeitvertreib. Vom Lesen und Malen. Hoffmann und Campe, 11,5 x 18,5 cm, 64 S., geb. 15 Euro