Der Unbürokrat

Manches bleibt einfach im Gedächtnis hängen. So zum Beispiel ein Schreiben, das mir Heinz Reichert, der damalige Landrat in der Antwort auf einen Beschwerdebrief schickte: Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede, man muss sie billig hören beede. Ich hatte mich in einer Anfrage einseitig auf eine Information gestützt. Und da gab er dem jungen Kreisrat (seit 1979) mit diesem Satz, der zum Beispiel im Frankfurter Römer zu finden ist, einen klugen Ratschlag mit auf den Weg. Ich habe diese Mahnung nicht vergessen.

Der Architekt, Gestalter, Kümmerer schreibt die Pforzheimer Zeitung in einem Nachruf. Heinz Reichert starb am Samstag im Alter von 88 Jahren am Samstag in Pforzheim, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Abschied als erster Landrat des Enzkreises, des Gebildes aus ehemals badischen und württembergischen Gemeinden.

Dr. Heinz Reichert (Foto: Enzkreis)

Heinz Reichert kannte ich seit Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als er Erster Landesbeamter im Landratsamt Vaihingen an der Enz war und ich seit April 1969 Volontär der Bezirksausgabe Vaihingen der Pforzheimer Zeitung, dem Württembergischen Abendblatt. Er war es, der damals die Idee hatte, die Schönheit unserer Landschaft für die Naherholung zu nutzen. Reichert ist quasi der Urvater des Tourismus Kraichgau-Stromberg. Der erste Werbespruch, den er damals im Rahmen einer Kampagne im Landratsamt Vaihingen vorstellte: Wasser, Wälder, Wein, laden in den Stromberg ein. Vergessen ist dieser Satz bis heute nicht.

Seinerzeit leitete ich die Junge Union im Kreis Vaihingen und verpflichtete ihn mindestens zweimal zu Referaten, obwohl er sicherlich nicht unbedingt auf der Linie der CDU lag. Aber er stand für frische Ideen, für neue Gedanken, hielt nicht an alten Zöpfen fest, versuchte neue Wege zu erproben.

Ich war ein Reichert-Fan und deshalb zog ich mir auch den Ärger der Altvorderen in der Kreis-CDU nach der Kreisreform zu als ich ungefragt und öffentlich namens der Jungen Union im Altkreis VAI die Wahl von Reichert 1972 zum Amtsverweser des jungen Enzkreises empfahl, obwohl die Union mit Manfred Oechsle, dem späteren Oberbürgermeister von Reutlingen, einen eigenen Bewerber hatte. Ein Jurist und Kreisverordneter der Union aus Mühlacker ließ mich daraufhin wissen. man sei nicht unbedingt auf meinen Rat angewiesen.

Sieben Jahre später zog ich, 29-Jährig, selbst in den Kreistag ein, dessen einzelnes Mitglied nun nicht mehr Kreisverordneter hieß, sondern Kreisrat. In den ersten Jahren, noch im alten Pforzheimer Landratsamt am Schlossberg, begrüßte er mich vor einer Kreistagssitzung schmunzelnd mit den durchaus anerkennenden Worten: Der Helfer der Mühseligen und Beladenen. Er kümmerte sich noch selbst um Anliegen und Beschwerden, auch wenn im Fachamt schon dicke Akten lagen. So von einem Landwirt aus Lomersheim, der sich an mich wandte, weil ihm der Bau einer Scheuer abgelehnt worden war. Zusammen fuhren wir nach Pforzheim ins Landratsamt zum Gespräch, das ich organisiert hatte. Da saßen wir also, hofften, dass das Landwirtschaftsamt in der Scheune doch ein privilegiertes Vorhaben sah und so den Weg zur  Baugenehmigung für das Projekt im Außenbereich durch die Stadt Mühlacker frei machte. Er hörte sich den Landwirt an, beide sprachen in gedämpftem Ton, unaufgeregt und sachlich. Des genehmigen wir, sagte er zum anwesenden Vertreter seines Fachamtes. Das war das letzte Wort in dem Fall. Und das allein galt.

Mich faszinierte, dass er sich selbst ein Bild machte. Ganz anders die spätere Landräte-Generation, die Beschwerden über die Entscheidung eines Fachamtes von eben diesem Fachamt selbst  bearbeiten lassen und nur noch ihre Unterschrift unter die Antwort setzen. Wie antwortete doch ein Enzkreis-Landrat dem seinerzeitigen Staatssekretär Stefan Mappus, als dieser sagte, der Landrat könne oder solle doch Tempo 30 auf der Ortsdurchfahrt des Birkenfelder Ortsteils  Gräfenhausen anordnen? Worauf ihm der Verwaltungschef antwortete, seine Beamten hätten gesagt, dies ginge nicht - er selbst hatte sich garnicht mit Pro und Contra beschäftigt, dafür mit dem Bestand des Weinkellers im Landratsamt.

Reichert wäre das nicht passiert. Bescheiden sagte er: Man hat mir einen Anzug hingelegt, der vielleicht ein paar Nummern zu groß ist. Aber ich werde mich mühen, hineinzuwachsen – und das ist vorzüglich gelungen. Einen harten Kern hatte Reichert nicht, er war sensibel und einfühlsam, hatte Phasen, in denen er bei Reden nah am Wasser stand. Dass er bei seiner ersten Wiederwahl 1981 als einziger Kandidat nicht einmal 70 Prozent der Stimmen der Kreisräte erhielt, setzte ihm merkbar zu. Einigen war er zu sozial, andere wollte ihm allein aus Lust am Züchtigen einen Dämpfer versetzen. Das schade nicht, hieß es bei den Parolen-Machern auf den Fluren.

Heinz Reichert, Amtsverweser und 1973 dann Landrat, war der Unbürokrat, der Menschenfreund, der Mann mit sozialem Herz und Begeisterung für Kunst, eine Idealbesetzung – kurzum, weil er als Landrat nicht in das Schema F passte und sich von seinen Beamten, dem Apparat, nicht steuern ließ. Er selbst dachte häufig neu, versuchte allerhand Sachverstand zu nutzen. So ließ er die Zukunftschancen der Gesangvereine im Enzkreis wissenschaftlich untersuchen. Und als Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler im Regionalverband Nordschwarzwald liebäugelte er frühzeitig mit der Idee interkommunaler Gewerbegebiete. Ich erinnere mich, wie er im Planungsausschuss, der an jenem Vormittag im Sitzungsraum des alten Verbandsdomizils an der Habermehlstraße einen Untersuchungsauftrag anschob. Am Ende stand ein Papier mit Standortvorschlägen für IKGs und der Vorschlag, eines als Modell konkret anzugehen - in Knittlingen. Doch später platzten die Pläne an der Unfähigkeit mancher vor Ort, den Bedarf an Gewerbeflächen zusammen zu spannen.

Mit einem Hang zum Philosophieren, zum Hinterfragen, zum Erzählen: Reichert war neugierig, ein belesener Mensch, der auch andere teilhaben ließ an neuen Erkenntnissen und (auch neuen) Gedankengängen. 1994 machte sich erstmals eine Delegation des Kreistags auf nach Myslowice in Polen. Je ein Kreisrat pro Fraktion (das waren damals nur vier) reiste zum gemächlichen Partnerschaftsvortreffen mit. Ich für die CDU. Heutzutage pressiert es selbst bei solchen Begegnungen. Da reicht es wohl nur noch für etwa drei Tagen: Mit dem Flieger bis Katowice, dann Autofahrt bis Myslowice, maximal zwei Tage Programm, plus Rückflug. Wir nahmen uns vor gut 26 Jahren die Zeit. Eine ganze Woche lang unterwegs, entdeckten wir interessante Bereiche des südschlesischen Kohlenreviers.

Die Enzkreis-Abgesandten erreichten am ersten Tag das himmlische Prag, nächtigten da und machten anderntags zunächst mal eine Stadtführung, weil einige - darunter der Landrat - noch nie in der tschechischen Hauptstadt und auf dem Hradschin waren. Am späten Abend des zweiten Tags traf die Runde am Hotel in Myslowice ein. Anderntags und an den folgenden Tagen Gespräche, Besuche, Besichtigungen. Bei einem abendlichen Begegnungsabend stand eine Frage im Mittelpunkt: Welche Rolle soll Schlesien in den deutsch-polnischen Beziehungen spielen? Darüber diskutierten auch unsere polnischen Freunde.  Brücke zu sein zwischen beiden Staaten, diese Rolle schien uns wichtig und richtig. Doch Reichert wich beim ersten Begegnungsabend vom allgemeinen Tenor ab, worauf ich einwarf, er solle nicht so schulmeisterlich sein.  Er schwieg. Erst am Tag drauf kam seine Antwort - durchs Busmikrophon.  Er habe in der Nacht über meinen Vorwurf nachgedacht und dabei die Einsicht gewonnen, andere Leute zu lehren betrachte er schon als seine Aufgabe. Insoweit fühle sich auch als Lehrer. Ich akzeptierte das, der Landrat hatte ja nicht Unrecht. Etwas lernen konnte man von ihm schon.

Nach einer Woche nahmen wir wieder Kurs auf die Heimat, wählten die Route über die Slowakei und entschlossen uns zur letzten Übernachtung - in Wien.  Das Klima war gut. Landrat und Kreisräte hatten ihre Aufgaben gut erledigt. 1996 schloss der Enzkreis mit den polnischen Kommunen Myslowice, Imielin und Chelm Slaski eine Partnerschaft. Und sie besteht immer noch. Ich kam erst 22 Jahre später wieder in die schlesische Stadt.

Heinz Reichert, promovierter Jurist, hat sich große Verdienste erworben um unseren Landkreis.

Ich werde an seinen Satz weiterhin denken: Eines Mannes Rede…

Partnerschaft mit polnischen Kommunen - abgeschlossen in der Amtszeit von Heinz Reichert

Aus dem Nachruf des Enzkreises:

Mit Weitblick, politischem Gespür und dem Mut zu Gestaltung und Veränderung hat Dr. Reichert in den mehr als zwei Jahrzehnten seiner Amtszeit das Leben in der Region durch zahlreiche richtungsweisende Entscheidungen geprägt“, so der jetzige Landrat Bastian Rosenau weiter. „Größtes Anliegen war ihm die Schaffung eines stabilen sozialen Netzes für Menschen mit Behinderungen, für Alte, Schwache und Familien. Für deren Belange engagierte er sich im Kreis, auf Bundes- und Landesebene, aber auch im Ehrenamt – und zwar so erfolgreich, dass der Enzkreis bereits sehr früh in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle übernahm.“ Als Beispiele nennt Rosenau das Modellprojekt „Orte für Familien“, die Einrichtung zahlreicher sozialer Beratungsstellen, die gemeindenahe Altenhilfe, auch die Biotopvernetzung, eine umweltgerechte Abfallwirtschaft und der Aufbau einer imposanten Sammlung zeitgenössischer Kunst – „Reichert war eben immer mehr Gestalter als Verwalter“.

Schon während seiner aktiven Zeit, aber auch noch nach seinem Abschied aus dem Landratsamt im Jahr 1995 hörte Dr. Reichert nicht auf, sich für Anliegen und Menschen einzusetzen, die Unterstützung nötig haben. In vielfältiger Weise war er daher in exponierten Ehrenämtern und Posten aktiv, insbesondere 34 Jahre lang im Vorstand der Lebenshilfe Pforzheim-Enzkreis (davon zehn Jahre als deren Vorsitzender), darüber hinaus bei der Sparkasse Pforzheim, beim Regionalverband Nordschwarzwald, beim Landkreistag Baden-Württemberg und dem Landeswohlfahrtsverband – um nur Beispiele zu nennen. In Würdigung seiner zahlreichen Verdienste wurde ihm 1995 das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. 

Der gebürtige Heilbronner und Vater dreier Söhne hat eine eindrucksvolle Karriere hinter sich: Als promovierter Jurist führte ihn sein beruflicher Weg zunächst als Regierungsassessor an das Landratsamt Waiblingen, bevor er 1966 zum Ersten Landesbeamten beim damaligen Landkreis Vaihingen/Enz aufstieg. Aus dieser Position heraus wurde er im September 1972 zum Amtsverweser des Enzkreises und 1973 schließlich zum ersten Kreischef gewählt. In den Jahren 1981 und 1989 wurde er in diesem Amt bestätigt. (enz)

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