Das vergessene Buch
Nacht und Nebel - Die Geschichte von Floris B. Bakels (1915-2000), der durch die Hölle der KZ ging. Wobei ihm sein christlicher Glaube half. So Jesus Worte: Er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen.
Mit drei Geschwistern in der Geborgenheit einer großbürgerlichen Familie in Den Haag aufgewachsen, studiert Floris in Leiden, wird 1939 wie der Vater Jurist, tritt in eine Kanzlei ein. Der Vater wendet sich später der Malerei zu, die Mutter organisiert den Familienbetrieb, stammt aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie. Die Bakels sind, wie viele andere auch, deutsch orientiert: literarisch mit Goethe, Schiller, musikalisch mit Beethoven, Mozart und Brahms. Man nahm Gesangsunterricht in Leipzig und Dresden. Man fuhr in die Ferien nach Wiesbaden und Heidelberg. Man kleidete sich in Hannover ein und tanzte in Bentheim.
Später verwendet er häufig das Schimpfwort für die Deutschen: Mof und in der Mehrzahl Moffen. Es wird zu seinem Wort-Repertoire. Bakels macht aus seinen Überzeugungen und Empfindungen kein Hehl. Er kann nicht vergessen, Unverzeihliches nicht verzeihen. Er zeigt schonungslos, was von deutschen Besetzern dem niederländischen Volk angetan wurde und wie problematisch der niederländische Widerstand war, er hat ihm angehört. Über Leben, Unleben und Tod, viele Tode in den Konzentrationslagern gibt er genauen Bericht: auch über den Kampf ums Überleben, den grausamen biologischen Ausleseprozess, nicht zuletzt aber über die rettende Kraft des Glaubens.
Wir haben eine gewisse Grenze überschritten, kamen in ein Reich, das ein Mensch eigentlich nicht betreten darf, und wir sind dort Emotionen begegnet, die nur sehr schwer zu ertragen sind. Wir sind aus diesem Reich zurückgekehrt. Wir haben wieder zu und selbst gefunden – so gut wie möglich. Wir haben unser Leben wieder zu leben begonnen. Diesseits.
Am 10. Mai 1940 marschiert die deutsche Wehrmacht in den Niederlanden ein, fünf Tage lang hält die kleine Armee des Königsreichs dem Ansturm Stand, Königin Wilhelmina und die Regierung fliehen nach London. Vier Tage darauf steht Rotterdam in Flammen. Eine ihm sich bietende Möglichkeit, mit einem Boot auch nach Großbritannien zu fliehen, lehnt Floris B. Bakels ab, schließt sich der holländischen Widerstandsgruppe Leeuwengard (Löwengharde) an. Am 9. April 1942 wird er morgens um 6.30 Uhr in seinem Haus durch einen billigen Hin-zu-und-Her-Gong geweckt, sein Bruder Hans öffnet die Tür, zwei Herren von der deutschen Polizei durchwühlen Schränke und Koffer, behalten ihre Hüte auf. Ihr Mann kommt mal mit. Vielleicht ist er heute Abend schon zurück, sagt einer zu seiner Frau. Der Mercedes, in der er einsteigen muss, hat das Kennzeichen POL-1A 9807. Aber heimkehren wird er nicht am selben Abend, sondern erst im Mai 1945 und somit drei Jahre später. Mit der Festnahme durch die beiden Gestapo-Männer beginnt für den niederländischen Patrioten, Rechtsanwalt und Christ eine Zeit des Martyriums.
Sie verhören ihn im Deutschen Gefängnis in Scheveningen. Gangster nennt Bakels sie später in seinem Buch über die folgenden Jahre. Danach bringt man ihn ins Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort, das Kriegswehrmachtgefängnis Utrecht, es folgen die Konzentrationslager Natzweiler und Dachau, die Außenkommandos Dautmergen und Vaihingen/ Enz des Lagers Natzweiler und, kurz vor Kriegsende, am 5. April 1945 noch einmal das KZ Dachau.
In den drei Jahren seiner Leidenszeit gehört Bakels zu denjenigen, die heimlich Tagebuch schreiben. Nein, niemals darf die Welt vergessen, wir alle werden uns dafür einsetzen, wir werden schreiben, notiert er in sein Tagebuch, und: Es ist sinnlos, etwas zu erleben, ohne darüber zu schreiben. Er schreibt heimlich auf von Zementsäcken abgerissenen Papierfetzen und versteckt die Zettel bei Durchsuchungen an seinem Körper. An die dreitausend Eintragungen können so – auch mit Unterstützung von Helfern und Helfershelfern – gerettet werden, ein Teil geht verloren. Die Ehefrau eines Arztes tippt die Aufzeichnungen nach seiner glücklichen Heimkehr ab, während Bakels in einer Klinik in seiner Heimat behandelt wird – er leidet zeitweise unter 40 Grad Celsius Fieber. Allein sein Utrechters Tagebuch umfasst etwa 1000 Blatt Toilettenpapier.
Bakels schreibt selbst, der Leser solle einen wahrheitsgetreuen Eindruck erhalten, eine sachliche Auseinandersetzung mit der KZ-Existenz. 1947 erscheint Bakels’ Tagebuch aus dem Konzentrationslager unter dem Titel Verbeelding als Wapen (Phantasie als Waffe). Nacht und Nebel folgt unter diesem Titel 1977 als erste Auflage der niederländischen Ausgabe. Für die deutsche Ausgabe fand sich 1977 einzig der Verlag S. Fischer in Frankfurt. Neun Verlage antworten auf Bakels Anfrage gar nicht oder lehnen ab.
Keine einzige – wirklich nicht eine einzige – Sekunde des Tages und der Nacht sei ein Häftling seines Lebens sicher gewesen. Ein KZ sei nicht beschreibbar. Es gehöre einer anderen Welt an, es sei ein fremder Planet, schreibt Bakels. Immer konnte alles geschehen, und man konnte es sich nicht schrecklich genug vorstellen, denn die Wirklichkeit übertraf jede Vorstellung. Wir wurden mit vollster Absicht und dauernd von der Lagerleitung terrorisiert. Vollzogen worden sei dieser Terror durch Leute, die reine Verbrecher gewesen seien – Verbrecher, entsprungen aus Alpträumen. Zusammen hätten sie eine satanische Macht geformt. Jedes Schamgefühl sei abhandengekommen. Durchfall, immer und überall an der Tages- und Nachtordnung.
Seine Beschreibungen lassen den Gefangenen ihre Würde, ohne die Wahrheit auszugrenzen. Hungersnot, Krankheit, Elend, trotzdem harte Arbeit in Steinbrüchen und an Straßen, Schleppen von Steinen, Balken, Zementsäcken und Schmalspurgleisen. Wer sich bei der Arbeit nicht wunschgemäß benimmt, riskiert eine Meldung und wird, zurück im Lager, mit 25 oder mehr Peitschenhieben bestraft. Ohne Freundschaften hätte man, wie Bakels schreibt, ein Moffenlager nicht überleben können. Sind SS-Leute Teufel? Auf diese Frage eines Mit-Häftlings in Natzweiler gibt Bakels eine überraschende Antwort: Nein, sie sind Besessene. Sie seien vom Satan besessen, von Dämonen. Und auf die Gegenfrage, ob denn auch in den SS-Leuten der Teufel sei: Ja. Der Schöpfer ist in allen Kreaturen. Man könne ja manchmal feststellen, dass sogar in den SS-Leuten noch ein Rest Gutes stecke, eine Erinnerung an das Gute. Wir beten um ihre Erlösung von dem Bösen. Wir dürfen sie nicht hassen – es kostet uns unendliche Mühe, diese Mitmenschen nicht zu hassen.
Dann Station sieben von acht, vom 21. November 1944 bis 2. April 1945, Vaihingen an der Enz, Außenkommando von Natzweiler. 46 Seiten dazu in Nacht und Nebel. Bei einem Besuch Jahre nach dem Krieg nennt Bakels Vaihingen eine Villenstadt.
Ursprünglich befinden sich in dem Lager dort nur polnische Juden aus Radom und Krakau. Aus verschiedenen Lagern werden Krankentransporte nach Vaihingen geschickt, dreiviertel der Lagerinsassen sind ständig krank, schreibt Bakels. Die Läuseplage habe geradezu unbeschreibliche Formen angenommen. In Vaihingen sei ein großer Teil der Häftlinge, darunter fast alle Holländer, zugrunde gegangen. Zunehmende Zahl der Luftangriffe, die Front kommt näher – und die Befreiung durch die Amerikaner? Am 2. Januar 1945 schreibt Blakes in sein Tagebuch: Heute bin ich seit tausend Tagen in Gefangenschaft. Wie gut, dass ich es nicht früher gewusst habe.
Ende Februar greift der Tod in Vaihingen wieder einmal nach Blakes, wie er schreibt. Im Lager sei die Zahl der Kleiderläuse, die die Übertragung des Fleckfiebers oder Flecktyphus sind, auf einige Trillionen angestiegen. Die Läuse sind allgegenwärtig, auch auf der Brotrinde, die man gerade isst. Die grauen Pferdedecken total verlaust. Hunderte von Häftlingen liegen dort in allen Stadien des Fleckfiebers krepierend, schreiend, stöhnend, phantasierend, kackend, pissend, quer durch die drei übereinander angeordneten Pritschenreihen. Er hat 40,8 Grad Fieber.
Dann schildert der Autor eine Nacht, die die furchtbarste für ihn werden sollte, wie er empfindet. Am Abend starben noch viele Fleckfieberkranke (oder eher: verreckt). Sie werden zum Mittelgang der Baracke geschleift, nicht weiter, denn die Leichenträger dürfen im Dunklen nicht ausrücken. Während dieser Nacht muss Blakes wieder ganz dringend nach draußen. Da mir die Kraft fehlte, auf eine normale Weise aus der Pritsche nach unten zu gelangen, ließ ich mich mehr oder minder rollend und mich festklammernd fallen. Ich tastete mich an den Pritschen mit den Sterbenden vorbei, fand die Tür zum Gang. An Ende des Ganges sah ich einen – gelblich – leuchtenden Schein, dort wo die Türen zum Kübel sein musste.
Doch unter seinen Füßen spürt er eine große, eisige, schlüpfrige Masse. Der Holzboden scheint ihm wie eingeseift, so glatt ist er. Als er nach einem festen Halt greift, vernimmt er das klatschende Geräusch von Armen und Beinen, die von dem Berg herunter gleiten. Er stolpert und fällt mit seinem gelben, glühenden, gespaltenen Schädel zwischen die Gliedmaßen. Doch schließlich erreichte ich den Scheißkübel, und in der eisigen Kälte klatschte wieder ein Stück Leben aus mir neben der Tonne in den Dreck.
Der Eintrag am 8. März 1945: Zum Schreiben zu krank. Jetzt 38, 37,6 Grad, das ist gut, Krise hinter mir. Aber grausiger Durchfall mit Dreck im Bett. Auch Kotzen. Und bodenlose Niedergeschlagenheit.
6. März: Also vor 2 Jahren haben sie mich geholt. Ich bin Gott sei Dank wieder aus Block 4 heraus und wieder in 2 - welch eine Anstrengung! Erst nur kotzen wegen des Gestanks. Dann Suppe, aber gleichzeitig Riesenhunger auf alles und Ekel vor allem Lageressen. Jetzt, ein ergreifender Triumphzug durchs Frühjahr. Heulte um Steinerweichen. Verschont!
Glück, Gottvertrauen, Robustheit?
Von Vaihingen nach Dachau, seine letzte Station als Häftling der NS-Schergen.
Am 29. April 1945 wird das Konzentrationslager Dachau von amerikanischen Truppen befreit. Zehn Tage später setzt sich Floris Bertold Bakels ab und gelangt nach einer zweiwöchigen Irrfahrt wieder in seine niederländische Heimat, wo er mehrere Monate im Krankenhaus verbringt und anschließend ein halbes Jahr zur Erholung in die Schweiz geht.
Seit zwanzig Jahren steht Nacht und Nebel von Floris B. Bakels (1915-2000) in meinem Bücherschrank. 387 Seiten ungelesen! Immer wieder schob ich die Lektüre auf. Denn diese Geschichte ist nicht einfach zu verarbeiten. Bakels' Erfahrungen in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkriegs, so der Untertitel.
Jetzt legte ich das Buch endlich ganz oben auf den Stapel. Bakels' authentische Dokumentation von Not, Glaube und Rettung erschüttert. Es ist der Bericht eines Überlebenden des sadistischen und mörderischen Nazi-Systems, ein direkter Einblick in die Hölle, der über den Kampf ums Überleben und schreckliche Momente sachlich und gut beschreibt – eine schwer zu verkraftende Lektüre. Das Buch belastet einen auch emotional, der Leser erlebt Momente, in denen er es beiseitelegen möchte. Aber dies käme einer Flucht vor der Realität gleich. Solche Zeugnisse sind besonders in der aktuellen politischen Diskussion über die Stärkung und Sicherung von Demokratie, Freiheit und Frieden unverzichtbar. Nie wieder ist jetzt.
Floris B. Bakels: Nacht und Nebel, Der Bericht eines holländischen Christen aus deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern. Aus dem Niederländischen übersetzt von Suzanne Koranyi. 387 S., 23 cm. S. Fischer Verlag. 1979: 3-10-004706-0. 2016: ISBN 978-3-10-561357-3. Taschenbuch, 1982. ISBN: 3596234689











