Zwang, Überzeugung, Opportunismus? Von Mitläufern und Minderbelasteten im Dorf

Kommunale Selbstverwaltung adieu. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verloren die Bürgerinnen und Bürger ihr Recht, Bürgermeister und Gemeinderat zu bestimmen. Nicht einmal Kommunalwahlen sah der NS-Staat vor.  Die Partei bestimmte den Kurs der Gemeinde, setzte die Entscheidungsträger ein. Auch in Lienzingen. Doch so ganz auf Linie ließen sich in dem 700-Einwohner-Dorf nicht alle bringen. Es bedurfte eines mehr oder minder sanften Drucks, um alle vier Ratsmitglieder zu Parteigenossen zu machen. Nach 1945 mussten sie sich deshalb vor der Spruchkammer verteidigen. Die Akten sind dick. Beispiele aus unserem Ort - darunter von zwei sozialdemokratischen Kommunalpolitikern die sich plötzlich bei den Nazis einreihten.

Bürgermeister Jakob Straub, zweiter Lienzinger Nachkriegsbürgermeister (1945 bis1947), und seine Gemeinderäte ergreifen Partei für Emil Geißler im Spruchkammerverfahren (Repro Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 902/23)

Die Vorgeschichte zum Einordnen der lokalen Personal- und Parteipolitik beginnt mit der Machtergreifung der Hitler-Bewegung. Durch das im Frühjahr 1933 vom Reichstag verabschiedete Ermächtigungsgesetz schaltete sich der Reichstag – gegen den bewundernswerten Widerstand der SPD-Fraktion - als Gesetzgebungsorgan selbst aus, siedelte alle Macht bei der Regierung an. Diese Gleichschaltung nach dem Führerprinzip reichte von Berlin bis zum kleinsten Dorf im Reich. Und so klein war Lienzingen nun auch wieder nicht.  Die letzte freie Gemeinderatswahl fand 1931 statt, die erste nach dem Krieg 1946.


Mehrere Beiträge der Online-Serie Lienzinger Geschichte(n) befassten sich mit Karl Brodbeck. Aber gab es in den Machtstrukturen des Dorfes noch andere Machthabende? Dazu vor allem Akten im Staatsarchiv Ludwigsburg - Teil des Landesarchivs Baden-Württemberg - ausgewertet und die Ergebnisse hier präsentiert (Signatur EL 902/23).


Im April 1933 waren die Gemeinderatsmandate erstmals nicht wie von 1919 an vom Volk vergeben, sondern von den Nationalsozialisten zugeteilt worden – dabei orientiert am Ergebnis der Reichstagswahl im März 1933: In Lienzingen vier für die NSDAP und von der benannt (Paul Gaupp, Gustav Kontzi, Gottlob Pfullinger und Josef Ruess, letzterer zuvor Sozialdemokrat), zwei für den Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot und dem Bauern- und Weingärtnerbund, beide ebenfalls rechtsstehend (Karl Schneider und Richard Geißler). 

Am Anfang stand der Meldebogen als Basis für die Recherchen des öffentlichen Klägers der Spruchkammer: Gustav Kontzi stufte sich selbst als Mitläufer ein

Zwei Jahre später folgte der entscheidende Einschnitt: Reichskanzler Hitler und sein Innenminister Frick unterzeichneten Ende Januar 1935 die Deutsche Gemeindeordnung (DGO), die erste zentralistisch angelegte Kommunalverfassung Deutschlands auf der Basis einer engen Zusammenarbeit mit Partei und Staat. Sie stellte eine Abkehr vom reinen  Selbstverwaltungsgedanken des Freiherrn von Stein dar. Nun galt: Kommunalpolitik nach Gnaden der lokalen NS-Granden. Machtzentrum: der NS-Ortsgruppenleiter. Er stellte personell die Weichen für die Besetzung der Posten von Bürgermeister und Gemeinderat, wobei letzterer nur noch beratendes Organ war. Des Bürgers Willen war dabei nicht mehr gefragt.

NS-Beauftragter hat das letzte Wort

Das zeigt der Blick in die seinerzeit neue Gemeindeordnung: Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP (…) bei der Berufung und Abberufung des Bürgermeisters, der Beigeordneten und der Gemeinderäte mit. Gleichzeitig hatte er beim Erlass der Hauptsatzung und der Verleihung beziehungsweise Aberkennung des Ehrenbürgerrechts sowie von Ehrenbezeichnungen das letzte Wort (§ 33)

Der Bürgermeister trifft folgende Entscheidung - der Gemeinderat durfte ihn nur beraten, hatte aber kein Stimmrecht (Protokoll von Ende 1944, STAM, Li B 323)

Die Stellen hauptamtlicher Bürgermeister und Beigeordneter waren vor der Besetzung von der Gemeinde öffentlich auszuschreiben, doch die bei der Gemeinde eingegangenen Bewerbungen waren dem Beauftragten der NSDAP zuzuleiten. Dieser schlug nach Beratung mit den Gemeinderäten in nicht öffentlicher Sitzung drei Bewerber vor. Der Beauftragte übermittelte seine Vorschläge mit allen Bewerbungen
1. bei Stellen von Bürgermeistern, Ersten Beigeordneten und Stadtkämmerern in Stadtkreisen mit mehr als 100 000 Einwohnern durch die Aufsichtsbehörde dem Reichsminister des Innern,
2. bei Stellen anderer Beigeordneter in Stadtkreisen mit mehr als 100 000 Einwohnern und bei Stellen von Bürgermeistern und Beigeordneten in den übrigen Stadtkreisen durch die Aufsichtsbehörde dem Reichsstatthalter,
3. bei Stellen von Bürgermeistern und Beigeordneten in kreisangehörigen Städten durch die Aufsichtsbehörde der oberen Aufsichtsbehörde, in den übrigen Gemeinden der Aufsichtsbehörden (§ 41).

Protokoll einer öffentlichen Sitzung der Spruchkammer im Rathaus Mühlacker: Zeugen sagten zu Gustav Kontzi aus.

Der Beauftragte der NSDAP durfte zwar nicht Gemeinderat sein, musste dies aber auch nicht, um entscheidenden Einfluss auszuüben. Denn, so regelte Paragraf 41 auch: Er kann an den Beratungen des Bürgermeisters mit den Gemeinderäten teilnehmen, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, bei denen ihm das Gesetz eine Mitwirkung einräumt; er ist zu diesen Beratungen zuzulassen.

In Paragraf  51 wurde deutlich, dass Ratsmitglieder auf Wohl und Wehe dem NS-Statthalter im Dorf ausgeliefert waren. Denn dieser berief im Benehmen mit dem Bürgermeister die Gemeinderäte. Die gesetzliche Vorgabe: Bei der Berufung hat er auf nationale Zuverlässigkeit, Eignung und Leumund zu achten und Persönlichkeiten zu berücksichtigen, deren Wirkungskreis der Gemeinde ihre besondere Eigenart oder Bedeutung gibt oder das gemeindliche Leben wesentlich beeinflusst.

Vier statt sechs Gemeinderäte in Lienzingen

Bürgermeister Karl Brodbeck 1934 (Sammlung Stadtarchiv Mühlacker)

Nachdem die DGO in Kraft getreten war, schrumpfte die Zahl der Gemeinderäte in Lienzingen um zwei auf vier. Gustav Kontzi und Josef Ruess blieben in der Funktion, hinzu kamen Landwirt Wilhelm Link (schon 1931 bis 1933) und Hauptlehrer Paul Stimm.  Emil Geißler fungierte als Gemeindepfleger. Karl Brodbeck, seit 1920 Bürgermeister von Lienzingen, blieb bis 1945 in dieser Funktion.

Doch: War Brodbeck gar nicht der richtige lokale Repräsentant des Systems? Eine Frage, die der Historiker Konrad Dussel in seinem Beitrag zu dem im Jahr 2016 erschienenen Ortsbuch aufwirft und gleich einen anderen Namen nennt: Erwin Kaiser, Hauptlehrer an der Lienzinger Volksschule, 1933/34 oberster lokaler Hitler-Junge (HJ), Kreisorganisationsleiter der Nazis, vom Oktober 1936 an Ortsgruppenleiter der Partei in Lienzingen. Kaiser habe sich rücksichtslos für den Nationalsozialismus eingesetzt, zitiert er aus der Spruchkammer-Akte. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg, brachte es vom Unteroffizier bis zum Oberleutnant, war Träger des Eisernen Kreuzes erster und zweiter Klasse. Er meldete sich mit Kriegsbeginn 1939 für den Fronteinsatz, fiel am 30. Juli 1942 in Russland. Obwohl in der Wolle gefärbter NS-Mann, behinderte er jedoch zum Beispiel nicht den Religionsunterricht an der Schule  (Konrad Dussel: Lienzingen – altes Haufendorf, moderne Gemeinde. Verlag Regionalkultur.2016, S.178 ff).

Doppelte Macht:  NS-Leiter und Bürgermeister

Als 1939 der Posten des Ortsgruppenleiters der Nationalsozialisten im Dorf frei wurde, rückte Kaisers Stellvertreter auf: Karl Brodbeck, der Bürgermeister. Doppelte Macht? Die von Brodbeck selbst am 15. November 1945 nach Aufforderung gefertigte Liste seiner Funktionen im NS-Netzwerk mochte für die Vorwürfe des Öffentlichen Klägers der Spruchkammer Vaihingen/Enz sprechen. Ein Bild entstand dadurch von einem Kommunalbeamten, der sich auf die Seite der Nazis schlug, als diese die Macht in Deutschland übernahmen. Natürlich alles nur im Interesse seiner Gemeinde, wie der Betroffene behauptete.

Amalie Schmidt bezog Position für Kontzi

Der braunen Mosaiksteine waren viele:  Am 1. Mai 1933 NSDAP-Beitritt, 1933/34 Kassenleiter und stellvertretender Ortsgruppenleiter, danach bis zum bitteren Ende 1945 Ortsgruppenleiter der Partei, seit 1939 Lienzinger Verbindungsmann zum Sicherheitsdienst der SS, Mitglied oder Funktionen bei der Volkswohlfahrt (NSV), Vertrauensmann des Reichsbundes der Deutschen Beamten, NS-Reichsbund für Leibesübungen, NS-Reichskriegerbund, Reichsluftschutzbund, ausgezeichnet mit der NSV-Medaille für Volkspflege, der Luftschutzmedaille. von August 1944 bis Kriegsende Hauptfeldwebel beim Volkssturm, dort Schreibarbeiten erledigt, aber letztlich – so seine ausdrückliche Angabe – kein einziger Einsatz angeordnet. Brodbeck habe die Einziehung der Volkssturm-Männer (Jahrgang 1900 und jünger) nicht veranlasst, sie hätten den Stellungsbefehl zur Wehrmacht in Tübingen über die NS-Kreisleitung erhalten, so eidesstattlich ein Zeuge vor der Kammer.

Emil Geißler (3. von links) 1957 mit dem Lienzinger Gemeinderat. Er war noch Gemeindepfleger (Smlg. Stadtarchiv Mühlacker, Foto: Volker Ferschel)

Das Urteil der Spruchkammer: Einstufung als Mitläufer und eine einmalige Wiedergutmachung von 500 Reichsmark. Da Brodbeck nicht der politische Leiter gewesen sei, sondern nur mit der Führung der Geschäfte des Ortsgruppenleiters beauftragt worden sei – eine Wortklauberei -  und als Vertrauensmann des SD zu den ehrenamtlichen Informanten gehört habe, sei ausdrücklich nicht von der Schuldvermutung auszugehen. Die Spruchkammer folgte bis zum letzten Punkt den Argumenten Brodbecks, seines Anwaltes, seiner Fürsprecher.

Was war Zwang, was Überzeugung, was Opportunismus? Der eine Brodbeck ein Demokrat, der andere Nazi? Eine gespaltene Persönlichkeit?

Vier Schicksale der lokalen Adölfe exemplarisch, recherchiert an den im Landesarchiv Baden-Württemberg (Staatsarchiv Ludwigsburg) zugänglichen Akten der Spruchkammer Vaihingen/Enz . Eine Institution, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Entnazifizierung für jeden Stadt- und Landkreis eingesetzt worden war (Basis: das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946). Laiengerichte, denen der öffentliche Kläger vorsaß, der die Befähigung zum Richteramt besitzen oder zumindest für den höheren Verwaltungsdienst qualifiziert sein musste sowie eine saubere Vergangenheit hatte.  

Die Spruchkammern stellten fest, zu welcher Gruppe ein Beschuldigter gehörte: Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer), Minderbelastete (sie mussten sich noch bewähren im demokratischen Staat), Mitläufer und Entlastete. Sie fällten keine Urteile, sondern verhängten Sühnemaßnahmen. Diese bestanden vor allem in der Verpflichtung zu Wiedergutmachungs- und Aufbauarbeiten (zum Beispiel Trümmerbeseitigung), dem Ausschluss von öffentlichen Ämtern einschließlich des Notariats und der Anwaltschaft, dem zeitweisen Verlust des Wahlrechts. Grundlage war der Meldebogen, die die Betroffenen ausfüllen mussten und der die Recherchen des öffentlichen Klägers auslöste. Im Volksmund scherzhaft Persilscheine genannt, versuchten sich die Betroffenen damit  rein zu waschen durch für sie positive schriftliche Aussagen von Zeugen.

Vier von der Lienzinger Ortspolitik

Emil Geißler, Jahrgang 1913, vom 7. Juli 1934 ohne Unterbrechung bis 31. Dezember 1961 der zweite Mann im Rathaus Lienzingen, zuerst mit der Amtsbezeichnung Beigeordneter, dann von 1946 an als Gemeindepfleger (Stadtarchiv Mühlacker=STAM, Li B 326, S. 122).

Seine Angaben im Meldebogen: Mitglied der NSDAP 1937 bis 1945 mit einem Monatsbeitrag von zwei Reichsmark, außerdem in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) 1935 bis 1945, der NS-Kriegsopferversorgung (NSKOV) 1935-45, der Kriegskameradschaft 1931 bis 1945. Höchster Rang im NS-System: Blockwart von 1937 bis 1945.

Verfahren der Spruchkammer Vaihingen/Enz eingestellt am 21. Juni 1948 aufgrund der Weihnachtsamnestie vom 5. Februar 1947. Einspruch des öffentlichen Klägers vom 11. Februar1948 von der Berufungskammer Stuttgart am 11. März 1948 zurückgewiesen als offensichtlich unbegründet.

Mitläufer

Otto Knopf, Jahrgang 1877, gebürtig in Baden-Baden, Töpfermeister, kurzzeitig Bürgermeister vom April bis Juli 1945, Gemeinderat für die SPD von 1919 bis 1925. Beruflich:  1931 bis 1933 arbeitslos, 1934 bis 1945 bei der Ziegelei Vetter Ludowici in Mühlacker (Jahreslohn zwischen 1600 und 2000 RM).

Im Meldebogen: NSDAP 1934 bis 1945, Monatsbeitrag 1,50 RM, Blockleiter 1935 bis 1945, SA-Reserve 1. November 1933 bis 1. April 1934, Sturmmann 1933 bis 1934, NSV 1937 bis 1945, NS-Reichskriegerbund. Schießleiter ehrenhalber 1928 bis 1945

Verfahren der Spruchkammer Vaihingen/Enz (AZ: 48/20/321), Urteil: Minderbelasteter, Sühnebetrag von 500 RM, am 20. März 1947 bezahlt genauso wie die Verfahrensgebühr von 20 RM. Sonderarbeit war keine angeordnet. Bewährungszeit zwei Jahre bei für diese Zeit geltendem Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts, Verbot der Mitgliedschaft in Parteien und Gewerkschaften.

Minderbelastet

Meldebogen Josef Ruess, Gemeinderat von 1919 bis 1945, Landwirt

Josef Ruess, Jahrgang 1873, Landwirt, Alte Steige 104, Jahreseinkommen 1951 RM, Vermögen 9000 RM, Gemeinderat von 1919 bis 1945/46.

Im Meldebogen: NSDAP 1933 bis 1945, Monatsbeitrag 1,80 RM.), ohne Parteiamt.

Spruchkammer (AZ 48/20/471), Verfahren 19. Dezember 1946 eingeleitet, Spruch vom 18. März 1947.

Mitläufer

Gustav Kontzi, Jahrgang 1887, Bäckermeister, Gemeinderat von 1933 bis 1945. Vermögen: 15000 RM, höchstes Jahreseinkommen 3250 RM. Teilnehmer am Ersten Weltkrieg 1914 bis 1918

Laut Meldebogen: NSDAP 1935 bis 1945, Kassenleiter (1. Mai 1937 bis 30. Juni 1937), Mitgliedsbeitrag monatlich 2 RM, Deutsche Arbeitsfront (DAF) 1936 bis 1945, Kassenverwalter 1936/37 und 1938/39.

Spruchkammer:  Urteil 20. August 1947, minderbelastet. Sühnebeitrag 1500 RM, 30 Tage Sonderarbeiten. zwei Jahre Probezeit, in dieser Zeit Politik- und Wahl-Verbot. Zeuge R. belastete ihn, musste die eigenen Aussagen genauso korrigieren wie der öffentliche Ankläger. So bei der öffentlichen Sitzung der Spruchkammer im August 1947 im Rathaus Mühlacker.

Gnadengesuch von Kontzi an Staatsminister Kamm vom Ministerium für politische Befreiung Württemberg-Baden, Gnadenabteilung (AZ: III/20/Kr./Nr. 4142) am 2. Februar 1948: Als Gemeinderat habe er sich immer unpolitisch verhalten, das ihm aufgezwungene Amt des Kassenführers nachlässig geführt, so Kontzi. Es hätte der Gerechtigkeit und dem Gesetz entsprochen, wenn ich in die Gruppe der Mitläufer eingereiht worden wäre. Ich bin 60 Jahre alt, bestehe nur noch aus Haut und Knochen. Nur dank der im Betrieb mithelfenden Ehefrau kann ich die Bevölkerung von Lienzingen mit Brot versorgen. Er leide seit Monaten unter Atem- und Herzbeschwerden, könne deshalb auch die Sonderarbeit nicht erledigen. Sein Sohn Helmut sei noch in russischer Gefangenschaft. Die Bitte um ein milderes Urteil erfüllte der  Staatsminister und strich die 30 Tage Sonderarbeit.  

Minderbelastet

Einer blieb nach 1945 bis 1961 noch im Rathaus

Knopf, Geißler, Ruess und Kontzi: Bis zu den ersten freien Kommunalwahlen mischten sie im Rathaus weiter mit - und keinen störte es, dass sie bis Kriegsende NS-Mitglieder waren. (STAM, Li B 323)

Der Vergleich zwischen Geißler, Rueff und Kontzi belegt, dass sie das braune Parteibuch erst nach ihrem Eintritt in den Gemeinderat erworben haben, und zwar deutlich später. Die Deutsche Gemeindeordnung  muss hier im Kontext gesehen werden. Wer im Rathaus mitmischen wollte, musste Parteigenosse (Pg) werden. Eine Verteidigungslinie, die vor der Spruchkammer auch hielt – von Brodbeck bis Kontzi. Indessen war Geißler der einzige, der sein kommunales Amt weit über das Jahr 1945 hinaus retten konnte und bis 1961 im Amt blieb. Deshalb verdient seiner Strategie besondere Aufmerksamkeit. Zumindest bis zur ersten freien Gemeinderatswahl 1946 mischten im Rathaus weiterhin Josef Ruess und Gustav Kontzi mit.  Sie traten nicht mehr an.

Aus den Unterlagen der Spruchkammer, nachstehend vor allem schriftliche Zeugenaussagen zu  Emil Geißler:

  • An Eides statt erklärt:
  • Obwohl Pg., haben Geißler und seine Ehefrau die von dem Zeugen – auch Pg -  vorgebrachte scharfe Kritik an den Methoden der Nazis im persönlichen Gespräch unterstützt. Ich könnte mich nicht entsinnen, dass er mir auch nur einmal widersprochen hätte.
  • 25 Lienzinger, darunter meine Großmutter Marie Schrodt, Nachbarin von Geißlers, erklärten schriftlich und eidesstattlich, Geissler habe sie nie gedrängt, bei den früheren Sammlungen des Winterhilfswerkes mehr zu geben als sie wollten
  • Geißler sei nie ein eifriger Nazi gewesen, habe auch keine Bekehrungsversuche unternommen. In die Partei eingetreten sei er, weil er Gemeindepfleger war. Vom 1. Januar 1945 hatte die Zeugin 20 gefangene Franzosen zu verpflegen. Dolmetscher Andre sei von Geißler zum Essen eingeladen worden (Aussage von Amalie Schmidt, Ehemann vor 1933 in der KPD)
  • Zwangsarbeiter aus Polen, den es nach Lienzingen verschlagen hatte, war Eduard Szewezyk, der für mehrere Ex-Parteigenossen zu deren Gunsten aussagte, wie hier zu Geißler:   Ausländische Arbeiter seien immer gut behandelt worden.  Einen jungen Ukrainer behandelte er wie den eigenen Sohn.
Unterschriften für Emil Geißler

Die Spruchkammer stufte Geißler am 18. Oktober 1946 als Mitläufer ein und verhängte einen einmaligen Sühnebeitrag von 800 RM – eine durchaus spürbare Strafe. Wichtig und entscheidend war die zentrale Aussage der Spruchkammer: Der Betroffene sei aufgrund seiner Tätigkeit als Gemeindepfleger gezwungen worden, in die NSDAP  einzutreten und das Amt eines Blockwartes zu übernehmen.  Sowohl der Bürgermeister als auch die Gemeinderäte hätten bestätigt, dass Geißler nie die Uniform getragen und sich  politisch nicht beteiligt habe. Daraus zog die Spruchkammer die Folgerung, die Mitgliedschaft in der Partei sei nur nominell gewesen – also eine nur formelle Zugehörigkeit zum NS.

Doch das Ministerium für politische Befreiung Württemberg-Baden kassierte im Januar 1947 den Spruch und verlangte ein neues Verfahren, denn acht Jahre Blockwart der NSV ließen erkennen, dass der Betroffene mehr als nur nominell am NS teilgenommen habe. Einer der Vorwürfe: Geißler habe Parteigenossen bevorzugt unter anderem bei der Holzzuteilung – wiederum in diesem Punkt  widersprachen in einem gemeinsamen Schreiben an die Spruchkammer am 13. Juli 1947 Bürgermeister Jakob Straub sowie die acht Gemeinderäte.

In den Akten der Spruchkammer findet sich auch ein Zeugnis, das Bürgermeister Jakob Straub am 28. März 1947, mit Dienstsiegel versehen, dem seit 1934 amtierenden Gemeindepfleger ausstellte. Darin bescheinigte er Geißler, sein Amt zur vollsten Zufriedenheit der Bürgerschaft  geführt zu haben, immer unparteiisch und ohne ein Parteimitglied zu bevorzugen. Unter seiner Ägide hätten sich die Finanzen der Gemeinde dauernd gebessert. Die Einwohner hätten allergrößtes Interesse, ihn als Gemeindepfleger zu behalten. Die Einstufung als Mitläufer sei in der ganzen Gemeinde begrüßt worden, weil sich diese allein  aus der Tätigkeit von Geißler als Blockwart stütze.

Dr. Otto Schneider: Handschriftlicher Persilscheine - einer von mehreren

Opportunismus, Überzeugung, Zwang durch den Ortsgruppenleiter der Nationalsozialisten? Darauf konzentrierte sich schon in der Klageschrift vom 16. September 1946 der öffentliche Kläger der Spruchkammer, Kladziwa.  Dies sei mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, auch die Verdachtsgründe, die gegen den Betroffenen vorlägen. Diesem gehöre ein Grundbesitz im Wert von 12.990 RM, sein Einkommen als Gemeindepfleger schwanke zwischen 900 und 1200 RM jährlich. In der Erwiderung auf die Klageschrift machte Geißler für sich geltend, den von Ortsgruppenleiter und Lehrer Kaiser erzwungenen Eintritt in die NSDAP und die Blockwartstätigkeit als Dienst am Volk und nicht an der Partei verstanden zu haben. Schon vor der NS-Zeit habe er sich in Wohlfahrtseinrichtungen engagiert, so im evangelischen Wohlfahrtsverein. Sie hätten ihre beiden Kinder vor dem von den Nazis geförderten Weltanschauungsunterricht in der Schule bewahrt – wenn dieser Unterricht angehe, sollten sie die Schule verlassen. Seine kirchliche Einstellung sollte der Hinweis belegen, an  27 Trauergottesdiensten in der Kirche im Chor mitgewirkt zu haben.

Otto Knopf, erster Bürgermeister Lienzingens nach der Befreiung (April bis Juli 1945)

Schon im Vorfeld des Kammerverfahrens forderten Bürgermeister Straub und die acht Gemeinderäte das Landratsamt Vaihingen auf, Geißler auch während des Verfahrens im Amt zu belassen. Dieser habe seinen Dienst in den zwölf Jahren zuvor immer treu und gewissenhaft versehen. In der NS-Zeit habe er nie Uniform getragen, sei politisch nicht beteiligt gewesen. Gleichzeitig reichte die Kommune am 30. Juli 1946 den Antrag auf vordringliche Behandlung des Spruchkammerverfahrens zum Fall Geißler, denn die Gemeinde habe keinen Ersatz für den Gemeindepfleger. Der Antrag ging am selben Tag auch an das Staatssekretariat für Sonderaufgaben in Stuttgart.

Zu den ersten Entlastungsschreiben gehörte das von Dr. Otto Schneider aus Stuttgart, dessen Familie (Brauerei Schneider) aus Lienzingen stammte. Er war von Juli 1944 nach Lienzingen evakuiert worden,  kam aber schon früher geschäftlich ins Lienzinger Rathaus. Ich hatte immer den Eindruck, dass Herr Geißler als Gemeindepfleger mit den Leuten taktvoll und freundlich verkehrte und nicht nazimäßig wie es bei vielen Behörden der Fall war, brachte Fabrikant Schneider am 26. August 1946 handschriftlich zu Papier.

Es blieb bei der Einstufung in die Gruppe Mitläufer

Knopf mit reinem Gewissen

Ich habe nichts auf dem Gewissen, schrieb Otto Knopf am Schluss des Meldebogens in der Rubrik Bemerkungen. Sollte wohl heißen:  Ich habe ein reines Gewissen.

Als politischen Opportunisten stellte die Spruchkammer den gelernten Töpfer in ihrem Urteil dar. Das Beweisverfahren habe ergeben, dass der Betroffene  ein Mensch ist, der mit jeder politischen Richtung geht und schon alle Farben vertreten hat.  So habe er sich frühzeitig zum Beitritt in die NSDAP entschlossen, habe gelegentlich Uniform getragen bei Parteiveranstaltungen. Mit der Übernahme der Aufgaben eines Blockwartes  betrat er nach Auffassung der Kammer die aktivistische Linie. Eine besondere Aktivität werde ihm nicht nachgesagt. Immerhin: Er habe nach eigenen Angaben die Forderung des Ortsgruppenleiters abgelehnt, aktiv für den Kirchenaustritt zu werben und den Pfarrer zu bespitzeln.

Die Gemeinde Lienzingen beantragt eine Beschleunigung des Spruchkammerverfahrens gegen Emil Geißler

Knopfs Rechtsbeistand Camill Anton Stähle aus Mühlacker legte vier Erklärungen von Personen vor, die politisch unbelastet und Anhänger gegnerischer Positionen seien, darunter auch hier die von Dr. Otto Schneider.
Otto Knopf war laut Zeugenaussagen Mitglied der SPD, trat dort wegen Differenzen mit dem Abgeordneten Renz aus, weil dieser als Vorstand des Konsumvereins wegen angeblicher Unterschlagungen in die Schusslinie geriet. Von 1919 an sechs  Jahre Gemeinderat in Lienzingen, Bürgermeister vom 8. April bis 26. Juli 1945, von der französischen Militärregierung am 12. April 1945 bestätigt, von der amerikanischen Armee abgesetzt. Knopf gehörte zu jenen Lienzingern, die im April 1945 den alliierten Truppen mit der weißen Fahne entgegengingen – ein Punkt, den die Spruchkammer als entlastend wertete. Dazu Otto Schneider: Hierbei in Richtung Maulbronn war auch Herr Knopf am 7..4. morgens gegen 4 bis 5 Uhr. Mit einem Risiko verbunden wegen eventuell noch vorbei kommender deutscher  Soldaten, aber das Herr Knopf auf sich nahm.

Auch er: minderbelastet. Probezeit zwei Jahre. S00 Mark Sühne. 20 Mark Verwaltungsgebühren.

Zuerst Sozialdemokrat, dann Nationalsozialist

Unterzeichnete erklären durch ihre Unterschrift an Eides statt, dass der Landwirt Josef Ruess, Lienzingen, nur nominell am Nationalsozialismus teilgenommen hat, und in keiner Weise propagandistisch oder parteifördernd hervorgetreten ist:  Das Schreiben an die Spruchkammer unterzeichneten neun Lienzinger, darunter Zimmermann Otto Kälber, Arbeiter Robert Gayer, die Landwirte Christian Heinzmann, Georg Geiger, Ernst Roos und Gotthilf Benzenhöfer.

Der öffentliche Ankläger Kladziwa dagegen schlussfolgerte aus den Recherchen der Kammer, Ruess habe regen Anteil an dem Leben der Partei genommen, sei als eifriges Parteimitglied bekannt gewesen, das sich lebhaft für den Nationalsozialismus einsetzte. Immerhin räumte die Kammer ein,  Motiv für den Eintritt in die NSDAP sei gewesen, um 1933 Gemeinderat bleiben zu können. Er sei vor 1933 gewerkschaftlich organisiert gewesen und demzufolge als Gemeinderat von der SPD eingesetzt worden. Staehles Version: Mit der Gleichschaltung  am 1. März 1933 und der Neubildung der Gremien seien die Kommunisten sofort von der Besetzung des Gemeinderats ausgeschlossen worden, der SPD sei dies in den Monaten danach auch so ergangen. Die SPD wurde  am 7. Juli 1933 von den Nazis zwangsaufgelöst. Für Staehle stand fest: Der Betroffene hatte keine andere Wahl, sich das Mitspracherecht im neuen Gemeinderat zu sichern, als 1933 der NSDAP beizutreten. Der Landwirt und alte  Sozialdemokrat sei für eine gesunde Gemeindepolitik gestanden. Die  Spruchkammer bestätigte seine Aussagen, Ruess sei nur nominell Parteigenosse gewesen.

Eine neue Lienzinger Schule als NS-Musteranlage? Zumindest behauptete dies Gemeinderat Josef Ruess, der für sich geltend machte, dagegen Widerstand geleistet zu haben (Smlg. Stadtarchiv Mühlacker)

Dazu trug wesentlich ein Punkt aus dem eineinhalbseitigen Verteidigungsschreiben des Landwirts an die Spruchkammer bei, dem sie  Glauben schenkte. Darin machte Ruess für sich geltend, als einziger im Gemeinderat Widerstand geleistet zu haben gegen ein fantastisches Bauprojekt von größtem Ausmaß, bestehend aus nationalsozialistischer Volksschule, Schwimm- und Badeplatz sowie Sportplatz für 120.000 RM. Diese sei als NS-Musteranlage im Kreis Vaihingen geplant gewesen, aber von der Mehrheit der Lienzinger abgelehnt worden.  Die im Bereich der heutigen Gärtnerei Mannhardt geplant gewesene Anlage  sollte sozusagen die neue nationalsozialistische Welt versinnbildlichen, schrieb Ruess. Die Finanzierung sei mit größter Eile betrieben worden durch ausserordentliche Holzhiebe in den Gemeindewäldern und durch  Rücklagen verschiedener Bezeichnungen. In einer dazu einberufenen Gemeinderatssitzung, bei der auch einige Bauherren  aus Stuttgart anwesend waren, sollte die endgültige Ausführung des Planes perfekt gemacht werde.

Das Projekt wurde nie realisiert. Ruess‘ Botschaft kam an: Er sei nur ein scheinbarer Nazi gewesen und habe sich deshalb auch die Meinung bei einem NS-Lieblingsprojekt nicht von der Partei vorschreiben lassen.

Mitläufer

Auch das Beispiel Gustav Kontzi zeigt: Das Muster nach 1945 war immer gleich. Das Schema: Suche Menschen, die gut von mir reden. Lasse sie das per Unterschrift bekräftigen. Sammle Persilscheine. Mache deutlich, dass ich kein überzeugter Nazi war, obwohl Mitglied der NSDAP. Die Rechnung ging meist auf. Das heißt aber nicht, dass die gerade in der Dorfpolitik wie in Lienzingen auch stimmte. Das Beispiel: Gustav Kontzi. Gemeinderat von 1933 bis 1945/46. Er sühnte dafür mit 1500 Reichsmark, die er am 10. September 1947 bezahlte, genauso die 80 Mark Verfahrensgebühr. Die zunächst angeordnete Sonderarbeit konnte er abwenden.

Jakob Straub, Bürgermeister von 1945 bis 1947, und sein Wissen, ob jemand Nazi war. Ein Persilschein pur.

Die Punkte, die den Bäckermeister nach Meinung von Zeugen entlasteten:

  • Unpolitisches Verhalten des Betroffenen (Geisler)
  • In den Anfangsjahren zwar überzeugtes NSDAP-Mitglied, hat sich aber in den letzten Kriegsjahren vom Nationalsozialismus abgewandt (Geisler, Hermle, Amtsbote Scheck)
  • Gehörte nicht zu den führenden Nazis in der Gemeinde. Bei Aufmärschen war er dabei, zu Kriegsgefangenen war er gut. Von 1941 an seine Meinung völlig  geändert (Amalie Schmidt, Lienzingen)
  • Von Ortsgruppenleiter Kaiser genötigt, die Kasse der örtlichen NSDAP zu übernehmen (Eugen Ulmer, Revierförster)

Er selbst brachte vor, 1933 als Handwerker in den Gemeinderat berufen worden zu sein. Es spricht dafür, dass Kontzi versuchte, den Parteieintritt zu umgehen und er als kleines Zugeständnis an die Partei wenigstens dem Opferring beigetreten war, der Geld für die Hitler-Bewegung sammelte. Mit monatlich 50 Pfennig war er dabei. Doch 1935 habe ihm die örtliche NSDAP bedeutet, eine Opferring-Mitgliedschaft  sei für einen Gemeinderat zu wenig. Kontzi gab an, einmal am  Nürnberger Reichsparteitag teilgenommen zu haben.

Die Spruchkammer sah nach einer öffentlichen Verhandlung am 21. August 1947, von 14 bis 16 Uhr, im Rathaus von Mühlacker bei Gustav Kontzi keinen Tatbestand des Aktivismus zu Gunsten der braunen Partei. Sie stützte sich dabei wesentlich auf die fünf Zeugen aus Lienzingen, die an diesem Nachmittag allesamt für Kontzi aussagten: Gottlob Hermle, Amalie Schmidt, Wilhelm Scheck, Richard Geisler und Eugen Ulmer.

Minderbelasteter

(Quellen: EL 902/23 Bü 2403 – Geißler, Emil, EL 902/23 Bü 4481, Kontzi, Gustav,  EL 902/23 Bü 6651 Rüß, Josef, EL 902/23 Bü 4380, Knopf, Otto)

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