Das Geschichtsportal des Enzkreises - Neu im Netz

Der Dreißigjährige Krieg (von 1618-1648) im Großraum Pforzheim wurde bisher weder wissenschaftlich noch heimatkundlich aufgearbeitet. Diese Lücke ist jetzt geschlossen worden. Dieses erstklassige Geschichtsprojekt machte der Enzkreis möglich. Der Leiter seines Kreisarchivs, Konstantin Huber, und sein achtköpfiges Team, leisteten Wunderbares, nicht Alltägliches: Sie bauten mit den Resultaten gleichzeitig ein digitales Enzkreis-Geschichtsportal auf. Ein Portal, einzigartig unter den bundesdeutschen Landkreisen, das nicht nur Experten anspricht, sondern gerade auch interessierte Laien. . Titel des Projektes: Sterben und Leben – der Dreißigjährige Krieg zwischen Oberrhein, Schwarzwald und Kraichgau.

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Archivchef Konstantin Huber (links) über die Kirchenbücher als Nachrichtenquelle - bei der wissenschaftlichen Tagung im Landratsamt Enzkreis in Pforzheim.

Erstes Projekt also: Der Dreißigjährige Krieg, ausgelöst im Mai 1618 durch den Prager Fenstersturz, ein Akt der Auflehnung protestantischer Adliger, den der katholische Habsburger Kaiser Matthias als Kriegserklärung wertete. Er hatte die Rechte der Protestanten eingeschränkt, doch diese forderten Religionsfreiheit. Gewaltsam will der Kaiser in Wien die protestantische Rebellion im Keim ersticken. Es beginnt der Dreißigjährige Krieg, der fast ganz Mitteleuropa in den Abgrund reißt. Er brachte Not und Elend über Europa. Verwüstete Städte und Dörfer blieben zurück, alles im Namen der sich wegen der Konfession streitenden katholischen und protestantischen Herrscher. Wir wissen vieles/manches aus Schulbüchern, Nachschlagewerken, Filmen und allgemein in Publikationen über Kriegsparteien, Schlachten, über Wallenstein, Gustav II. Adolf, Tilly. Die Pest gab den Menschen den Rest.

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Farbenprächtige Lienzinger Pietà

Die Lienzinger Pietà in ihren Anfangszeiten. Farben von Hannah Backes aufgrund der von ihr am Torso noch gefundenen Reste rekonstruiert (Quelle: Präsentation der Ergebnisse bei der VHS-Veranstaltung am 28. April 2022 in der historischen Kelter in Mühlacker)

So prächtig dürfte sie ausgesehen haben, die Pietà aus dem Chor der Frauenkirche, rekonstruiert aus den Farbenresten des Originals. Das Geheimnis lüftete gestern in der historischen Kelter in Mühlacker Hannah Backes. Sie schrieb ihre Masterarbeit im Fach Konservierung und Restaurierung von Gemälden und gefassten Skulpturen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart über die geheimnisvolle Lienzingerin.

Hannah Backes, aufgewachsen in der Nähe von Trier, wechselt jetzt beruflich an die Documenta in Kassel. Sozusagen zwischen Umzugskartons und -terminen lieferte sie im Heimatmuseums Mühlacker komprimiert die in ihrer Meisterarbeit dargestellten Forschungsergebnisse ab - innerhalb der sechsteiligen Veranstaltungsserie der Volkshochschule mit diesmal deutlich höherer Besucherzahl als beim ersten Termin vor einer Woche.

Kunsthistorische Aufarbeitung und kunsttechnologische Untersuchung eines spätgotischen Skulpturen-Fragments nennt sich das Projekt. Pietà steht für Frömmigkeit und  Mitleid, unsere Herrin vom Mitleid. Auch Vesperbild genannt, ist es in der bildenden Kunst die Darstellung Marias als Mater Dolorosa (Schmerzensmutter) mit dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus. Das wohl bekannteste Beispiel schuf Michelangelo. Doch die Pietà im Petersdom ist aus Marmor gefertigt.

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Politisches Sittengemälde eines schwäbischen Dorfes in der NS-Zeit: Die wieder gewonnene Ehre des Karl B. aus L.

Lienzingen 1930 von Norden vom Spottenberg: Mit geschlossenem Scheunengürtel. Postkarte aus dem Nachlass Schneider (STAM)

Das Büschel 1056 mit der vorangestellten Signatur EL 902—23 hat es in sich: Unter dieser Nummer liegt im Staatsarchiv Ludwigsburg eine mehr als 100 Seite dicke Akte der Spruchkammer Vaihingen/Enz in Mühlacker, Uhlandbau. Sie selbst trägt das Aktenzeichen 48/20/633, ist so etwas wie das politische Sittengemälde eines schwäbischen Dorfes in der NS-Zeit. Lienzingen, Karl Brodbeck und das 1946 ersonnene System des frühen Täter-Opfer-Ausgleichs. Brodbeck, eine kleine lokale NS-Größe, der Schickle von der Schmie oder nur ein großer Opportunist, ein Angsthase gar? Einer, der darauf bedacht war, sich abzusichern und sich mit den Schurken nur soweit einließ, quasi als Mindeststandard, bis diese zufrieden sind? Vielleicht von allem ein bisschen. Rund zwei Jahre Suche nach Fakten, die be- oder entlasten.

Lienzinger Geschichte(n):   Letzter Teil der Serie-in-der Serie über den Lienzinger Bürgermeister Karl Brodbeck. Im Spruchkammer-Verfahren kein Beweis dafür, dass er als zeitweise gleichzeitiger NS-Ortsgruppenleiter von Lienzingen zwei Menschen ins KZ brachte (4/4)
In seinem Geburtsort Vellberg 1934: Lienzingens Bürgermeister Karl Brodbeck. Foto: Smlg. Kuno Brodbeck (Stadtarchiv Mühlacker STAM)

Der Grundsatz klingt gut: Sühne statt Strafe. Opfer des NS-Regimes für ihr erlittenes Unrecht entschädigen mit Geld, das vorher den Tätern abgenommen wird. Die Instrumente dazu zwischen 1946 und 1948 waren in der US-Zone die Spruchkammern. Ihre Basis: Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 mit der Absicht, die Entnazifizierung teilweise in deutsche Hände zu geben. Exemplarisch dargestellt an dem Verfahren gegen Karl Brodbeck, einst Bürgermeister und NS-Ortsgruppenleiter in Lienzingen.  Der Ertrag für den Wiedergutmachungstopf: 500 Reichsmark.

Der erste Augenschein sprach erst einmal gegen den alten Beamten, schreibt Konrad Dussel, Historiker und Autor des Bandes 8 der Geschichte der Stadt Mühlacker, 2016 zum 1250-Jahr-Jubiläum herausgegeben vom Stadtarchiv Mühlacker (STAM). Sein späteres Fazit: Die langwierige Bestandsaufnahme förderte eigentlich kein belastendes Material gegen Brodbeck zu Tage (Dussel, S. 181). Tatsächlich stufte ihn die Kammer in die unterste Stufe der Schuld ein.

Ganz im Gegensatz zu seinem früheren Kollegen Adolf Schickle, Bürgermeister und „Führer“ von Enzberg, wie ihn Dussel nennt. Zwar sah der Öffentliche Ankläger der Kammer, die ansonsten noch einen Vorsitzenden und Beisitzer hatte, in dem führenden Kopf des nationalsozialistischen Enzberg einen Hauptschuldigen, die Jury schwächte dies aber ab und entschied sich in ihrem Spruch für die  Bezeichnung Belasteter – weniger als der Hauptschuldige, mehr als der Minderbelastete. (Ortsbuch Enzberg, Band 4 der Schriftenreihe der Stadt Mühlacker. Verlag Regionalkultur. Erschienen 2000. S. 265 ff).

Mindestens ein Hobby hatten Karl Brodbeck und Adolf Schickle: Sie besuchten gemeinsam gerne das Dampfbad in Pforzheim.

Spruchkammer Kreis Vaihingen/Enz, Mühlacker, Uhlandbau (Repros: Landesarchiv, Staatsarchiv Ludwigsburg EL 902—23) 

Natürlich fühlten sich die Betroffenen zumeist bestraft und nicht versöhnt, wenn ein Teil ihres Vermögens eingezogen wurde - welchen Grades der persönlichen Schuld die Kammer auch immer sah. Eine Umverteilung vom Täter zum Opfer. Den Versöhnungsprozess beförderte es in einer kaum feststellbaren Größe.  Wer jetzt rund 70 Jahre nach dieser Zeit die Akten liest, wundert sich: Den einen war die Aufarbeitung der eventuellen persönlichen Schuld ein wichtiges Thema, andere wiederum nutzten diese gerichtsähnliche Einrichtung zum Anschwärzen ihnen unliebsamer Leute oder schlicht zum Waschen dreckiger Wäsche.  Persilscheine machten die Runde. Exemplarisch für die Aufarbeitung von Schuld und Sühne in der NS-Zeit hier der Papierstoß Nummer EL 902—23, öffentlich zugänglich im Staatsarchiv Ludwigsburg, Außenstelle des Landesarchives.

So begann seine Arbeit in Lienzingen: 1920. Insgesamt 25 Jahre  lang blöieb er an Ort und Stelle Rathaus-Chef. Von der Bewerbung von Karl Brodbeck angenehm berührt, waren Kreise der Bürgerschaft. Blumiger Vierzeiler mit Vorschusslorbeeren bei der ersten Bewerbung im November 1920 (Quelle: Bürgerfreund, Zeitung für das Oberamt Maulbronn, / STAM, Zeitungsausschnitt).
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Braunes Parteibuch: Lienzinger Bürgermeister und Pfarrer "meldeten 1933 ihren Eintritt in die Partei an"

Wilhelm Kriech, evangelischer Pfarrer in Lienzingen von 1929 bis 1934, und Karl Brodbeck, Bürgermeister der Gemeinde von 1920 bis 1945, taten im Jahr 1933 einen für sie entscheidenden Schritt: Sie unterschrieben Beitrittserklärungen zur NSDAP. Kriech gab sein braunes Parteibuch nach zwei Jahren wieder retour, als Ruheständler in Stuttgart. Brodbeck blieb bis zum bitteren Ende der Bewegung treu. Die beiden verband eines trotzdem noch stärker: der christliche Glaube. Der Schultes besuchte mit seiner Familie regelmäßig den Sonntagsgottesdienst, gehörte zudem dem Kirchengemeinderat an. Die Folge davon, dass sich die beiden zu diesem Schritt entschlossen. Somit hatte das gut 700 Einwohner zählende Lienzingen somit einige Monate sowohl ein NS-Mitglied als Ortsgeistlichen als auch ein weiteres als Schultes. Das ist im Dorf nicht präsent. Sollte  es seinerzeit gewesen sein, hatten die Menschen es verdrängt.

Lienzinger Geschichte(n): Die Serie im Blog. Die Überraschung bei der Recherche. 1933/34 hatten im 700-Einwohner-Dorf Lienzingen sowohl der Bürgermeister als auch der evangelische Pfarrer das braune Parteibuch. Beide gingen 1933 zur NSDAP - zwei Jahre später trat der Geistliche bitter enttäuscht wieder aus

Beide überzeugte Hitler-Anhänger? Brodbecks persönliche und parteipolitische Geschichte verlief anders als die des Theologen. Bürgermeisters und späteren Ortsgruppenleiters der NSDAP der eine, relativ schnell von der Partei enttäuscht der andere. Nicht nur deshalb unterscheiden sich beider Spruchkammer-Akten sowohl vom Umfang als auch vom Verfahren her. Den Fall Kriech wickelte die Kammer zur Entnazifizierung 1947 ausschließlich im schriftlichen Verfahren mit der laufenden Nummer 48/13/847 ab, Brodbeck (48/20/633) musste sich 1947/48 öffentlichen Verhandlungen stellen.

Im Herbst 1933: Erntedankfest Friedenstraße (rechts Krone) links hinten Tanksäule und Gemeindewaage, vorn Musikverein in Uniform links Bürgermeister Brodbeck - (Stadtarchiv Mühlacker. Smlg Paul Straub (002)

Die Kammer stufte in ihren Urteilen beide als Mitläufer der Nationalsozialisten ein. Kriech, inzwischen in Hohenhaslach wohnend, musste als Sühne 50 Reichsmark bezahlen, Brodbeck 500, ihrem jeweiligen Vermögen entsprechend. Sie waren damit in der zweituntersten Gruppe eingestuft: 1 Hauptschuldige (Kriegsverbrecher); 2 Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer); 3 Minderbelastete (Bewährungsgruppe); 4 Mitläufer; 5 Entlastete, die vom Gesetz nicht betroffen waren.

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Doch keine Angst

Ein Volk voller Angsthasen mit einer Neigung zur Depression? Fühlen wir uns wirklich schlechter, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Ist unser Leben heute komplizierter? Roland Paulsen bejaht die Fragen in seinem Buch Die große Angst. Untermauert dies mit Fakten und Fällen, liegt damit nicht so schief wie man das auf den ersten Blick vermutet. Der knapp 40-jährige Professor für Soziologie in der Universität Lund in Schweden lebt in Stockholm, ist vielfach ausgezeichneter Autor der größten schwedischen Tageszeitung. Sein mehr als 400-seitiges Buch, erschienen im Verlag Mosaik, hat Tiefgang und Schlagseite in einem, wie der Titel bereits vermuten lässt. Der Leser fragt sich, ob wir wirklich alle miteinander ängstlich sind wie der Autor meint feststellen zu müssen. Wo bleibt die Fröhlichkeit? Wo bleibt der Humor? Wo rangiert das Glück? Stattdessen Ängste und Sorgen, Gedanken als Krankheit, Entzauberungen, die Welt und das Ich als Risiko, um nur einige Kapitel anzuführen.

Doch keine Angst: Der Soziologe bietet nicht nur Diagnose, sondern auch Therapie, entwickelt gar Gedanken jenseits der Therapie. Paulsen beschäftigt sich mit der Frage, wie kompliziert das Leben geworden ist. Er macht dies fest an Personen, anonymisiert sie, ohne dass die Fälle an Eindringlichkeit verlieren.

Im Jahr 2017 meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), weltweit hätten Depressionen die körperlichen Erkrankungen von der Spitze der häufigsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen verdrängt. In zehn Jahren war die Zahl der Menschen, die an Depression litten, laut WHO-Statistik um fast 20 Prozent gestiegen. Angststörungen seien mittlerweile sogar noch weiter verbreitet als Depressionen. Die Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung ist also höchst dringlich. Die Antworten sind freilich nicht einfach zu geben, der Einblick in das Innere des Menschen fällt schwer. Ein lesenswertes und informatives Buch, das nicht nur nachdenklich macht, sondern auch Wegweiser ist für den Abschied von der großen Angst.

Ein politisches Buch, zufällig passend zum laufenden Bundestagswahlkampf. Und für folgende Wahlkämpfe.

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Zuccalmaglios Renette: Lienzinger Konfirmanden pflanzen alte Apfelsorte

Kira Huttenlocher, Liane Gilinberg, Sarina Hafner, Mona Petersen, Lenny Ulaneck, und Lukas Nagel - die Kofirmanden 2021 - setzten jetzt eine Lienzinger Tradition fort: Sie pflanzten zusammen mit Jutta Heugel-Appu den sechsten Konfirmandenbaum. Die Wiese an der Straße Bei der Frauenkirche ist nun zur Hälfte gefüllt und kann sich sehen lassen. Diesmal handelt es sich um die alte Apfelsorte Zuccalmaglios Renette.

Konfirmanden als Baumpflanzer

Der Winterapfel entstand 1878 aus einer Kreuzung zwischen Ananasrenette und Purpurrotem Agatapfel. Der Züchter benannte die neue Sorte nach seinem Schwiegervater, dem Schriftsteller und Dichter Vinzenz Jakob von Zuccalmaglio. Das weiße, sehr saftige Fruchtfleisch dieser Apfelsorte zeichnet sich durch ein mild-süßes Aroma und einen typischen Apfelduft aus. Die Schale des Winterapfels Zuccalmagliorenette ändert während der Vollreife ihre Farbe und entwickelt sich von einem grünlichen Gelb zu einem sortentypischen Zitronengelb.

Alte Apfelsorte Zuccalmaglios Renette

Die Idee hatte vor einigen Jahren Jutta Heugel-Appu: Die Grünfläche unterhalb des Friedhofs zum Dorf hin soll zur Lienzinger Konfirmandenwiese wachsen. Beharrlich verfolgt sie das Ziel: Man sieht schon, was es werden soll. Unter ihrer Regie entsteht zusammen mit der Stadt Mühlacker und Lienzinger Mitbürgern auf der Wiese in den nächsten Monaten auch eine Sitzgelegenheit, ein bürgerschaftliches Projekt der Herzenssache Lienzingen. Inmitten der Wiese wird eine Trockenmauer einen Platz zum Ausruhen umschließen. Die Sandsteine stammen aus dem Abbruch eines alten Lienzinger Wohngebäudes am Mühlweg.

 

Wolf im Schafspelz: Die Lienzinger mochten ihn - Der Fall Hermann Oppenländer

Aufstellen zum Umzug beim Kinderfest anlässlich der Heimattage Lienzingen Anfang Juli 1958 mt Lehrer Hermann Oppenländer (helle Kopfbedeckung). Foto: Smlg. Roland Straub

Als Erst- und Zweitklässler hatten wir in der Volksschule Lienzingen einen Lehrer, den wohl alle mochten: Hermann Oppenländer. Nicht nur wir Sieben- oder Achtjährige erlebten ihn als freundlich, gingen gerne zu ihm in den Unterricht. Selbst bei der Aufsicht  in der großen Pause auf der Straße vor der Schule, bei  der sich die Mädchen und Jungen austobten, behielt er die Ruhe, wenn ein Auto oder ein Fuhrwerk diesen ungewöhnlichen Pausenhof passieren wollte. Denn unsere Schule an der heutigen Kirchenburggasse fehlte ein eigenes Pausengelände. Ein hochgewachsen, leicht beleibter, jovialer Mensch vom Typ Familienvater. Der 56-Jährige wohnte in der Bannholz-Siedlung in Mühlacker. Sein Auto – ich meine, ein DKW – parkte er während des Unterrichts im Hof schräg gegenüber vor einer Scheune.


Lienzinger Geschichte(n) mit einem Beitrag über Hermann Oppenländer, der von 1956 bis 1959 dritter von drei Lehrern an der Volksschule in Lienzingen war. Auf einer Stelle, die das Obeschulamt 1955 streichen wollte, wogegen sich der Lienzinger Gemeinderat heftig und letztlich erfolgreich wehrte. Wegen seiner NS-Vergangenheit entwickelte sich Oppenländer zu einem Fall der Landespolitik. Somit reicht der Beitrag zur Blog-Serie über unser Dorf hinaus - ein beklemmendes Stück auch lokaler Nachkriegsgeschichte


Doch von einem Tag auf den anderen blieb Hermann Oppenländer weg. Wir konnten uns keinen Reim darauf machen, weshalb er fortan die Volksschule in Lienzingen meiden werde. Keiner sagte zunächst, offen und ehrlich, was Sache ist. Aber die Fakten hätten wir wohl in diesem Alter in der ganzen Dimension nicht voll begriffen. Heute noch gilt der Vorgang bei jenen, die sich erinnern können, als rätselhaft. Dabei gab Oppenländer eigentlich keine Rätsel auf all jenen, die sich informieren wollten. Der Lehrer trug eine schwere persönliche Last: Er war vor 1945 eine regionale Nazi-Größe mit nun allen für ihn zurecht beschwerlichen Folgen, die er aber partout nicht akzeptieren wollte. Er sah sich ohne persönliche Schuld.

  • Dienstunfähig nach Nervenzusammenbruch 

Er sei krank und werde auch nicht wieder kommen. So kurz und bündig die dann doch offizielle Absage eines weiteren Gastspiels ihres Kollegen durch die beiden verbliebenen Lehrer, Wilhelm Wagner und Karl Kießling. Diese Botschaft haftet heute noch in meinem Gedächtnis. Jedoch hält sich hartnäckig das Gerücht, Oppenländer (Jahrgang 1900) sei während des Unterrichts in der Klasse verhaftet worden wegen nicht näher benannter Straftaten zu Zeiten der Nazi-Diktatur. Die Wahrheit: Er erlitt im Herbst 1959 durch den Stress um seine Person einen Nervenzusammenbruch. Sein Mühlacker Hausarzt  schrieb ihn daraufhin dienstunfähig. Da aber war zumindest für ihn klar, dass seine Zeit an der Lienzinger Schule endgültig abgelaufen war. Denn er wusste um die Strippen, die andere wegen seiner Arbeitsstelle an der Lienzinger Bildungseinrichtung zogen: Der Fall Oppenländer drohte zum Zündstoff für die baden-württembergische Landespolitik zu werden. Zwei Minister waren bereits damit befasst: der für Justiz und sein Kollege vom Kultusbereich.

  • Kultusministerium auf Schadensbegrenzung aus

All das wussten wir Lienzinger Erst- und Zweitklässler nicht. Kinder, denen die Verbrechen in der Nazi-Zeit noch wenig sagten. Und wohl die wenigsten Eltern lasen seinerzeit eine der Stuttgarter Tageszeitungen, in denen der Fall schon seit einigen Monaten des Jahres 1959 für Aufregung sorgte – der Fall des Hermann Oppenländer aus Mühlacker, aufgewachsen in Dürrmenz, ehemaliger hauptamtlicher NSDAP-Kreisleiter in Schwäbisch Gmünd, von der Spruchkammer als Hauptbelasteter eingestuft, zwölf Jahre Zuchthausstrafe (von denen er nur drei Jahre abzusitzen hatte), weil er mit einem anderen Verantwortlichen einen Tag vor dem Einmarsch der US-Truppen in Gmünd zwei Männer erschießen ließ, da sie auf der Straße lautstark  – und betrunken – Parolen gegen Hitler schrieen. Und jener Oppenländer unterrichtete nun wieder - wie ein Wolf im Schafspelz - Kinder wie vor 1937, diesmal an der Volksschule Lienzingen. Das rief Widerspruch hervor. Nicht in Lienzingen. Doch es sprach sich bis nach Stuttgart herum und drohte, hohe Wellen zu schlagen. Schadensbegrenzung lautete das Ziel der Schulbehörden bis hinauf ins Ministerium. 

  • Heimatfest Juli 1958: Der Lehrer lief als Begleiter beim Umzug mit 
Hermann Oppenländer (rechts) auch beim Umzug 1958. Foto; Smlg. Roland Straub

Offen bleibt im Rückblick für mich, was Eltern und Kollegen im Dorf von der Oppenländer-Welt wussten. Uns Schulanfängern war das Thema noch weitgehend unbekannt. Einzig das Gerücht, da sei etwas im „Dritten Reich“ mit Oppenländer vorgefallen, waberte durch den Ort.  So blieb es zunächst – und Oppenländer versank allmählich in der Vergessenheit. Er hatte nur drei Jahre an der Lienzinger Schule unterrichtet. Sein Name taucht jedoch sporadisch auf vor allem bei jenen, die bei ihm – wie ich - die Schulbank drückten. So bei einem Fotonachmittag in der vollbesetzten Gemeindehalle des Ortes am 6. Januar 2016 und damit zu Beginn des Jubiläumsjahres 1250 Jahre Lienzingen. Dabei zeigte der örtliche Historien-Mann Roland Straub – auch einer der Schüler von Oppenländer - vor mehr als 300 Besuchern alte Aufnahmen vom Leben früher im heute 2100 Einwohner zählenden Ort, seit 1975 Stadtteil von Mühlacker. Darunter Fotos vom Kinderumzug beim Heimatfest Anfang Juli 1958 mit Hermann Oppenländer, wie er neben Schülergruppen lief. Oppenländer sei, so Straub, im Klassenzimmer festgenommen worden, als gerade die Zweitklässler unterrichtet habe. Wir waren schockiert. Danach haben wir ihn nicht mehr gesehen. Doch: Die Aktenlage spricht nicht dafür. Auch in der Personalakte beim Oberschulamt Nordwürttemberg steht nichts von einer Verhaftung.

Was wussten die Lienzinger über Oppenländer? Angeblich nicht viel oder sie redeten nicht gerne darüber. Doch der gelernte Lehrer, geboren in Mühlacker als Sohn eines Lokomotivführers aus Dürrmenz, war von 1934 bis 1937 nebenamtlich Chef der NSDAP im damaligen Kreis Vaihingen. Und die Rolle des Kreisleiters spielte er sicherlich nicht im Geheimen. Wer was wusste, nicht wusste oder nicht wissen wollte? Fragen blieben bis jetzt ohne Antworten.

Kirchenburggasse als Pausenhof bis 1960, aufgenommen 1927. (Quelle: Stadtarchiv Mühlacker=STAM, Smlg. Roland Straub)
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