Wohnbaracke auf freiem Feld brachte das ganze Dorf in Rage - Fast zehn Jahre schwelte der Konflikt um Schwarzbau

Ein heikler Fall der Lienzinger Nachkriegsgeschichte. Ein eigentlich trauriger Fall zudem, selbst wenn die Vorgänge um eine Holzbaracke im Jahr 1958 beim Festumzug anlässlich der Lienzinger Heimattage für Heiterkeit sorgten. Denn heftig Applaus spendeten die Zuschauer dem spöttisch, verzerrenden, also satirisch gemeinten Zigeunerwagen. Das Gefährt hatte damit seinen Namen weg. Jedoch fehlte der Geschichte nicht eine gewisse Ironie. Denn Ideengeber Gustav Mayer, ganz vorne mit dabei auf dem zwecks Gaudi umgerüsteten und von einem Pferd gezogenen Heuwagen, spielte damit auf die im Ort heftig umstrittene Ansiedlung einer Sinti-Familie an.

Beim Umzug anlässlich der Tage der Heimat in Lienzingen am 6. Juli 1958: Gerhard Schmollinger und Hans Rieger im Vordergrund, Hans Bäzner, Gustav Mayer sowie Josef Windpassinger mit ihrem „Zigeunerwagen“. Eine viel beklatschte Parodie auf die Ansiedlung einer Sinti-Familie jenseits der Bundesstraße 35. (Foto: Gerhard Schwab/aus Sammlung Stadtarchiv)

Aber selbiger Mayer war es, der die ganze (Siedlungs-)Geschichte im Jahr zuvor selbst auslöste. Denn er hatte der Groß-Familie zwei Äcker mit zusammen 14 Ar in den Langen Halden und damit im reinsten Außenbereich verkauft, auf dem sie ihr Wohnheim aus Holz errichteten. Daraus entwickelte sich ein Dauerärgernis für die Behörden. Der Schwarzbau bescherte somit sowohl der Gemeinde als auch dem Landkreis Vaihingen für etliche Jahre ein Problem. Ein unmöglicher Schandfleck durch eine Zigeunersiedlung unmittelbar an der B 35 sei entstanden, zitierte der Historiker Konrad Dussel aus den im Stadtarchiv Mühlacker (STAM) aufbewahrten Akten in seinem Beitrag für das  Ortsbuch von Lienzingen 2016 (S. 220 f).

Dieses ungewöhnliche Stück Heimatgeschichte erklärt auch, weshalb im Gewann Ob der Furtbrücke, südlich des Rennweges, unterhalb des Ortes Schmie, heute eine kleine Siedlung steht, die eigentlich dort nicht sein dürfte.

Immerhin fast zehn Jahre lang beschäftigte eine Frage regelmäßig und gleichermaßen den Lienzinger Gemeinderat und das Vaihinger Landratsamt: Was tun mit den Sinti? Anführer der Sippe, wie der Bürgermeister sie zu apostrophieren pflegte, war Kaspar Kreuz, untersetzt, mit weiten Jackets, spitzbübisch bis bauernschlau. Sicherlich kein Heiliger wie jener Kasper, der zu den drei Weisen aus dem Morgenland gehörte, auf jeden Fall aber gut katholisch. Der Familienverband war zwar seit 1926 in Mühlacker und Lomersheim daheim, aber dann doch wieder nicht daheim. Denn der Weg vom fahrenden zum sesshaft werdenden Volk blieb ihnen meist verwehrt.  So fackelte Kaspar nicht lange und schuf Fakten – allerdings in Lienzingen. Das war 1957, friedlich schiedlich beigelegt wurde der Fall 1966.

Lienzinger Geschichte(n), meine lokale Web-Serie zur Nachkriegshistorie unseres Dorfes, bis 1975 selbstständige Kommune, heute Stadtteil von Mühlacker. Aus Protokollen und Akten, aber auch aus Gesprächen: Die Sinti-Familie und ihr schmerzhafter Versuch, in Lienzingen eine Heimat zu finden.

Kaspar Kreuz handelte mit altem Eisen und betagten Autos, kümmerte sich nicht um die bei solchen Geschäften notwendige amtliche Genehmigung seines Kaufs der Parzelle Nummer 4053/2 in den Hälden, formal landwirtschaftliche Fläche, weshalb zuvörderst eine Bodenverkehrsgenehmigung durchs Landwirtschaftsamt Vaihingen hätte beantragt werden müssen. Einen Bauantrag für die geplante Baracke auf der Ackerland-Parzelle 4053/2 im Rathaus einzureichen, kam ihm nicht in den Sinn, er handelte einfach – so wie es in jener Zeit des Wiederaufbaus  auch mancher Schultes tat, ohne lange zu fragen, was später ihren Rechtsnachfolgern auf die Füße fallen sollte. Sie mussten dann reparieren.  

Also stand eines Tages eine Holzbaracke in der freien Landschaft, ausgerechnet wie auf dem Servierteller und gut einsehbar von der Bundesstraße 35 her.  Zu allem baurechtlichen Übel im so genannten Außenbereich. Doch dort dürfen nur vom Landwirtschaftsamt als privilegiert eingestufte Menschen siedeln und privilegiert ist gemeinhin ein Landwirt. Als solcher empfand sich Kasper Kreuz sicherlich nicht. Und so stufte die für Lienzingen zuständige Baurechtsbehörde des Landkreises das Leichtbauwerk denn auch folgerichtig als unerlaubt ein. Eine Wertung, die Bürgermeister Richard Allmendinger und die zehn Gemeinderäte teilten.

Bürgermeister: Gesetzwidrige Handlung 

Erstmals am 10. September 1957 stand der Schwarzbau auf der Tagesordnung des Gemeinderates von Lienzingen. Im Protokoll (§ 16) wird der Bürgermeister zitiert: Sofort nach Bekanntwerden der willkürlichen Handlung habe er mit Einschreibebrief in unmissverständlicher Weise darauf hingewiesen, dass seine (des Adressaten Kreuz) Absicht eine gesetzwidrige Handlung wäre und er die Baracke wieder abbrechen müsse, falls er der Weisung nicht Folge leiste. Der Schultes berichtete weiter, das Landratsamt habe mit Erlass vom 7. September 1957 - Nr. III/3101 - den Abbruch der inzwischen erstellten Baracke verfügt. Allmendinger sagte offen, mit der Beseitigung des Gebäudes durch Kreuz sei nicht zu rechnen, weshalb Ersatzvornahme verfügt werde: Abbruch durch die Behörde auf Kosten des Bauenden. Der Gemeinderat zeigte sich durch den Vorgang äußerst beunruhigt und verurteilt die heutigen mangelhaften Befugnisse seitens der unteren Verwaltungsbehörden aufs Schärfste, ist in der Niederschrift über die Beratungen zu lesen. Der Grund des Unmutes der Runde wurde rasch klar. Denn im selben Absatz steht: Da bei einem Abbruch die - genaugenommen zwei - Familien, nämlich Kreuz und Reinhardt, obdachlos wären, müsste die Kommune sie in eine leere Wohnung einweisen, also dafür sorgen, dass sie wieder ein Dach überm Kopf haben. Denn zuständig für die Unterbringung von Obdachlosen waren auch seinerzeit schon die Kommunen. Zeitweise wohnten etwa 20 Personen aus zwei Familien in der Baracke  (STAM, Li B 325, S. 164 f).

Das war aber auch der Stoff, aus dem sich Phobien entwickeln können. Von Angststörungen sprechen die Experten, die sich auf bestimmte Objekte oder Situationen beziehen. Reaktionen auf diese Situation fallen unangemessen stark aus. Die Phobie der Lienzinger entwickelte sich in den ersten Wochen nach dem Bau der Holzbaracke. Ich erinnere mich noch, wie eines Morgens ein Polizist durch die Herzenbühlstraße ging, um zu notieren, was angeblich in der Nacht zuvor geklaut worden war. Meine Mutter ließ sich davon auch anstecken und gab zu Protokoll das Fehlen einiger Gläser mit eingedünstetem Obst, die im von außen zugänglichen Keller standen. Die Täter vermutete man jenseits der Bundesstraße 35 unter den so fremd wirkenden Zugezogenen. Letztlich entpuppte sich die angebliche Diebstahltour als Märchen aus 1001. Nacht – eben Produkt einer Phobie. Zu sehr saß noch das von den Nazis gezeichnete abschreckende Bild von Sinti und Roma bei den Menschen fest.

Ortsparlament lehnte Vorschlag des Landratsamtes ab

Ein Jahr lang tauchte das Thema – zumindest offiziell – nicht mehr im Gemeinderat auf. Während beim ersten Mal noch im öffentlichen Teil der Sitzung beraten wurde, verlegte der Bürgermeister den Punkt mit der Überschrift Einweisung des Kaspar Kreuz (Zigeuner) in die Wohnung Haug der Gemeindebaracke in jenen Beratungsteil, der ohne Öffentlichkeit abgewickelt wurde. Zwar ging es um eine andere Baracke, 1948 in der Nähe der Wette baurechtlich genehmigt und kommunal erbaut, aber just in diese sollte die Familie Kreuz (von Reinhardt war hier nicht mehr die Rede) auf Vorschlag des Landratsamtes von der Kommune eingewiesen werden. Dort lebte nur noch ein alleinstehender Mann, der im Protokoll der Sitzung als asozial bezeichnet wird. Die perfide Rechnung der Kreisverwaltung: Dass die beiden dann eng aufeinander wohnenden Parteien sich in die Haare geraten und ein Teil schließlich sich von Lienzingen absetzt. Doch das Ortsparlament lehnte entschieden ab, denn Haug verstehe sich gerade besonders gut mit Kreuz, beide stünden laufend miteinander in Verbindung (STAM, Li B 325, S. 225).

Nun begann die Zeit der weiteren Schach- und Winkelzüge der Behörden. Das Ziel: Die Sinti-Familien loszuwerden. Doch Kaspar Kreuz setzte seine ihm eigene Schläue ein, marschierte am 29. Mai 1959 zum Landratsamt Vaihingen und erklärte, er könne in Mittelschefflenz im Kreis Mosbach ein Wohnhaus mit Scheune für 12.000 Mark kaufen, es fehlten ihm aber die dazu notwendigen Barmittel. Darüber informierte der Bürgermeister wenige Tage später in der Ratssitzung und fügte hinzu, der Landkreis wäre eventuell bereit, im Falle des Wegzugs der Kreuz 5000 Mark aufzubringen, hoffe und wünsche aber eine Beteiligung der Gemeinde. Zwar sei das Gremium von dem Ansinnen selbstverständlich wenig erbaut (…) komme jedoch zum Entschluss, das kleinere Übel dem größeren vorzuziehen und genehmigte bis zu 1000 Mark für einen Abbruch der Baracke und für den Abtransport der Zigeuner Kreuz. Abtransport?  Da hätten Erinnerungen an den Nazi-Jargon und die Transporte in die Konzentrationslager (KZ)  aufkommen müssen. Einfach negieren? Alles vergessen? Oder doch noch Opfer der einstigen NS-Propaganda? Jedenfalls fehlten Lienzingens Räten und  dem Verwaltungschef in dieser Sache das notwendige Fein- und  Fingerspitzengefühl (STAM, Li B 325,  S. 272 f).

Hans Rieger vorneweg beim Heimattage-Umzug in Lienzingen 1958 mit dem Parodie-Wagen (Foto: Gerhard Schwab)

Die Abstände, mit denen das Thema auf die Tagesordnung kam, wurden immer kürzer. Gut einen Monat danach drehte sich in Punkt 1 der Tagesordnung der öffentlichen Sitzung alles um einen inzwischen erfolgten Anbau an die Baracke, um eine weitere Familienangehörige aufzunehmen, die einen der Kreuz-Söhne heiraten wollte. Wie Allmendinger sagte, habe er dagegen beim Landratsamt protestiert, eine Beseitigung des Anbaues verlangt und angekündigt,  das junge Paar nicht zu trauen. Die Kreisverwaltung wolle jedenfalls den heimlich gebauten Erweiterungstrakt  beseitigen lassen (S.  279).

Inzwischen drohte ein handfester politischer Kuhhandel. Die Kommune hatte westlich der Sinti-Baracke ein weiteres Problem: Der Transportunternehmer und Kraftfahrzeughändler Vinzenz Kusebauch aus Mühlacker wollte sich mit seinem Betrieb in Lienzingen ansiedeln. Folgte nun die Zeit der krummen Geschäfte?  Ein Eindruck, der aufgrund der Diskussionen im Gemeinderat entsteht, im Protokoll der Gemeinderatssitzungen vom 30. August 1960 nachzulesen. Kusebauch schlug vor, die Gemeinde solle ihm ein ihr gehörendes, 21 Ar großes Grundstück in den Hälden für 3000 Mark verkaufen, wenn es ihm gelinge, die Sinti-Familie ins badische Land weg(zu)schaffen – konkret nach Gölshausen bei Bretten. Doch inzwischen vermittelte Allmendinger dem Unternehmer eine Fläche, die ein Privatmann aus Lienzingen veräußerte. Und deshalb sollte der Gemeinderat nun entscheiden, ob damit die früher eingegangene Verpflichtung von Kusebauch hinfällig sei, den Umzug der Sinti nach Gölshausen zu erreichen.

Denn der Bürgermeister saß in der Zwickmühle: Einerseits vermittelte er das Grundstück, musste aber alsbald sehen, dass Kusebauch das möglicherweise nicht bebauen durfte. Denn die Bauberatungsstelle beim Regierungspräsidium Stuttgart lehne die Bebauung ab, die Kommune könne also den Unternehmer  bei diesem Plan nicht unterstützen, sagte er Kusebauch und danach auch den Bürgervertretern an jenem 30. August. Zumal das Abstellen von reparaturbedürftigen Kraftfahrzeugen,  vorwiegend Lkw, auf dem Grundstück ein unschönes Bild abgeben und den dortigen Landschaftscharakter nachteilig beeinflussen würde. Der Schultes deutete jedoch an, wenn es möglich wäre, durch eine solche Bebauung die Sinti aus Lienzingen wegzubringen, so wären die eingeleiteten Schritte schon der Überlegung wert, um aber sofort klarzustellen: Die Durchsetzung der Ziele des Kusebauch müsse jedoch Sache desselben bleiben. Diese Sowohl-als-auch-Lösung setzte sich im Gemeinderat durch:  Kusebauch insolange keine Möglichkeit der Ansiedlung seines Unternehmens zu geben, bevor nicht das Versprechen, die Zigeunerfamilie ins badische Land zu verbringen, erfüllt sei. Offenbar in Unkenntnis der Tatsache, dass ihrer Gemeinde die baurechtliche Zuständigkeit fehlte, um über eine solche Bebauung bindend zu entscheiden. Das konnte allein das Landratsamt in Vaihingen. Offen bleibt, ob Kusebauch mit Kreuz wegen eines Umzugs verhandelt hatte, zudem ob und wann dieses Kopplungsgeschäft förmlich beschlossen worden war (STAM, Li B 326, S. 52 f).

Zweifelsohne revolutionäre Folgen und unheilvolle Feindschaft, befürchtete der Schultes anno 1960

Dass auch Kaspar Kreuz in der Baracken-Heimat keine Dauerlösung sah, machte er verschiedentlich deutlich. So bat er das Regierungspräsidium Nordwürttemberg in Stuttgart am 18. November 1960 schriftlich um Hilfe bei der Wohnungssuche, die ihm aber genauso verweigert wurde wie von der Gemeinde (Ratssitzung 3. Februar 1961). Da im Juni 1960 die Wohnraumbewirtschaftung aufgehoben worden sei, verwiesen beide auf den freien Markt, wobei Allmendinger ehrlicherweise einräumte, auch er habe bei der Suche nach einer Wohnung für die Sinti keinen Erfolg gehabt. Eine Einweisung in Obdachlosenunterkünfte der Gemeinde scheide aus, weil diese keine habe. Wenn sie welche hätte, käme eine solche Verfügung auch deshalb nicht in Frage, weil schon ein Versuch der Einweisung durch das Bürgermeisteramt als Ortspolizeibehörde zweifelsohne revolutionäre Folgen und unheilvolle Feindschaft im Ort verursachen würde. Niemand wolle sich mit dieser Sippe verfeinden oder mit ihr in nähere Beziehung treten (S. 77). Ein erneuter Appell von Kreuz, ihm und seiner Familie  einen Platz zuzuweisen, um eine eigene Wohnung erstellen zu können, stieß beim Gemeinderat weiter auf taube Ohren (Ratssitzung  am 22. November 1963, Li B 326, S. 239 f).

Auch Kaspar Kreuz beherrschte durchaus die Klaviatur, um den Druck auf die Kommune zu erhöhen. Er schaltete im Frühjahr 1965 das Staatliche Gesundheitsamt Mühlacker ein, bat um Besichtigung der Unterkunft, in der zu diesem Zeitpunkt 21 Personen lebten und forderte eine menschenwürdige Unterbringung ein. Beim Treffen des Ortsparlamentes am 4. Juni 1965 lag der Bericht des Gesundheitsamtes über die Wohnungs- und Hausbesichtigung vom 7. April 1965 vor. Der Inhalt wird im Protokoll, das immer der Bürgermeister führte, nicht wiedergegeben, sondern auf zwölf Zeilen nur die wesentlichen Aussagen der Räte. Tenor: Niemand habe die Familie Kreuz nach Lienzingen gerufen. Kaspar Kreuz hätte wissen müssen, dass sich auf der Fläche an der B 35 – dem Baracken-Standort – kein Wohnheim errichten lasse. Außerdem sei die Gemeinde nicht in der Lage, den Kreuz ein Baugrundstück zu besorgen, denn selbst der geringste Versuch würde bei der Einwohnerschaft auf zu große Schwierigkeiten stoßen. Hier könne nur der Staat wirkungsvoll helfen, und der tue ja nichts. Damit war der Punkt erledigt – fürs erste (S. 28).

Klein-Siedlung im Außenbereich am Rennweg zwischen Lienzingen und Schmie: Sie dürfte es - streng genommen - nicht geben, doch sie half, 1966 den Konflikt zwischen Behörden und einem Sinti-Familienverband zu lösen. (Foto: Günter Bächle, 2020)

Denn 13 Monate später entwickelte sich im Gemeinderat zu diesem heißen Thema eine Generaldebatte, die sich im Protokoll der Ratssitzung vom 22. Juli 1966 auf zweieinhalb Seiten niederschlug – für Lienzinger Verhältnisse außergewöhnlich lang. Der Bürgermeister erinnerte ans Jahr 1957, dem Kauf der Flurstücke 4056, 4057/1 – zwei Äcker in den langen Hälden – mit zusammen 13,94 Ar durch die Familie Kreuz, an die gesetzwidrige Erstellung einer Baracke, in der aktuell 18 Personen leben würden. Die Abbruchverfügung habe nicht durchgesetzt werden können, weil die Gemeinde als Ortspolizeibehörde keinen Ersatzwohnraum habe und deshalb die nach der Beseitigung des Schwarzbaues auf die drohende Obdachlosigkeit der Familie nicht durch eine Ersatz-Unterkunft reagiert hätte können. Gleichzeitig dränge das Landratsamt verstärkt auf eine anderweitige Unterbringung. Die Baracke unmittelbar an der B35 sei ein unmöglicher Schandfleck geworden, so der Landkreis. Da die Familie Kreuz nicht in einen Ort außerhalb des Kreises ziehen wolle, müsse sie an eine andere, nicht von allen Seiten einsehbare Stelle umgesetzt werden.

Kelterle oder Kläranlage: Landrat Fuchslocher drängte auf eine Lösung des Problems

Bei einer Besprechung am 5. Juli 1966 im Rathaus Lienzingen schlug der neue Landrat Erich Fuchslocher, vordem Bürgermeister von Mühlacker, zwei Varianten einer Lösung auf Lienzinger Markung vor: Entweder ein Standort in der Nähe des Kelterles unterhalb der Weinberge, denn dort bestehe ein Wasseranschluss oder neben der Kläranlage am Mühlweg, dann könne Kaspar Kreuz gleich den Klärwärterdienst übernehmen.  In beiden Fällen müsse er aber seinen Autohandel aufgeben. Beide Vorschläge lehnte der Gemeinderat in seiner öffentlichen Sitzung am 22. Juli 1966 ab, doch da hatte der Bürgermeister einen geeigneten Vorschlag in der Hinterhand. – nicht ohne zuvor wehzuklagen, dass die Zigeuner die Lebensgewohnheiten und Notwendigkeiten der Einheimischen nicht erfüllen wollten, sie zudem niemand nach Lienzingen gerufen habe und die Gemeinde deshalb nicht verpflichtet sei zur Hilfe. Die Sippe verdiene auch keine Unterstützung, sie hätte kein Recht, Forderungen zu stellen.  Auch die sonst so rührige Naturschutzbehörde habe es vorgezogen, in der heiklen Angelegenheit den geduldigen Dulder zu spielen.

Doch dann schwenkte Allmendinger um auf den Fall Kusebauch. Der strauchelte wirtschaftlich,  konnte die erworbenen und von Allmendinger vermittelten Grundstücke mit den Nummern 4139, 4140, 4141 und 4142 bei der Furthbrücke nicht ins Grundbuch eintragen lassen, obwohl die Raiffeisenbank Schützingen wegen eines bereits ausbezahlten Darlehens von 20.000 Mark  darauf wartete, um diesen Kredit grundbuchmäßig abzusichern, aber das Landwirtschaftsamt  Vaihingen blockiere, beharre auf seinem Nein zum Eigentumswechsel dieser Ackerflächen an einen Nicht-Landwirt. Dabei hatte Kusebauch seinen Betrieb mit der Verwertung von alten Autos dort schon aufgenommen. Er stand also unter großem Zeitdruck.  

Nachdem auch die Sinti-Familie auf eine Lösung hoffe, könnten beide Fälle in einem Zug gelöst werden, so der bauernschlaue Schultes. Die Kommune sei bereit, die von Kusebauch erworbenen Grundstücke mit einer Gesamtfläche von fast 22,5 Ar zu kaufen und eine Teilfläche dann den Familien Kreuz und Reinhardt im Tausch gegen deren Baracken-Grundstück zu überlassen. Weitere, mit dem Umzug der Familien entstehenden Kosten trage die Gemeinde nicht. Die Familien hätten für sich und alle Rechtsnachfolger auf den Handel mit altem Eisen und alten Autos zu verzichten und dürften nur Fahrzeuge auf dem Grundstück abstellen, die sie selbst nutzen. Das Wohngrundstück sei mit einer Buchenhecke einzufrieden. Die Jungpflanzen stelle die Gemeinde kostenlos zur Verfügung. Ein förmlicher Beschluss fiel an diesem Abend im Gemeinderat (noch) nicht (STAM, Li B 327, S. 97 ff).

Allmendinger-Plan ging dann doch auf

In den folgenden Wochen stimmten alle Beteiligten zu. Der Allmendinger-Plan ging auf, er konnte in der vorgeschlagenen Form vollzogen werden. Bald durften die Familien Kreuz und Reinhardt mit dem Bau ihres Wohnhauses beginnen.

Die Gemeinde kaufte am 3. April 1967 Vinzenz Kusebauch die Äcker mit den Flurstücksnummern 4139 bis 4142 ab, kündigte ihm, per Einschreibebrief, am 17. April 1967 und verlangte Räumung  der alten Autos bis 31. August 1967. Ein Antrag auf Zwangsräumung vom 26. März 1968 blieb erfolglos, worauf das Ortsparlament am 27. Februar 1969 beschloss, zwar auf der Räumung zu bestehen, jedoch von sofort an eine jährliche Pacht von 150 Mark zu verlangen (S. 262).

Die Kommune überließ den Familien das Grundstück in Erbpacht, was wiederum Voraussetzung war für ein Darlehen der Württembergischen Landeskreditanstalt (Lakra) in Stuttgart für Kreuz über 55.000 Mark sowie 6000 Mark aus Bundessondermitteln, bekanntgegeben in der Ratssitzung am 15. Dezember 1967. In derselben Sitzung schmetterte der Gemeinderat den Versuch der Genossenschaftsbank Schützingen ab, sich für deren Verluste aus dem Grundstücksgeschäft Kusebauch an der Kommune schadlos zu halten und von ihr mehr als 10.000 Mark zu fordern. Mehr als die vertraglich vereinbarten 2252 Mark gibt es nicht, entschied der Rat (S. 195).

Als am 18. September 1970 im Gemeinderat ein Bauvorhaben des Kaspar Kreuz behandelt wurde, außerhalb Etters am Rennweg einen Schuppen und drei Garagen zu erstellen, gab es keine Einwände des Gemeinderats. Eine ganz neue Erfahrung für die Sinti-Familien.

Was in all den Jahren unterging: Das Problem war hausgemacht. Denn Kaspar Kreuz kaufte 1957 das Grundstück von einem Lienzinger. Beim Umzug anlässlich der Tage der Heimat 1958 wurde dies auf die Schippe genommen durch einen Zigeunerwagen. Initiiert von demjenigen, der den Verkauf an der B 35 für die Baracke erst möglich gemacht hatte.

Maria und Paul Kreuz 1944 im KZ Auschwitz ermordet

Freilich, das Thema sachlich aufzuarbeiten nach den Protokollen der Gemeinderatssitzung, somit Fakten an Fakten zu reihen, auch wenn die Ablehnung des Zuzugs der beiden Sinti-Familien durch Bürgermeister und Gemeinderat sowie durch einen Großteil der Einwohner mehr als deutlich wird – das ist die eine Seite. Die andere: menschenverachtende Kommentare aus der Runde der gewählten Bürgervertreter, selbst vom Schultes.  So als seien die Sinti und Roma nicht in Hitlers Konzentrationslager umgebracht worden. Zwei aus der Kreuz-Familie wurden in Auschwitz ermordet: Maria, geborene Breitenbach (Jahrgang 1908), Häftlingsnummer 10063, kam 1944 im KZ um genauso wie ihr Sohn Paul (Jahrgang 1934). In diese Familie gehörte auch Kaspar (Jahrgang 1925), der fünf Geschwister hatte (Quelle: Recherche-Ergebnis Familie Kreuz durch den Seminarkurs Stolpersteine des Theodor-Heuss-Gymnasiums Mühlacker 2009/10).

Und dann das – eine Auswahl von Zitaten, aus den Lienzinger Ratsprotokollen mit Datumsangaben. Für den Geist, der daraus spricht, muss man sich als Lienzinger schämen, auch wenn die Denkweise leider auch andernorts vorherrschte:

  • Man habe den Eindruck, dass die Gesetze nur noch zu Gunsten des herumstreifenden Gesindels und krimineller Elemente gemacht werden (GR, 10. September 1957)
  • Personen, die nur mit Nichtstun ihr Leben gestalten wollen, hätten auch in einem Rechtsstaat kein Recht, die Unterstützung des Staates zu beanspruchen. Man könne nicht von einer Gemeinde verlangen, dass sie einfach Dahergelaufene aufnehme (GR, 5. September 1958, 22. Juli 1966))
  • Zigeuner Kreuz / Kaspar Kreuz – Zigeunersippe (GR, 16. Juni 1959, 4. Juni 1965))
  • Dabei muss vor allem das Ziel der Gemeindeverwaltung erreicht werden, die Zigeunerfamilie aus dem Ort wegzubringen (GR, 30. August 1960).

Eine rein baurechtliche Frage indessen war die Entwicklung des Wohnplatzes zwischen Rennweg und Schmiebach. Der von der Gemeinde Lienzingen mit Kaspar Kreuz 1967 auf 99 Jahre abgeschlossene Erbbauvertrag erlaubte den Bau eines Zwei-Familien-Wohnhauses mit Nebengebäude. Die Klein-Siedlung gehörte zu den ungeliebten Fällen, die die Stadt Mühlacker mit der Eingemeindung von Lienzingen am 5. Juli 1975 erbte. Nachdem 16 Personen dort wohnten, konnte sie sich 1994 dem Wunsch nach einem südlichen Anbau nicht entziehen – doch aufgrund der Forderung der Kommune nach einer gleichzeitigen baurechtlichen Neuordnung, somit dem Abbruch im Laufe der Jahre entstandener, nicht genehmigter Nebengebäude wie Lager, Ställe und Pferdekoppeln wurde der Bauantrag zurückgezogen. Umstritten war auch das Gewerbe mit Autohandel, erlaubt Schrotthandel in kleinerem Umfang. Der Streit um die Bautätigkeiten im Umfeld von Rennweg 34 landete 2015 vor dem Verwaltungsgericht, das die Klage gegen die Stadt Mühlacker 2017 abwies.

Von Pfarrer Gerhard Schwab fotografiert: Jakob Kreuz (links) und Rolf Rommel.

Baurecht ist die eine Seite, Menschlichkeit die andere. Sie hätten die Ablehnung im Dorf als schmerzhaft empfunden, sagten im Rückblick die beiden Töchter von Kaspar Kreuz, von denen eine inzwischen in Lomersheim, die andere in Maulbronn wohnt, in einem Gespräch mit dem Autor. Doch drei Lienzinger Bauersfamilien hätten sie freundlich behandelt und unterstützt: Heinzmann, Stahl und Bolay. Sie spüren, dass Reste von Ressentiments bei manchen auch heute noch vorhanden seien. Ein Sohn zog ins Dorf, wohnte mit seiner Familie in einem Haus an der Bädergasse. Integration auf Lienzinger Art.

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