Wolf im Schafspelz: Die Lienzinger mochten ihn - Der Fall Hermann Oppenländer

Aufstellen zum Umzug beim Kinderfest anlässlich der Heimattage Lienzingen Anfang Juli 1958 mt Lehrer Hermann Oppenländer (helle Kopfbedeckung). Foto: Smlg. Roland Straub

Als Erst- und Zweitklässler hatten wir in der Volksschule Lienzingen einen Lehrer, den wohl alle mochten: Hermann Oppenländer. Nicht nur wir Sieben- oder Achtjährige erlebten ihn als freundlich, gingen gerne zu ihm in den Unterricht. Selbst bei der Aufsicht  in der großen Pause auf der Straße vor der Schule, bei  der sich die Mädchen und Jungen austobten, behielt er die Ruhe, wenn ein Auto oder ein Fuhrwerk diesen ungewöhnlichen Pausenhof passieren wollte. Denn unsere Schule an der heutigen Kirchenburggasse fehlte ein eigenes Pausengelände. Ein hochgewachsen, leicht beleibter, jovialer Mensch vom Typ Familienvater. Der 56-Jährige wohnte in der Bannholz-Siedlung in Mühlacker. Sein Auto – ich meine, ein DKW – parkte er während des Unterrichts im Hof schräg gegenüber vor einer Scheune.


Lienzinger Geschichte(n) mit einem Beitrag über Hermann Oppenländer, der von 1956 bis 1959 dritter von drei Lehrern an der Volksschule in Lienzingen war. Auf einer Stelle, die das Obeschulamt 1955 streichen wollte, wogegen sich der Lienzinger Gemeinderat heftig und letztlich erfolgreich wehrte. Wegen seiner NS-Vergangenheit entwickelte sich Oppenländer zu einem Fall der Landespolitik. Somit reicht der Beitrag zur Blog-Serie über unser Dorf hinaus - ein beklemmendes Stück auch lokaler Nachkriegsgeschichte


Doch von einem Tag auf den anderen blieb Hermann Oppenländer weg. Wir konnten uns keinen Reim darauf machen, weshalb er fortan die Volksschule in Lienzingen meiden werde. Keiner sagte zunächst, offen und ehrlich, was Sache ist. Aber die Fakten hätten wir wohl in diesem Alter in der ganzen Dimension nicht voll begriffen. Heute noch gilt der Vorgang bei jenen, die sich erinnern können, als rätselhaft. Dabei gab Oppenländer eigentlich keine Rätsel auf all jenen, die sich informieren wollten. Der Lehrer trug eine schwere persönliche Last: Er war vor 1945 eine regionale Nazi-Größe mit nun allen für ihn zurecht beschwerlichen Folgen, die er aber partout nicht akzeptieren wollte. Er sah sich ohne persönliche Schuld.

  • Dienstunfähig nach Nervenzusammenbruch 

Er sei krank und werde auch nicht wieder kommen. So kurz und bündig die dann doch offizielle Absage eines weiteren Gastspiels ihres Kollegen durch die beiden verbliebenen Lehrer, Wilhelm Wagner und Karl Kießling. Diese Botschaft haftet heute noch in meinem Gedächtnis. Jedoch hält sich hartnäckig das Gerücht, Oppenländer (Jahrgang 1900) sei während des Unterrichts in der Klasse verhaftet worden wegen nicht näher benannter Straftaten zu Zeiten der Nazi-Diktatur. Die Wahrheit: Er erlitt im Herbst 1959 durch den Stress um seine Person einen Nervenzusammenbruch. Sein Mühlacker Hausarzt  schrieb ihn daraufhin dienstunfähig. Da aber war zumindest für ihn klar, dass seine Zeit an der Lienzinger Schule endgültig abgelaufen war. Denn er wusste um die Strippen, die andere wegen seiner Arbeitsstelle an der Lienzinger Bildungseinrichtung zogen: Der Fall Oppenländer drohte zum Zündstoff für die baden-württembergische Landespolitik zu werden. Zwei Minister waren bereits damit befasst: der für Justiz und sein Kollege vom Kultusbereich.

  • Kultusministerium auf Schadensbegrenzung aus

All das wussten wir Lienzinger Erst- und Zweitklässler nicht. Kinder, denen die Verbrechen in der Nazi-Zeit noch wenig sagten. Und wohl die wenigsten Eltern lasen seinerzeit eine der Stuttgarter Tageszeitungen, in denen der Fall schon seit einigen Monaten des Jahres 1959 für Aufregung sorgte – der Fall des Hermann Oppenländer aus Mühlacker, aufgewachsen in Dürrmenz, ehemaliger hauptamtlicher NSDAP-Kreisleiter in Schwäbisch Gmünd, von der Spruchkammer als Hauptbelasteter eingestuft, zwölf Jahre Zuchthausstrafe (von denen er nur drei Jahre abzusitzen hatte), weil er mit einem anderen Verantwortlichen einen Tag vor dem Einmarsch der US-Truppen in Gmünd zwei Männer erschießen ließ, da sie auf der Straße lautstark  – und betrunken – Parolen gegen Hitler schrieen. Und jener Oppenländer unterrichtete nun wieder - wie ein Wolf im Schafspelz - Kinder wie vor 1937, diesmal an der Volksschule Lienzingen. Das rief Widerspruch hervor. Nicht in Lienzingen. Doch es sprach sich bis nach Stuttgart herum und drohte, hohe Wellen zu schlagen. Schadensbegrenzung lautete das Ziel der Schulbehörden bis hinauf ins Ministerium. 

  • Heimatfest Juli 1958: Der Lehrer lief als Begleiter beim Umzug mit 
Hermann Oppenländer (rechts) auch beim Umzug 1958. Foto; Smlg. Roland Straub

Offen bleibt im Rückblick für mich, was Eltern und Kollegen im Dorf von der Oppenländer-Welt wussten. Uns Schulanfängern war das Thema noch weitgehend unbekannt. Einzig das Gerücht, da sei etwas im „Dritten Reich“ mit Oppenländer vorgefallen, waberte durch den Ort.  So blieb es zunächst – und Oppenländer versank allmählich in der Vergessenheit. Er hatte nur drei Jahre an der Lienzinger Schule unterrichtet. Sein Name taucht jedoch sporadisch auf vor allem bei jenen, die bei ihm – wie ich - die Schulbank drückten. So bei einem Fotonachmittag in der vollbesetzten Gemeindehalle des Ortes am 6. Januar 2016 und damit zu Beginn des Jubiläumsjahres 1250 Jahre Lienzingen. Dabei zeigte der örtliche Historien-Mann Roland Straub – auch einer der Schüler von Oppenländer - vor mehr als 300 Besuchern alte Aufnahmen vom Leben früher im heute 2100 Einwohner zählenden Ort, seit 1975 Stadtteil von Mühlacker. Darunter Fotos vom Kinderumzug beim Heimatfest Anfang Juli 1958 mit Hermann Oppenländer, wie er neben Schülergruppen lief. Oppenländer sei, so Straub, im Klassenzimmer festgenommen worden, als gerade die Zweitklässler unterrichtet habe. Wir waren schockiert. Danach haben wir ihn nicht mehr gesehen. Doch: Die Aktenlage spricht nicht dafür. Auch in der Personalakte beim Oberschulamt Nordwürttemberg steht nichts von einer Verhaftung.

Was wussten die Lienzinger über Oppenländer? Angeblich nicht viel oder sie redeten nicht gerne darüber. Doch der gelernte Lehrer, geboren in Mühlacker als Sohn eines Lokomotivführers aus Dürrmenz, war von 1934 bis 1937 nebenamtlich Chef der NSDAP im damaligen Kreis Vaihingen. Und die Rolle des Kreisleiters spielte er sicherlich nicht im Geheimen. Wer was wusste, nicht wusste oder nicht wissen wollte? Fragen blieben bis jetzt ohne Antworten.

Kirchenburggasse als Pausenhof bis 1960, aufgenommen 1927. (Quelle: Stadtarchiv Mühlacker=STAM, Smlg. Roland Straub)
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Lehrstück für Politiker und andere Menschen

Bahnfahren fördert das Bücherlesen. Tägliches Bahnfahren lässt die Zahl der gelesenen Bücher schneller steigen als beim täglichen Autofahren. Da werden Bände in die Hände genommen, die seit Jahren im Bücherschrank stehen. Bis dato ungelesen. Zum Beispiel:

Helmut Schmidt, "Außer Dienst", eine Bilanz, erschienen 2008 zum 90. Geburtstag des ehemaligen Bundeskanzlers, Siedler-Verlag. 350 Seiten. 22,95 Euro. ISBN 978-3-88680-863-2:

"Eine Pflichtlektüre für den Wähler" schreibt die Berliner Morgenpost. Der Kölner Stadt-Anzeiger nennt es ein "Lehrstück für Politiker und andere Menschen". Beides trifft's. Da ist der SPD-Politiker, der seine Erfahrungen als Kanzler, Minister und Bundestagsabgeordneter bündelt mit der eines Moralisten nach der aktiven Zeit eines Politikers als Herausgeber der "Zeit". Helmut Schmidt zählt zu den großen Figuren der deutschen Politik, über die Parteigrenzen hinweg verkörperte er für viele Deutsche den idealen Staatsmann schlechthin. Er beschäftigt sich in dieser Bilanz vor allem mit der Nachkriegsgeschichte, eher erzählend und nicht irgendwelche Jahreszahlen aneinander reihend. Spannend geschrieben. Eingestreut sind höchst private Reflexionen und Bekenntnisse zum Beispiel über sein Verhältnis zur Religion. Helmut Schmidts Bilanz ist - da hat der Verlag in seinem Waschzettel recht - ein lebendiges Buch voller Gedanken und Erinnerungen, sorgfältiger Analysen und kleiner Anekdoten. Es ist auch ein Ratgeber, so wenn er jungen Menschen rät, die in die Politik gehen wollen, zuerst einen ordentlichen Beruf zu erlernen und auch auszuüben, um jederzeit zurückkehren zu können, denn dies bewahre ihnen ihre Unabhängigkeit. Es mag als eine Petitesse erscheinen, wenn er Abgeordneten mit auf den Weg gibt, sich nicht nur in der englischen, sondern auch in der französischen Sprache auszukennen - um den Blick von außen auf Deutschland zu erleichtern. Wichtiger ist aber dies: "Er (der Abgeordnete) soll die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes verinnerlicht haben und das übrige in seinen Grundzügen kennen." Schmidt beklagt den Mangel an Kenntnissen über volkswirtschaftliche Zusammenhänge bei Politikern. Zweimal innerhalb des 20. Jahrhunderts hätten die Deutschen eine weltpolitische Führungsrolle angestrebt, beide Male seien sie damit jämmerlich gescheitert. Er empfiehlt, sich auf Europa zu beschränken, auf das Gelingen der europäischen Einigung zu achten, auf das gute Verhältnis zu unseren Nachbarstaaten, aber die Finger wegzulassen von militärischen Einsätzen auch außerhalb Europas - höchst aktuelle Gedanken angesichts des Engagements deutscher Soldaten in  Syrien, Afghanistan und Mali. ("Lasst uns die sorgsame Pflege guter Nachbarschaft wichtiger sein als jede Beteiligung an fremden Konflikten in anderen Kontinenten.") Bei aller Freundschaft zu den USA (und er hat das Land häufig besucht, verrät auch eine Zuneigung zu ihm), bewahrte er sich eine kritische Distanz. Offen schreibt er, was manche schon vermutet haben: "Manchmal wird einer sogar Minister, damit er nichts Besonderes zustande bringt." Wichtig war Schmidt die Tolernz zwischen den Weltregionen, er wirbt für den Kompromiss als Voraussetzung für den Frieden, zieht das Fazit: Wer zum Kompromiss nicht fähig ist, hat in der Politik nichts zu suchen. der jüngst verstorbene Ex-Kanzler sieht die Verantwortung beim Politiker, mahnt Vernunft an - eine Tugend genauso wie die  der inneren Gelassenheit. Im Zweifel soll ihnen das Gemeinwohl höher stehen als ihre Karriere, der Erfolg des Ganzen höher als ihr eigener oder der Erfolg ihrer Partei. "Für mich bleibt das Gewissen die oberste Instanz." 

Noch ein kleiner Nachsatz zu den Gedanken des Hamburgers Schmidt. Der Marbacher Stadtarchivar Albrecht Gühring schrieb kurz vor Weihnachten in der Beilage "Hie gut Württemberg" (Verlag Ungeheuer+Ulmer, Ludwigsburg), dass Helmut Schmidts Vorfahren aus Württemberg und auch aus dem Kreis Ludwigsburg stammen [Seite 29]. Der Ururgroßvater Schmidts war demnach der 1797 in Wüstenrot geborene Christian Heinrich Wenzel, der sich als Wurstmacher in Hamburg niederließ. Welche schwäbischen Tugenden bei dem Hanseaten Schmidt nachwirkten?
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In doppeltem Sinn Heimat

Heute Abend fand das erste Gemeindeforum der Evangelischen Kirchengemeinde Lienzingen als Teil der Visitation durch Dekan van Luijk statt. Ein interessanter Gesprächsabend, der drei Stunden dauerte. Zuerst stellten sich die verschiedenen Gruppen und Kreise vor, dann übernahmen die Leiterin der Grundschule Lienzingen, Helke Kaufmann-Krais, ein engagierter Katholik - Matthias Segiet - und ich als Stadtrat die Rolle der "Außenwahrnehmung". Diese Kirchengemeinde ist für mich in doppeltem Sinn Heimat: als jemand, der dieser Kirchengemeinde angehört, und als Lienzinger, für den diese Kirchengemeinde ein Herzstück des Dorfes ist. Die Präsentation der Gruppen und Kreise zeigte auch, wie vielfältig diese Kirchengemeinde geworden ist, auch wenn manche Sprecher sich noch mehr Mit-Macher wünschten. Schließlich konnten die Besucher im voll besetzten Evangelischen Gemeindehaus ihre Anregungen und Wünsche - als Merkposten für den Kirchengemeinderat - auf Karten festhalten. Es geht, wie es Pfarrer Karl Frank formuliert hat, durchaus um den weiteren Weg unserer Kirchengemeinde.

Die Auswertung des Abends erfolgt im Kirchengemeinderat und ist Teil der auf mehrere Monate anlegten Visitation. Erstmals war dafür die Öffentlichkeit gesucht worden.

Ich habe mir für das Gespräch die aktuelle Statistik bei der Stadtverwaltung besorgt. Auf Jahresende 2009 hatte Lienzingen 2128 Einwohner. Davon waren 1038 evangelisch, 432 katholisch. 658 haben gar keine oder eine sonstige Religion. Wir wissen um den hohen Anteil der Angehörigen des islamischen Glaubens, was uns zu einem verstärkten Dialog veranlassen sollte. Gerade das Zusammenleben in einer Gemeinde erfordert dies.


In den Bonner Querschnitten

Lange Jahre Augen verschlossen vor Integrationsproblemen - das war kürzlich Tenor eines Vortrags der Islamwissenschaftlerin Professor Dr. Christine Schirrmacher vom Institut für Islamfragen der Deutschen Evangelischen Allianz in einer Veranstaltung der Blumhardt-Schule in Mühlacker-Lomersheim. Mein Beitrag dazu hier im Blog findet sich jetzt in den Bonner Querschnitten des Martin Bucer Seminars als Ausgabe 131.

Hinweis für alle, die sich über Integrationsfragen vertieft informieren wollen.

Von den wahren Plagen oder Die Medienbotschaft des Papstes

Ein ganz anderes Thema in diesem Beitrag: Medien - genauer die Medienbotschaft von Papst Benedikt XVI. "Man muß vermeiden, dass die Medien das Sprachrohr des wirtschaftlichen Materialismus und des ethischen Relativismus werden, wahre Plagen unserer Zeit", schreibt der Heilige Vater. Doch in Deutschland ging diese Botschaft weitgehend unter. Darüber beklagt sich Pater Eberhard v. Gemmingen in seinem Kommentar zur Woche. Lesenswerte Texte.
"Die neuen Medien, insbesondere Telefon und Internet, sind dabei, die Kommunikationsformen selbst zu modifizieren; vielleicht ist dies eine gute Gelegenheit, sie neu zu gestalten, um – wie es mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. sagte – die wesentlichen und unverzichtbaren Züge der Wahrheit über den Menschen besser sichtbar zu machen", heißt es in der Botschaft des Pontifex. Im Zeitalter der Globalisierung seien wir alle Mediennutzer und Medienschaffende in einem. Ob er an die Blogger-Welt gedacht hat?