Politisches Sittengemälde eines schwäbischen Dorfes in der NS-Zeit: Die wieder gewonnene Ehre des Karl B. aus L.

Lienzingen 1930 von Norden vom Spottenberg: Mit geschlossenem Scheunengürtel. Postkarte aus dem Nachlass Schneider (STAM)

Das Büschel 1056 mit der vorangestellten Signatur EL 902—23 hat es in sich: Unter dieser Nummer liegt im Staatsarchiv Ludwigsburg eine mehr als 100 Seite dicke Akte der Spruchkammer Vaihingen/Enz in Mühlacker, Uhlandbau. Sie selbst trägt das Aktenzeichen 48/20/633, ist so etwas wie das politische Sittengemälde eines schwäbischen Dorfes in der NS-Zeit. Lienzingen, Karl Brodbeck und das 1946 ersonnene System des frühen Täter-Opfer-Ausgleichs. Brodbeck, eine kleine lokale NS-Größe, der Schickle von der Schmie oder nur ein großer Opportunist, ein Angsthase gar? Einer, der darauf bedacht war, sich abzusichern und sich mit den Schurken nur soweit einließ, quasi als Mindeststandard, bis diese zufrieden sind? Vielleicht von allem ein bisschen. Rund zwei Jahre Suche nach Fakten, die be- oder entlasten.

Lienzinger Geschichte(n):   Letzter Teil der Serie-in-der Serie über den Lienzinger Bürgermeister Karl Brodbeck. Im Spruchkammer-Verfahren kein Beweis dafür, dass er als zeitweise gleichzeitiger NS-Ortsgruppenleiter von Lienzingen zwei Menschen ins KZ brachte (4/4)
In seinem Geburtsort Vellberg 1934: Lienzingens Bürgermeister Karl Brodbeck. Foto: Smlg. Kuno Brodbeck (Stadtarchiv Mühlacker STAM)

Der Grundsatz klingt gut: Sühne statt Strafe. Opfer des NS-Regimes für ihr erlittenes Unrecht entschädigen mit Geld, das vorher den Tätern abgenommen wird. Die Instrumente dazu zwischen 1946 und 1948 waren in der US-Zone die Spruchkammern. Ihre Basis: Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 mit der Absicht, die Entnazifizierung teilweise in deutsche Hände zu geben. Exemplarisch dargestellt an dem Verfahren gegen Karl Brodbeck, einst Bürgermeister und NS-Ortsgruppenleiter in Lienzingen.  Der Ertrag für den Wiedergutmachungstopf: 500 Reichsmark.

Der erste Augenschein sprach erst einmal gegen den alten Beamten, schreibt Konrad Dussel, Historiker und Autor des Bandes 8 der Geschichte der Stadt Mühlacker, 2016 zum 1250-Jahr-Jubiläum herausgegeben vom Stadtarchiv Mühlacker (STAM). Sein späteres Fazit: Die langwierige Bestandsaufnahme förderte eigentlich kein belastendes Material gegen Brodbeck zu Tage (Dussel, S. 181). Tatsächlich stufte ihn die Kammer in die unterste Stufe der Schuld ein.

Ganz im Gegensatz zu seinem früheren Kollegen Adolf Schickle, Bürgermeister und „Führer“ von Enzberg, wie ihn Dussel nennt. Zwar sah der Öffentliche Ankläger der Kammer, die ansonsten noch einen Vorsitzenden und Beisitzer hatte, in dem führenden Kopf des nationalsozialistischen Enzberg einen Hauptschuldigen, die Jury schwächte dies aber ab und entschied sich in ihrem Spruch für die  Bezeichnung Belasteter – weniger als der Hauptschuldige, mehr als der Minderbelastete. (Ortsbuch Enzberg, Band 4 der Schriftenreihe der Stadt Mühlacker. Verlag Regionalkultur. Erschienen 2000. S. 265 ff).

Mindestens ein Hobby hatten Karl Brodbeck und Adolf Schickle: Sie besuchten gemeinsam gerne das Dampfbad in Pforzheim.

Spruchkammer Kreis Vaihingen/Enz, Mühlacker, Uhlandbau (Repros: Landesarchiv, Staatsarchiv Ludwigsburg EL 902—23) 

Natürlich fühlten sich die Betroffenen zumeist bestraft und nicht versöhnt, wenn ein Teil ihres Vermögens eingezogen wurde - welchen Grades der persönlichen Schuld die Kammer auch immer sah. Eine Umverteilung vom Täter zum Opfer. Den Versöhnungsprozess beförderte es in einer kaum feststellbaren Größe.  Wer jetzt rund 70 Jahre nach dieser Zeit die Akten liest, wundert sich: Den einen war die Aufarbeitung der eventuellen persönlichen Schuld ein wichtiges Thema, andere wiederum nutzten diese gerichtsähnliche Einrichtung zum Anschwärzen ihnen unliebsamer Leute oder schlicht zum Waschen dreckiger Wäsche.  Persilscheine machten die Runde. Exemplarisch für die Aufarbeitung von Schuld und Sühne in der NS-Zeit hier der Papierstoß Nummer EL 902—23, öffentlich zugänglich im Staatsarchiv Ludwigsburg, Außenstelle des Landesarchives.

So begann seine Arbeit in Lienzingen: 1920. Insgesamt 25 Jahre  lang blöieb er an Ort und Stelle Rathaus-Chef. Von der Bewerbung von Karl Brodbeck angenehm berührt, waren Kreise der Bürgerschaft. Blumiger Vierzeiler mit Vorschusslorbeeren bei der ersten Bewerbung im November 1920 (Quelle: Bürgerfreund, Zeitung für das Oberamt Maulbronn, / STAM, Zeitungsausschnitt).

Just in der auf 15. Januar 1948 datierten Klageschrift wurde dem vormaligen Bürgermeister von Lienzingen vorgeworfen, sein bester Freund sei in jener Zeit der als Obernazi bekannte Kreispropagandaleiter Schickle von Enzberg gewesen. Der Öffentliche Kläger Fischer nannte Brodbeck auch deshalb einen überzeugten Anhänger der nationalsozialistischen Idee, weil seine Kinder entweder der Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) angehört hatten, eine Tochter gar den SA-Mann und Adjutanten des Gauleiters von Baden, Robert Wagner, ehelichte. Brodbeck wehrte sich bei seiner Anhörung vor der Spruchkammer im April 1948 gegen den Vergleich mit dem Schultes der größeren Gemeinde. Schickle war ein Kollege von mir. Er habe ihn bei Bürgermeisterversammlungen getroffen und mit ihm das Dampfbad in Pforzheim besucht. Über politische Angelegenheiten haben wir uns nicht unterhalten. Der Enzberger sei auch nur zwei oder dreimal in Lienzingen gewesen. Und zur Trauung von Charlotte Brodbeck mit dem SA-Angehörigen Hans Stanger meinte der Brautvater, standesamtlich sei das Paar im Rathaus von Lienzingen getraut worden. Eine hochoffizielle Parteihochzeit, wie der Öffentliche Kläger betonte. Dazu Brodbeck: Von mir aus hätte ich gerne eine kirchliche Trauung gewünscht, aber mein Schwiegersohn hat es nicht gewollt und meine Tochter war volljährig.

Die weiteren Vorwürfe auf den vier eng beschriebenen Seiten der Klageschrift: Der Schultes, seit 1939 gleichzeitig Ortsgruppenleiter der NSDAP,  habe im Führerprinzip in der Gemeinde ein gutes Werkzeug für seine Tätigkeit gesehen (so wie im Großen hatte nur einer zu befehlen), einen barschen Ton besonders bei links eingestellten Personen an den Tag gelegt, zudem alle Veranstaltungen der Partei in Uniform besucht, sich gleichzeitig aus der Kirche zurückgezogen.

Dr. Fritzmartin Ascher, Landrat in Waiblingen, zuvor 1945 bis 1947 Bürgermeister von Mühlacker. Als Jude erhielt der Gymnasiallehrer Berufsverbot durch die Nazis. Brief an Charlotte Stanger, geborene Brodbeck, verheiratet mit dem Adjutanten des NS-Gauleiters von Baden. 

Der entscheidende Vorwurf: Als Vertrauensmann der Staatssicherheit (SD) in Lienzingen seit 1938  brachte Brodbeck, so wurde in der Klageschrift (S. 2) behauptet, Menschen aus Lienzingen und Zaisersweiher ins KZ oder leistete Beihilfe dazu -  so sei im März 1933 von sechs Beamten der  Kommunist Richard Bertis aus der Herzenbühlgasse verhaftet und auf den Heuberg geschafft worden. Ein Schicksal, das 1937 Paul Bopp erfasste, der ins KZ Welzheim eingeliefert wurde. Zudem habe einem Lienzinger Landwirt die Verhaftung durch die Gestapo gedroht aufgrund einer falschen Aussage des Bürgermeisters. Die Vorwürfe gegen den Schultes belegten einen breiten Platz in der schriftlichen Klage, wohingegen die Contra-Punkte von Brodbeck gerade mal auf eine Viertel Seite passten.

So wird Brodbeck mit der Aussage zitiert, die Geschäfte der Ortsgruppe der NSDAP habe er nur nebenbei geführt, er sei damit beauftragt worden. Das Amt des Bürgermeisters sei von ihm genau so wie vorher ausgeübt worden. Er ging nachträglich auch auf Distanz: Mit der von der Partei vertretenen Weltanschauung sei er innerlich nie einverstanden gewesen. Dafür spreche auch sein gutes Verhältnis zu Pfarrer und Kirchengemeinde, zudem sei er seit 1920 nebenamtlich Pfarrgutsaufseher und somit für den Evangelischen Oberkirchenrat in Württemberg tätig – er kümmerte sich um die Abrechnung von Pacht-,  Zins- und Holzgeldern aus dem Besitz der Landeskirche.  Schließlich nahm er für sich in Anspruch, die in Lienzingen tätig gewesenen ausländischen Arbeiter gut behandelt zu haben.

Brodbeck 1920: sein Wahlprogramm

Weshalb er 1939 Vertrauensmann des SD für Lienzingen wurde? Sein Vaihinger Kollege Karl Schmid - in den letzten Kriegstagen Bürgermeister in Mühlacker - habe ihn darum gebeten, damit sei nur die Aufgabe verbunden gewesen, die Lebensmittel in der 670 Einwohner zählenden Gemeinde zu verteilen, antwortete Brodbeck bei der Verhandlung am 26. April 1948 vor der im Rathaus Mühlacker tagenden Spruchkammer. Er habe den als Nazi-Kritiker geltenden Paul Bopp nicht überwacht und auch keine Kartei über gegnerische Einwohner geführt. Brodbeck verneinte die Frage, ob es stimme, dass er beim Eintritt am 1. Mai 1933 der erste Parteigenosse in Lienzingen gewesen sei. Damals habe die NSDAP im Ort zehn Mitglieder gehabt, er sei somit auch nicht Gründer des Stützpunktes Lienzingen gewesen, entgegnete er. In der zwölfseitigen Klageerwiderung nennt aber sein Rechtsbeistand 50 bis 55 Mitglieder im Dorf und stützt sich auf Angaben des Zeugen Eugen Bonnet. Brodbeck habe nichts dazu beigetragen, diese Zahl zu erhöhen.

Wilhelm Geigers Flugblatt-Erlebnis blieb - außer einem nächtlichen Verhör - ohne Folgen

Die von ihm selbst am 15. November 1945 nach Aufforderung gefertigte Liste seiner Funktionen im NS-Netzwerk mochte für die Vorwürfe des Öffentlichen Klägers sprechen. Ein Bild entsteht dadurch von einem Kommunalbeamten, der sich auf die Seite der Nazis schlug, als diese die Macht in Deutschland übernahmen. Natürlich alles nur im Interesse seiner Gemeinde, wie der Betroffene behauptete. Der braunen Mosaiksteine waren viele:  Am 1. Mai 1933 NSDAP-Beitritt, 1933/34 Kassenleiter und stellvertretender Ortsgruppenleiter, danach bis zum bitteren Ende 1945 Ortsgruppenleiter der Partei, seit 1939 Lienzinger Verbindungsmann zum Sicherheitsdienst der SS, Mitglied oder Funktionen bei der Volkswohlfahrt (NSV), Vertrauensmann des Reichsbundes der Deutschen Beamten, NS-Reichsbund für Leibesübungen, NS-Reichskriegerbund, Reichsluftschutzbund, ausgezeichnet mit der NSV-Medaille für Volkspflege, der Luftschutzmedaille. von August 1944 bis Kriegsende Hauptfeldwebel beim Volkssturm, dort Schreibarbeiten erledigt, aber letztlich – so seine ausdrückliche Angabe – kein einziger Einsatz. Dies erklärte auch M. Spiecker 1948 eidesstattlich. Brodbeck habe die Einziehung der Volkssturm-Männer (Jahrgang 1900 und jünger) nicht veranlasst, sie hätten den Stellungsbefehl zur Wehrmacht in Tübingen über die NS-Kreisleitung erhalten, so der Zeuge.

Pflicht war es eben auch für den früheren Schultheiß, den Meldebogen aufgrund des Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom März 1946 auszufüllen - als Start des Spruchkammerverfahrens. Die dabei gewonnenen Daten und Notizen sollten Aufschluss geben über das Umfeld, seine politischen Präferenzen vor Hitlers Machtergreifung. Brodbecks Meldebogen trägt das Datum vom 10. Dezember 1947. Er notierte, bei der Novemberwahl 1932 für die Deutsche Volkspartei, also die Nationalliberalen, gestimmt zu haben, bei der Reichstagswahl im März 1933 für die Nazis.

Die Familie Knopf 1927. Zweiter von links Otto Knopf, seinerzeit Gemeinderat und 1945 unmittelbarer Nachfolger von Karl Brodbeck als Bürgermeister von Lienzingen. Die Franzosen hatten Knopf, von Beruf Töpfer, eingesetzt. Als im Juli 1945 die Amerikaner die Kommune übernahmen, wechselten sie ihn gegen Jakob Straub aus (Smlg STAM).

Ein weiterer Teil des Fragebogens: Lebenslauf und Angaben zur Person (1,67 Meter groß, 126 Kilo schwer, grau-melierte Haare, blaue Augen). 1886 im hohenlohischen Vellberg geboren, evangelisch, Volksschule in Creglingen und  Alfdorf, Ausbildung zum mittleren gehobenen Verwaltungsdienst (Prüfung 1908 bestanden). Bürgermeister seit 1913 (zuerst in Schützingen, von 1920 bis 1945 in Lienzingen, gleichzeitig von 1932 bis 1937 in Zaisersweiher), von 1913 bis 1945 nebenamtlich Leiter der Zweigstelle der Kreissparkasse Maulbronn/Vaihingen in Lienzingen (Ortssparpfleger). Soldat im Ersten Weltkrieg (EK II 1918), 1934 Frontkämpferehrenzeichen. 1922 baute er in Lienzingen sein Haus (Nr. 162) an der Hauptstraße. Ihm gehörten zudem 1,14 Hektar Ackerland und Wiesen, erstanden zwischen 1914 und 1936.

Paul Bopp, der im August 1947 über sich selbst schrieb, schon vor 1933 als Gegner von NS und Faschismus bekannt gewesen zu sein, suchte Karl Brodbeck im Februar 1947 im Internierungslager 72 in Ludwigsburg (ehemals Frommann-Kaserne) auf. Bopp, inzwischen Beisitzer in der Spruchkammer Vaihingen/Enz, ließ in dem Brief vom August 1947 seinem Ärger über den früheren Schultes freien Lauf. Er sah in ihm den lokalen Handlanger der Nazis, machte ihn mit verantwortlich für seine Verhaftung durch die Gestapo im Bürgersaal des Rathauses, worauf er acht Monate lang im württembergischen KZ-Lager Welzheim festgehalten worden war. Bopp räumte zwar ein, der Bürgermeister sei zu jener Zeit krankheitsbedingt nicht im Dienst gewesen und damit auch an selbigem Tag nicht im Rathaus, aber anwesend gewesen sei eine seiner Töchter als bei der Gemeinde angestellte Schreibkraft. Bopp warf Brodbeck vor, nach der Entlassung aus dem Lager die Gestapo mit Nachrichten über ihn versorgt zu haben. Das Gespräch zwischen dem ehemaligen KPD-Mitglied Bopp und dem zumindest nominellen NS-Anhänger an dem Februartag im Jahr 1947 verlief wohl alles andere als freundlich. Brodbeck lüge, handle nach dem Motto: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.

Nazi-Gegner Friedrich Münch, Fabrikant in Mühlacker und Lienzinger Jagdpächter, mit einem Schreiben für Brodbeck

In den Fall Bopp bringt wenigstens teilweise Aufhellung der am 26. Februar 1947 gefällte Kammer-Spruch in der Sache Albert Bäzner: Schlosser, vier Kinder, NSDAP-Mitglied von 1939 an, bei der SA von 1934 bis 1939, Rottenführer. In diesem Parallel-Verfahren zu dem von Brodbeck sollte untersucht werden, ob Bäzner im März 1937 nach einer politischen Wirtshausdebatte – im Adler (heute Gebäude Bäckerei Schmid im ersten Stock) – den Kommunisten Bopp denunziert hat.  Der Streitpunkt: Das Aus für die so genannte Amerikaner-Rebe. Tatsächlich, so die Aussagen der Zeugen, hatte den Krach im Gasthaus jemand, wohl noch am selben Abend, dem NS-Stützpunktleiter verraten, so dass anderntags die Polizei den Schlosser und Familienvater verhörte. Letztlich konnte im Verfahren zehn Jahre später nicht geklärt werden, wer Bopp anschwärzte. Drei Zeugen gingen so weit zu behaupten, dem Schultheißen könne in keiner Weise eine Aktivität für den NS nachgesagt werden, zumal er sich in starkem Gegensatz zu den politischen Machenschaften des Stützpunktleiters gestanden habe. Selbst der Öffentliche Ankläger räumte ein, die zuvor erfolgte Beweisaufnahme habe den Fall Bäzner in einem anderen Licht erscheinen lassen, wie es in der Klageschrift angegeben sei.  Der Adler-Streit sei eine ziemlich blaue Angelegenheit gewesen.

Hybride bedeutet übersetzt aus zweierlei Herkunft oder durch Mischung entstanden. Im Rebbau sind Hybriden Kreuzungen europäischer Vitis vinifera-Arten mit amerikanischen Vitisarten (meist Vitis labrusca). Deshalb: Der Streit um die bei den Nazis unbeliebten so genannten Amerikaner-Reben an einem Sonntag im Jahr 1937 im Lienzinger Gasthaus Adler. Mit schlimmen Folgen.

Entscheidend für die Verfahrenseinstellung war demnach die Aussage von Heinrich Eitel, späterer Bürgermeister in Lomersheim, Bäzner habe sich geweigert, den Schulungsbrief der Partei mitzunehmen und zum Ortsgruppenleiter gesagt, sich für die Partei nicht zum Hampelmann machen zu lassen. Des Anklägers Fazit: Zwar stehe fest, dass Bopp wegen der Auseinandersetzung bei Bier und Wein über die Amerikaner-Rebe ins KZ eingeliefert worden sei. Es waren aber noch mehrere Männer im Gasthaus anwesend, die dies gemeldet haben konnten. Wer der Denunziant war, blieb offen. Die Spruchkammer nutzte die wenige Tage zuvor in Kraft getretene Weihnachtsamnestie und stellte das Verfahren gegen den einstigen Rottenführer nach der zweieinhalbstündigen Verhandlung im Mühlacker Rathaus ein. Insgesamt waren sechs Zeugen gehört worden: der Fabrikant Friedrich Münch, Gotthold Scheck, Paul Bopp, Karl Straub und Heinrich Eitel.

Letztlich war es Eitel, der durch ein Entlastungszeugnis den Anschein zerstörte, Brodbeck habe Bopp, wie auch immer, ins KZ gebracht. In einem Brief vom 25. Januar 1945 schrieb der damalige Schüler an der höheren Verwaltungsschule des Innenministeriums in Stuttgart, der Bürgermeister sei wegen eines gesundheitlichen Leidens wenig auf dem Rathaus gewesen, so dass der gesamte Geschäftsbetrieb auf ihm, Eitel, geruht habe. Der Mühlhäuser, 1937 bis 1938 Parteianwärter, war von Oktober 1936 bis Januar 1938 Verwaltungsgehilfe bei Brodbeck, eingesetzt sowohl in Lienzingen als auch in Zaisersweiher. Und als er an bewusstem Tag abends aus Zaisersweiher zurückkam, habe ihm die Schreibgehilfin Brodbeck berichtet, dass die Landjäger nach mehrstündigem Verhör im unteren Rathaussaal jemand namens Bopp verhaftet hätten.

Der Auslöser: Die Entfernung von Hybriden-Reben und damit verbundene Äußerungen gegen die Partei. Anzeige sei nicht beim Bürgermeisteramt gestellt worden. Diesbezügliche Akten seien ihm nie unter die Finger gekommen. Brodbeck sei in jenen Tagen krank gewesen, was auch der seinerzeitige stellvertretende Amtsbote Albert Bäzner bescheinigte. Offenbar wurde dem Schultes der Vorgang auch nicht gemeldet.

Der Bürgermeister hatte Eitel, wie dieser angab, vor dem Ortsgruppenleiter der Partei gewarnt und sich abfällig über diesen geäußert. Das war Hauptlehrer Erwin Kaiser, 1936 als Stützpunktleiter eingesetzt. Er hatte sich nach Kriegsbeginn zur Front gemeldet und fiel 1942 in Russland. Seine NS-Funktion in Lienzingen übernahm 1939 Brodbeck.

Die Wahl im November 1920. Der einzige Bewerber, die Zustimmung war groß. Brodbecks Turbulenzen begannen erst nach 1933. (Bürgerfreund, Maulbronn)

Überraschend machte Paul Bopp in einem handschriftlichen Brief vom 23. Mai 1948 an den Vorsitzenden der Spruchkammer einen Rückzieher, der auch keiner war. Er halte seine gemachten Angaben zwar aufrecht, doch er wolle nicht als Zeuge auftreten. Wenn er dies aber trotzdem müsse, sei er unter Umständen entschlossen, seine gegen Brodbeck erhobene Auskunft zurückzuziehen. Der Grund war offensichtlich seine dem Text zu entnehmende Unzufriedenheit mit den Urteilen der Spruchkammern in Württemberg-Baden und darüber hinaus. Bopp, selbst Beisitzer einer Spruchkammer, behauptete, politische Gegner und Antifaschisten, die den Kampf gegen den Hitlerismus selbst in offener Form geführt hätten, würden durch die gesamte Verteidigung vor der Kammer abgeschossen. Er schrieb von einem traurigen Spiel, die Kammern arbeiteten auf der Basis eines politischen Gesetzes, es sei keine formaljuristische Angelegenheit.

Doch dann sagte Bopp aus. Der Mechaniker offerierte allerdings zunächst eine andere Darstellung über die Folgen des sonntäglichen Wirtshausstreites. Am Abend des nächsten Tages hätten ihn daheim zwei Gendarmen verhaftet, er sei zwei oder drei Wochen lang in Maulbronn in Haft gewesen, dann von der Gestapo nach Stuttgart , anschließend nach Welzheim gebracht worden. Auf Vorhalten des Kammervorsitzenden, so weiter im Protokoll der Verhandlung am 28. April 1948, sagte Bopp, er sei aufs Lienzinger Rathaus geführt und dort verhört worden. Nach der Rückkehr aus dem KZ habe sich Brodbeck nicht reumütig gezeigt, als eifriger Verfechter des NS habe er von ihm keine Notiz genommen. Wiederum Ortsgruppenleiter Kaiser habe ihm gegenüber erklärt, an der Sache nicht beteiligt gewesen zu sein. Ihm tue die Sache leid, er sei am Tag der Verhaftung von Bopp auf einem Kurs gewesen, so Bopp weiter.  Dem widersprach der Rechtsbeistand Brodbecks: Kaiser sei sehr wohl in Lienzingen gewesen und belegte dies mit dem Gruppenfoto der Konfirmanden, auf dem Kaiser zu sehen sei. Das Amtsgericht Maulbronn habe Bopp in Schutzhaft genommen.

Der Plan zum Bau des Lienzinger Milchhäusles bei der Kelter. Die Genossenschaft setzte auf saubere Ware. Als angelieferte Milch einmal verunreinigt war, ermittelte die Gestapo. (STAL_FL_20-18_II_Bue_247_28)

Elf Jahre später tat sich die Spruchkammer schwer mit der Wahrheitsfindung. Immerhin herrschte in einem Punkt Klarheit: Alle sprachen eifrig dem Alkohol zu. Das bestätigte der Zeuge Karl Straub vor der Kammer am 28. April 1948: Getrunken haben wir alle.  Offenbar hatte ein Weinhändler einige Flaschen Wein auftragen lassen. Für manche war es an diesem Konfirmationstag wohl nicht der erste Schluck Alkohol. Über das politische Verhalten des Bürgermeisters könne er, Karl Straub, nichts sagen. Ich war im Krieg und es ist schon lange her, zudem hatte ich noch andere Sorgen.  Er habe ihn für einen gemäßigten Nationalsozialisten gehalten.

Und wer brachte den in Memel 1893 geborenen Kommunisten Richard Bertis auf den Heuberg? Der Werkmeister starb an den Folgen dieser KZ-Haft im Oktober 1933. Seine Schwägerin Emilie Gorgus (1888 in Lienzingen geboren) sagte im Dezember 1947 aus, sie habe den Eindruck, durch Schuld des damaligen Bürgermeisters Brodbeck sei Richard in Schutzhaft genommen worden. Sie stützte sich auf einen Vorgang im Juni 1945. Da seien sie und die Tochter ihres Schwagers ins Lienzinger Rathaus bestellt worden. Dort habe ihr dies ein Kommissar Müller aus Mühlacker anhand eines Schriftstückes eröffnet. In der Nacht vom 9. auf 10. März 1933 sei ihr Schwager, der mit seiner Familie im selben Haus – Herzenbühlgasse 4 – gewohnt habe, von einem fünfköpfigen Gendarmerie-Aufgebot unter Hinzuziehung des 1937 verstorbenen Ortspolizisten Bäzner (alt) verhaftet worden. Nachträglich erfuhr sie, dass ihr Schwager von Vaihingen/Enz auf den Heuberg gebracht wurde. Ende Juni 1933 sei er dann nach Hause beurlaubt worden, um seine familiären Angelegenheiten zu regeln. Er litt an den Folgen des KZ-Lagers, musste im Tübinger Krankenhaus behandelt werden wegen angeblicher Lymphdrüsen-Entzündung, starb daheim am 25. Oktober 1933.

Eine Schilderung, ähnlich der des damaligen evangelischen Pfarrers von Lienzingen, Wilhelm Kriech, der Bertis wohl öfters besuchte und diese Erfahrung später als einer der Gründe nannte, die ihn veranlasst hätten, nach zwei Jahren Mitgliedschaft der NSDAP 1935 den Rücken zu kehren – aus bitterer Enttäuschung über die Nazis und ihre Politik.

Brodbeck sagte bei seiner Anhörung vor der Spruchkammer im April 1948 aus, er habe dies erst nachher, aber noch am selben Tag vom Amtsdiener erfahren mit dem Hinweis, es seien noch mehrere im Kreis Vaihingen verhaftet worden. Brodbecks Rechtsbeistand behauptete bei der Verhandlung im April 1948, Bertis hätte sich ausdrücklich damals bei dem Bürgermeister bedankt. Denn während dessen Haftzeit habe Brodbeck sich mehrmals bei der Frau erkundigt, ob sie Hilfe benötige.

Der Meldebogen, Selbstauskunft der Betroffenen.

Persilscheine nannten die Leute die Papiere, die die Beschuldigten den Spruchkammern vorlegten, um sich zu entlasten. Brodbecks Fürsprecher waren zahlreich:

Gerhard Schwab, von 1945 bis 1977 evangelischer Ortsgeistlicher in Lienzingen, Nachfolger seines gefallenen Schwagers Helmut Baumann, der 1935 die Pfarrstelle angetreten hatte: Karl Brodbeck und seine Familie gehörten ununterbrochen der Evangelischen Landeskirche an, Brodbeck habe an den öffentlichen Veranstaltungen der Kirche regelmäßig teilgenommen. Sein gefallener Schwager habe dem Bürgermeister hoch angerechnet, dass dieser keinen Druck und Gewalt auf Andersdenkende ausgeübt habe. Ich weiß, dass Herr Brodbeck Denunziationen abgewehrt hat, so dass Anzeigen nicht zum Kreisleiter durchkamen. (Schreiben mit Dienstsiegel Evang. Pfarramt Lienzingen vom 21. Juli 1947). Auch die Witwe Lore Baumann verteidigte den früheren Schultheißen, der der Kirche nie Schwierigkeiten gemacht habe – ein guter Bürgermeister, der sein Amt gerecht und mit Umsicht verwaltete, ein persönlicher Freund ihres Mannes. (10. Februar 1947)

Der Historiker Konrad Dussel, Professor an der Universität Mannheim, sichtete auch die Akte Brodbeck für das 2016 erschienene Ortsbuch Lienzingen. Auf dem Foto von Rainer Appich beim Vortrag im 1250-Jahr-Jubiläum, gehalten im Evangelischen Gemeindehaus.

Otto Braun, 1946 bis 1954 Schultes der Gemeinde Zaisersweiher, die von 1932 bis 1937 mit Brodbeck einen gemeinsamen Bürgermeister hatte: Sein Benehmen im Verkehr mit dem Publikum war freundlich und zuvorkommend. Er war in jeder Hinsicht hilfreich und gut. Unterschiede zwischen Pgs und NichtPgs hat er nicht gemacht. In dieses Lied stimmte auch August Glöckler ein, der 1937 Brodbeck als Bürgermeister von Zaisersweiher ablöste, aber als Laie auf die Dienste des Lienzingers in dessen weiterer Funktion als Aktuar angewiesen war (Erklärung vom 29. Dezember 1946). Auch aus Diefenbach kam Schützenhilfe, und zwar von Gottlieb Hirsch, Landwirt und ehrenamtlicher Bürgermeister, den Brodbeck von 1943 bis 1945 als Aktuar unterstützte im Haushalts- und Kassenwesen. Ein erfahrener und tüchtiger Verwaltungsfachmann, der vom Nationalsozialismus aufs Schwerste enttäuscht worden sei und sich auch nicht geniert habe, gegen die Parteivorschriften Stellung zu nehmen (20. Dezember 1946).

Jakob Straub, Bürgermeister von 1945 bis 1947, forderte mit anderen zusammen im Juni 1946 die Freilassung des im Internierungslager Ludwigsburg festgehaltenen Brodbeck (STAM).

Jakob Straub, von 1945 bis 1947 Bürgermeister von Lienzingen, listete fünf Entlastungspunkte auf, gleichzeitig als Vorsitzender des Gesangvereins: Brodbeck sei kein Aktivist gewesen, seine Frau und seine älteste Tochter seien weder in der Partei noch in der Frauenschaft gewesen. Der Vorstand des Gesangvereins sowie der des Spar- und Darlehenskassenvereins seien ebenfalls keine NSDAP-Mitglieder gewesen.  In Lienzingen seien keine Straßen nach dem Dritten Reich benannt worden. Der Erste Beigeordnete Richard Geißler und Gemeinderat Wilhelm Link seien nicht in der Partei gewesen. Ich bin immer gut mit ihm ausgekommen, er hat mich nicht aufgefordert, in die Partei einzutreten (Brief vom 31. Juli 1947). Schon ein erstes Entlastungsschreiben für den seinerzeit internierten Brodbeck war durchweg positiv ausgefallen. Wenn Brodbeck von etlichen Bürgern verleumdet wird, so lässt sich das nicht verhüten. Als Vorsteher einer Gemeinde hat jeder Beamte aber auch Feinde. Wir bitten um seine Entlassung – unterschrieben von Jakob Straub sowie Geiger und Heinzmann (28. Juni 1946).

14 Monate war Albert Bäzner stellvertretender Amtsbote: In dieser Zeit habe sich Brodbeck nie politisch betätigt (8. Februar 1948). Positiv für den Beschuldigten auch der Vierzeiler der Kronen-Wirtin Gertrud Glöckler sowie die drei Zeilen mit der Unterschrift von Hirsch-Wirtin und Witwe Karoline Braun (beide Zaisersweiher, beide Zettel mit der Überschrift Bestätigung, beide geschrieben am 28. Januar 1948). Lob rundum und in allen Fächern: Ein umsichtiger und fleißiger Bürgermeister, der zu den tüchtigsten unter den Fachbürgermeistern des Kreises zählte und im Dritten Reich aus reinem Selbsterhaltungstrieb der NSDAP beigetreten sei, um im Amt bleiben zu können, Brodbeck sei vom Kreisleiter dazu gezwungen worden (Bürgermeister a.D. Kienzle aus Maulbronn, 7. Februar 1947). Martin Henrich, der sich als Vertrauensmann der SPD bezeichnete, konnte dem früheren Bürgermeister nur das beste Zeugnis ausstellen (18. August 1947). Diese Version über den NS-Beitritt brachte Brodbeck auch im April 1948 vor der Spruchkammer vor. Nun, was ist mit dem Eintritt in die Partei? Seine Antwort auf diese Frage des Kreisleiters: Nun, dann trete ich eben bei. Er könne nicht sagen, dass auf ihn Druck ausgeübt worden sei. Seinen Rücktritt als Kirchengemeinderat begründete er mit einem möglichen Interessenkonflikt als Zeuge in kirchlichen Sachen. Mitglied der evangelischen Kirche sei er aber geblieben.

Immer wieder die Frage, wann und wie oft der Schultes und Ortsgruppenleiter die Uniform trug. Nur bei Eheschließungen und teils bei Gemeinderatssitzungen, wo ihm kurz vorher das Braunhemd ohne Hose in seiner Wohnung geholt worden sei, bestätigten an Eidesstatt die beiden Mitarbeiterinnen im Rathaus, Elsbeth Lehner und Liselotte Schmollinger am 5. Februar 1948.  Exakt dies sagte Brodbeck am 28. April 1948 vor der Spruchkammer.

Eine der letzten Gemeinderatssitzungen, die Karl Brodbeck leitete: Die Gemeinderäte waren von der NSDAP ernannt worden, hatten nur eine beratende Funktion, nach dem Führerprinzip entschied seit 1935 allein der Bürgermeister (STAM, Li A 322).

Ich selbst war als schärfste Gegner des Nationalsozialismus allgemeine bekannt, schrieb am 22. Januar 1947 der Mühlacker Fabrikant Friedrich Münch, seit 1933 Pächter der Gemeindejagd von Lienzingen. Brodbeck sei einige Male vorgeworfen worden, wieso er deshalb mit Münch verkehren könne. 1940 habe ihm, Münch, seine Gemeindejagd aus politischen Gründen entzogen werden sollen. Es seien bereits Schreiben von Neubewerbern beim Bürgermeisteramt eingegangen, und trotzdem habe er ihm die Jagd belassen. Der Gemeindediener von Lienzingen habe, so fährt Münch fort, 1937 geäußert, Münch sei der nächste, der ins KZ komme. Der Fabrikant schildert das Weitere so: Auf dieses habe ich den Gemeindediener zu Herrn Brodbeck bestellt, und ich habe Herrn Brodbeck die Wahl überlassen, entweder den Gemeindediener sofort zu entlassen oder ich verzichte auf die Jagd. Darauf hat Herr Brodbeck vorgezogen, den Gemeindediener zu entlassen, was auch geschah. Laut Protokoll der Verhandlung der Spruchkammer vom 26. April 1948 war der Gemeindebedienstete betrunken, als er die Münch-Geschichte seinem Schulkameraden und Landwirt Gotthold Scheck während der Singstunde erzählt habe. Indessen litt vor allem der Zeuge Scheck an Erinnerungsschwäche.

Gleich nach Kriegsende ließ die französische Militärregierung den bisherigen Lienzinger Schultes verhaften. Er saß vom 5. bis 23. Mai 1945 in Mühlacker ein. Erneut festgenommen wurde Brodbeck am 2. August 1945 in Lienzingen. Der Ablauf einer öffentlichen Verhandlung der Spruchkammer dokumentiert die Tagesordnung vom 26. April 1948, 9 Uhr, im Rathaus Mühlacker. Acht Belastungs- und zwölf Entlastungszeugen. Darunter diverse Lienzinger, der Landwirt Gustav Straub, Paul Bopp, Gemeinderat August Rössler, Amtsbote Wilhelm Scheck (alle belastend) sowie Bürgermeister Jakob Straub, Eugen Geissler, Paul Heugel, Eduard Szewzyk, Martin Henrich, Pfarrwitwe Lore Baumann, Witwe Bertis, Bauern-Ortsobmann Erwin Bonnet und Wilhelm Geiger. Die Beweismittel: Meldebogen, Arbeitsblätter, Ermittlungen. Die Verhandlung dauerte viereinhalb Stunden.

Die Beweisaufnahme erschwerte aber, dass Paul Bopp wegen einer inzwischen ablehnenden Haltung gegenüber Spruchkammern genauso absagte wie die Zeugin Bertis (wohl die Tochter), die telefonisch mitteilte, nichts zur Sache sagen zu können, weil sie damals zwei oder drei Jahre alt gewesen sei. Letztlich sagte Bopp dann aber doch aus, in der Gemeinde sei er als Unruhestifter bezeichnet worden, weil er ehemals in der kommunistischen Partei gewesen sei. Im Dorf hatte es gebrannt und die Ursachen dieses Brandes wurden auf die aggressiven Gegner des NS geschoben.

Ein weiterer Lienzinger, der nach 1945 Brodbeck das Leben schwer machen sollte, war der Landwirt Gustav Straub. Seine Frau hatte ihn 1939 nach sieben Jahren verlassen, die Scheidung eingereicht, diese war dann 1940 ausgesprochen worden. Erfolglos blieb seine Berufung vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Sein einziger Sohn sei 1940 als Soldat in Frankreich von Hilfsgrenzangestellten angefahren worden und sei den Verletzungen erlegen. Der Antrag des Vaters auf Schadensersatz bei der Reichsfinanzverwaltung blieb erfolglos. Doch Straub lag schon länger mit Brodbeck im Streit wegen angeblicher Milch-Sabotage. Straub hatte 20 Mark Strafe bezahlen müssen wegen der Anlieferung verunreinigter Milch am Milchhäusle. Straub führte dies auf die Erkrankung seiner Kühe zurück. Einwandfrei erwiesen sei gewesen, dass er nichts für diese Erkrankung gekonnt habe. Er nannte die Bestrafung einen reinen politischen Willkürakt wegen seiner politischen Gesinnung. Und für all diese Unbill machte er Brodbeck verantwortlich.

Die Zahl der Einwohner von Lienzingen wuchs in Brodbecks Amtszeit (1920-1945) etwa um 200 auf 940. (Grafik: Günter Bächle)

Doch ein anderer Zeuge widersprach: Der Landwirt Eugen Geissler sagte stattdessen, Straub habe täglich immer geringere Mengen bei der örtlichen Genossenschaft angeliefert und zum Schluss der Woche gar nichts mehr. Dieser Gegenstand werde außer Acht gelassen. Und Straubs Ex-Frau Frieda nannte Gustav streitsüchtig, der ständig auf den Bürgermeister geschimpft habe (Aussage vor der Spruchkammer im April 1948). Der Bauer beleidigte den Bürgermeister, worauf der Mühlacker Notar Pfletschinger, Rechtsbeistand von Straub, ein Gespräch unter sechs Augen arrangierte: Der Landwirt solle sich entschuldigen und eine von ihm selbst festgesetzte Strafe bezahlen. Er willigte ein und sagte als Buße zehn Mark zu. In den Akten findet sich der Hinweis, dass Brodbeck 1920 wegen Wohnungsmangels eine Familie aufgrund eines Beschlusses des Gemeinderats in Straubs Haus einwies und seitdem dieser einen Hass auf den Schultes hatte. In den Wochen nach der Befreiung erstattete Straub Anzeige gegen Brodbeck bei den französischen Militärs.

Brodbecks Rechtsbeistand, der Stuttgarter Anwalt Weller, schrieb am 11. Februar 1948 an die Spruchkammer Vaihingen/Enz, postalische Adresse Mühlacker, Uhlandbau, und beantragte, seinen Mandanten in die Gruppe der Mitläufer einzustufen und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.  Das war jene am 26. April 1948. Weller brauchte nur die Aussagen aufzulisten und kam zum Schluss: Individuelle Tatbestände sind nicht erwiesen. Als der Spruch der Kammer im April 1948 fiel, lebte Karl Brodbeck schon gut ein halbes Jahr lang wieder in Lienzingen. Er war vom 2. August 1945 bis 30. September 1947 in Internierungslagern der Alliierten, darunter in Ludwigsburg. Weller sagte, dort hat Brodbeck das, was er politisch gefehlt hat, in zwei Jahren abgebüßt.

Im Protokoll der öffentlichen Vernehmung von Brodbeck am 26. April 1948 fällt auf, dass seine Argumentation der seiner Entlastungszeugen stark ähnelte, wenn nicht gar wortgleich war. Ob er auch Fragen zur angeblichen politischen Unzuverlässigkeit von Einwohnern beantwortet habe, wollte der Vorsitzende der Spruchkammer wissen. Brodbeck verneinte dies, diese seien an den Blockleiter gegangen. Zeugen machten nun Rückzieher. So Gemeinderat (1931/33 und 1947/48) und Lagermeister August Rössler. Er habe doch eine Erklärung unterschrieben, hielt ihm der Öffentliche Kläger vor. Mit entwaffnender Ehrlichkeit antwortete der Zeuge: Es ist nach Feierabend einmal jemand zu mir gekommen und hat mir etwas vorgelegt und da habe ich eben meinen Namen daruntergesetzt.

Wilhelm Scheck (rechts), Amtsbote von 1937 bis 1969, unterbrochen durch die Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg. Links Richard Allmendinger, Bürgermeister von Lienzingen 1947 bis zum Verlust der Selbstständigkeit 1975 (Smlg. STAM)

Bei dieser öffentlichen Anhörung sagte Wilhelm Scheck, von 1937 bis 1969 Amtsbote, Brodbeck habe niemand gezwungen, in die Partei einzutreten, was ein anderer Zeuge bestätigte, der Hilfsarbeiter Paul Heugel.  Dagegen habe, so Scheck, Brodbecks Vorgänger Kaiser ein straffes Regime geführt.  Auch der Landwirt Wilhelm Geiger lobte den Bürgermeister. Denn Geiger verstreute einmal auf den Straßen abgeworfene Flugblätter des Feindes und war gemeldet worden. Den Packen hatte er gefunden. Zwar musste er noch nachts im Rathaus eine Anhörung durch Bürgermeister und Landjäger über sich ergehen lassen, doch dann habe ihn Brodbeck heimgeschickt. Es kam aber wegen dieser Sache niemand mehr.

Der Historiker Konrad Dussel vermutet, die Aussage von Eduard Szewezky sei die große Entlastung von Brodbeck gewesen. Ich bin als ausländischer Arbeiter nach Lienzingen gekommen und bin 1945 freiwillig dortgeblieben, sagte der Pole vor der Spruchkammer. Vom Bürgermeister seien die Ausländer gut behandelt worden. Wir haben bei den Leuten am Tisch essen dürfen. Von Seiten des Bürgermeisters sind wir nicht kontrolliert worden. Er persönlich habe keine Kleidung von Brodbeck erhalten, zwei seiner Kameraden schon. Dies sei, so Brodbeck, abgelegte Kleidung aus eigenen Beständen gewesen. Der Ortsobmann der Bauern, Erwin Bonnet: Die Ausländer wurden in Lienzingen prima behandelt. (...) Der Bürgermeister hat seiner Gemeinde gegenüber gerecht gehandelt.  

Was nicht in den Akten steht, aber zur Einordnung des Themas dienlich ist: Allein beim Forstamt Lienzingen waren am 26. April 1940 vierzig polnische Kriegsgefangene beschäftigt. Gegen die Verpflichtung, jede ihnen zugewiesene Arbeit anzunehmen, durften die Zivilgefangenen freigelassen werden. Am 9. Oktober1940 sollten die Polen unter anderem zur Abnahme von Fingerabdrücken erscheinen. Daraufhin flüchteten in Lienzingen fünf Polen, einer kehrte wieder zurück. Die Gemeinde meldete am 7. September 1942, ein russischer Arbeiter aus Smolensk habe seinen Arbeitsplatz in der Herzenbühlgasse verlassen.  Nach ihm wurde nun gefahndet, mit oder ohne Erfolg ist unbekannt.  Im Frühjahr 1940 gab das Arbeitsamt in Lienzingen bekannt, dass die Landwirte kriegsgefangene Polen am Rathaus in Pforzheim abholen könnten. In einem Fall zumindest bemängelte die Lienzinger  Frauenschaftsführerin, dass die Polen bei den Mahlzeiten mit am Tisch saßen.  Die Arbeitgeber hielten es nach wie vor anders (Brändle-Zeile, Elisabeth: Ausländische Kriegsgefangen und Zwangsarbeiter 1939 bis 1945 im Raum Mühlacker in: Marlis Lippik (Hrsg.) Bis zum bitteren Ende, Band 1 der Beiträge zur Geschichte der Stadt Mühlacker, herausgegeben vom Stadtarchiv Mühlacker. 1995. S. 124 f).

Ende Dezember1944 informierte Brodbeck den Gemeinderat über die Beschäftigung von 20 Zivilfranzosen als Holzhauer im Gemeindewald, da 1300 Festmeter Holz einzuschlagen seien. Der Gemeinde fehlten die notwendigen Kräfte, das Ziegelwerk habe aus Kohleknappheit nicht mehr genügend Arbeit. Die vom Regime zwangsrekrutierten Fremdarbeiter wurden in der Turnhalle, dem Kelter-Anbau, untergebracht, die Betten stellte das Ziegelwerk (STAM, Li B 323, S. 08).

Fritzmartin Ascher (1895 bis 1975), Veröffentlichung des Historisch-Archäologischen Vereins Mühlacker (HAV), erschienen 2014.

Geschick bewies die Familie mit einem Brief, um den die älteste Tochter gebeten hatte:  Zu Papier gebracht am 22. Februar 1947 vom Landrat des Kreises Waiblingen, adressiert an Brodbecks Tochter Lotte Stanger, seine frühere Schülerin. Es ist mir unvergesslich, wie gastfreundlich wir bei einer Schulwanderung durch Lienzingen aufgenommen wurden. (…) Ich weiß, dass Sie auch in der schlimmsten Zeit Ihre Zuneigung zu Ihrem früheren Lehrer nie verleugnet haben, obwohl die Stellung Ihres Gatten etwas anderes verlangt hätte. Abschließend wünschte er der ganzen Familie, dass das Verfahren rasch und gut seinen Abschluss finden werde. Der Absender hieß Dr. Fritzmartin Ascher. Sein Schreiben  hob sich von den meisten anderen ab. Denn als Jude überlebte er in Mühlacker den Krieg und mit ihm seine Familie, 1935 bekam er aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wegen seiner jüdischen Abstammung Berufsverbot. Als studierter Philologe und Naturwissenschaftler zunächst Lehrer im Hilda-Gymnasium in Pforzheim und von 1939 bis 1947 in Mühlacker Fabrikarbeiter, Knecht in der Landwirtschaft, Milchkutscher, Straßenkehrer und Totengräber und: Nachkriegsbürgermeister (1945 bis 1947), danach mehr als ein Jahr Landrat in Waiblingen, später Leiter eines Gymnasiums und SPD-Stadtrat in Crailsheim. Eigentlich war es nur ein netter Brief an die frühere Schülerin mit guten Wünschen für, aber keine gezielte  Fürsprache für Lottes  Papa.

Pfarrer Gerhard Schwab, Lienzingens Ortsgeistlicher von 1945 bis 1977, setzte sich auch für Brodbeck im Verfahren vor der Spruchkammer ein. Das Bild entstand bei der Einweihung des Friedrich-Münch-Kindergartens am 16. April 1959 (Foto: Volker Ferschel, Smlg. STAM)

Der Öffentliche Kläger Fischer räumte ein, die Anschuldigungen, dass er sein Amt als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter missbraucht habe, sei in der Beweisaufnahme widerlegt. Keine Beweise gebe es auch für eine Beteiligung von Brodbeck an der Inhaftierung von Bertis und Bopp, doch dass ihm davon auch nichts bekannt gewesen sei, bezeichnete der Kläger als wenig glaubhaft. Brodbeck habe positiv zum NS gestanden, sei der maßgebende Mann der NSDAP in Lienzingen gewesen, einer  nach dem Nürnberger Urteil verbrecherischen Organisation. Deshalb komme eine Einstufung als Mitläufer und damit in die niedrigste Schuldkategorie nicht in Frage.  

Als letzter äußerte sich Brodbeck. Er bitte zu berücksichtigen, dass er 62 Jahre alt sei, seine Frau 67, dass er noch einen Sohn in Gefangenschaft habe und seine Barmittel aufgebraucht seien, da er schon drei Jahre kein Einkommen habe. Ich bitte auch ferner durch das Urteil meine Mitarbeit am Aufbau eines demokratischen Staates nicht zu unterbinden.

Noch am selben Tag verkündete Kammervorsitzender Burger den Spruch: Einstufung als Mitläufer und eine einmalige Wiedergutmachung von 500 Reichsmark. Da Brodbeck nicht der politische Leiter gewesen sei, sondern nur mit der Führung der Geschäfte des Ortsgruppenleiters beauftragt worden sei und als Vertrauensmann des SD zu den ehrenamtlichen Informanten gehört habe, sei ausdrücklich nicht von der Schuldvermutung auszugehen, weshalb das Nürnberger Urteil nicht anzuwenden sei. Die Spruchkammer folgte bis zum letzten Punkt den Argumenten Brodbecks, seines Anwaltes, seiner Fürsprecher und übernahm auch die Ansicht, der Bürgermeister sei als Ortsgruppenleiter nicht mehr zu den Gottesdiensten gekommen, um etwaige sogenannte staatsfeindliche Äußerungen des Geistlichen, der Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen sei, nicht mit anhören zu müssen, woraus sowohl dem Pfarrer als auch ihm selbst Schwierigkeiten hätten entstehen können. Alle gegen den Betroffenen vorgebrachten individuellen Beschuldigungen seien widerlegt worden. Zwar wäre, so die Jury weiter, auch eine Einstufung als Minderbelasteter in Frage gekommen, doch der von der Person gewonnene Gesamteindruck lasse den Schluss zu, dass es bei Karl Brodbeck keiner weiteren Bewährung bedürfe und er deshalb gleich als Mitläufer eingestuft werden könne.

Die verlorene Ehre des ehemaligen Lienzinger Doppel-Chefs war so weit, bis auf ein paar Kratzer, wieder hergestellt. Der Verwaltungsfachmann erhielt einen Arbeitsplatz bei der Evangelischen Landeskirche, lebte zurückgezogen in seinem Haus an der Hauptstraße (heute Friedenstraße 41). Er starb 1957.

Friedrich Münch, 1957 zum Ehrenbürger von Lienzingen ernannt, war 1947/48 einer der Fürsprecher auf Brodbecks Seite. Der Fabrikant aus Mühlacker, Pächter der Lienzinger Gemeindejagd seit 1933, bezeichnete sich als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus.

Doch der Lienzinger Gemeinderat, 1946 erstmals wieder demokratisch gewählt, hatte am 30. Juni  einen heiklen Fall zu beraten, und zwar am 30. Juni 1949: das politische Zeugnis für Hans Stanger, Schwiegersohn von Ex-Bürgermeister Karl Brodbeck. 1910 geboren, kam er 1939 nach Lienzingen. Die Spruchkammer in Karlsruhe hatte ihn am 31. März 1948 als belastet eingestuft. Er wollte ein Gesuch um Strafmilderung einreichen, bat deshalb den Gemeinderat um die Ausstellung eines politischen Zeugnisses. Dem folgte das Gremium. In dem Zeugnis heißt es, Stanger habe sich seit dieser Zeit, also seit 1939, einwandfrei geführt und seit seiner Entlassung aus dem Internierungslager zu erkennen gegeben, dass er sich vom Nationalsozialismus abgewandt habe, er sei geeignet und bereit, am Wiederaufbau eines friedlichen, demokratischen Deutschlands mitzuarbeiten. Der Gemeinderat äußerte die Überzeugung, dass Stanger auch nur in Folge seines jugendlichen Alters damals den verlogenen Propagandamethoden der Nazis zum Opfer gefallen und deshalb in die Partei und die SA eingetreten sei. Der Gemeinderat befürwortete daher eine Milderung der gegen den, schwer Kriegsbeschädigten getroffenen Entscheidung, insbesondere eine niedrigere Einstufung (STAM, Li B 323, S. 204).   

Und noch ein Nachklapp: Ergänzen musste der Gemeinderat am 16. März 1948 die Besetzung des Wohnungsausschusses, um der Vorgabe des Wohnungsgesetzes nachzukommen, solchen Personen den Vorzug zu geben, die dem nationalsozialistischen Regime Widerstand geleistet hatten. So rückte nun Paul Bopp in den Ausschuss ein als politisch Verfolgter. Bürgermeister Richard Allmendinger hielt den Ausschuss für überflüssig (STAM, Li B 323, S. 72). 

Wiederum Heinrich Eitel machte später von sich reden – nunmehr im Range eines Stadtoberinspektors wählten ihn 1957 die Lomersheimer gleich im ersten Wahlgang (440 von 856 Stimmen) zu ihrem Bürgermeister. Als einzigem Verwaltungschef der Nachkriegszeit gelang es ihm, auch die Folgewahl zu gewinnen (Lomersheim an der Enz, Ortsbuch, Band 3 der Beiträge zur Geschichte der Stadt Mühlacker)

Nochmals 1930 von Norden. Lienzingen mit Wehrkirche (Postkarte M. Ruolff, Heilbronn, STAM).

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