Braunes Parteibuch: Lienzinger Bürgermeister und Pfarrer "meldeten 1933 ihren Eintritt in die Partei an"

Wilhelm Kriech, evangelischer Pfarrer in Lienzingen von 1929 bis 1934, und Karl Brodbeck, Bürgermeister der Gemeinde von 1920 bis 1945, taten im Jahr 1933 einen für sie entscheidenden Schritt: Sie unterschrieben Beitrittserklärungen zur NSDAP. Kriech gab sein braunes Parteibuch nach zwei Jahren wieder retour, als Ruheständler in Stuttgart. Brodbeck blieb bis zum bitteren Ende der Bewegung treu. Die beiden verband eines trotzdem noch stärker: der christliche Glaube. Der Schultes besuchte mit seiner Familie regelmäßig den Sonntagsgottesdienst, gehörte zudem dem Kirchengemeinderat an. Die Folge davon, dass sich die beiden zu diesem Schritt entschlossen. Somit hatte das gut 700 Einwohner zählende Lienzingen somit einige Monate sowohl ein NS-Mitglied als Ortsgeistlichen als auch ein weiteres als Schultes. Das ist im Dorf nicht präsent. Sollte  es seinerzeit gewesen sein, hatten die Menschen es verdrängt.

Lienzinger Geschichte(n): Die Serie im Blog. Die Überraschung bei der Recherche. 1933/34 hatten im 700-Einwohner-Dorf Lienzingen sowohl der Bürgermeister als auch der evangelische Pfarrer das braune Parteibuch. Beide gingen 1933 zur NSDAP - zwei Jahre später trat der Geistliche bitter enttäuscht wieder aus

Beide überzeugte Hitler-Anhänger? Brodbecks persönliche und parteipolitische Geschichte verlief anders als die des Theologen. Bürgermeisters und späteren Ortsgruppenleiters der NSDAP der eine, relativ schnell von der Partei enttäuscht der andere. Nicht nur deshalb unterscheiden sich beider Spruchkammer-Akten sowohl vom Umfang als auch vom Verfahren her. Den Fall Kriech wickelte die Kammer zur Entnazifizierung 1947 ausschließlich im schriftlichen Verfahren mit der laufenden Nummer 48/13/847 ab, Brodbeck (48/20/633) musste sich 1947/48 öffentlichen Verhandlungen stellen.

Im Herbst 1933: Erntedankfest Friedenstraße (rechts Krone) links hinten Tanksäule und Gemeindewaage, vorn Musikverein in Uniform links Bürgermeister Brodbeck - (Stadtarchiv Mühlacker. Smlg Paul Straub (002)

Die Kammer stufte in ihren Urteilen beide als Mitläufer der Nationalsozialisten ein. Kriech, inzwischen in Hohenhaslach wohnend, musste als Sühne 50 Reichsmark bezahlen, Brodbeck 500, ihrem jeweiligen Vermögen entsprechend. Sie waren damit in der zweituntersten Gruppe eingestuft: 1 Hauptschuldige (Kriegsverbrecher); 2 Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer); 3 Minderbelastete (Bewährungsgruppe); 4 Mitläufer; 5 Entlastete, die vom Gesetz nicht betroffen waren.

Informationssammlung der Spruchkammer: Das Bürgermeisteramt Lienzingen zu Wilhelm Kriech

Die gesammelten Schriftstücke der Verfahren der Spruchkammer 48 Vaihingen/Enz 1946/1950 sind im Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, zugänglich (Signatur: EL 902/23 Bü 4618).  Wer war denn dieser Kriech, der dem kollektiven Gedächtnisschwund selbst betagter Lienzinger anheimfiel? Im neuen Ortsbuch von 2016 findet sich sein Name an zwei Stellen: Wie im Vorgängerwerk von 1970 (Wißmann, Friedrich: Lienzingen, S. 230) in der Liste der Lienzinger Pfarrer seit 1339 aber auch mit dem Hinweis, dass am 1. Mai 1933 eine Hitler-Eiche gepflanzt und von Pfarrer Kriech geweiht worden sei. Sämtliche Vereine und die Behörden beteiligten sich geschlossen an dieser Veranstaltung, dazu zahlreiche Einwohner, zitiert der Historiker Konrad Dussel. Inzwischen ist bekannt, dass sich Brodbeck durch Unterschritt den Nazis zugesellte (Dussel, Konrad: Ortsbuch Lienzingen, Verlag Regionalkultur. 2016, S. 179).

Wilhelm Kriech, 1868 in Stuttgart geboren und 1954in Leonberg gestorben), erwidert am 12. Februar 1947 auf die acht Tage zuvor erstellte Klageschrift der Spruchkammer handschriftlich auf vier Seiten, überschrieben mit: Wie ich zum nationalen Sozialismus kam. Der Text lässt erahnen, dass er ein National- und Sozialromantiker war. Während seiner Studienzeit in Tübingen (1886 bis 1890) fand Friedrich Naumann viel Anhänger daselbst, wie Kriech schreibt. Einer seiner größten Fans: Wilhelm Kriech, der demnach selbst Vorlesungen zur Arbeiterfrage besuchte, begierig die national-soziale Tageszeitung Die Zeit las, sich mit der Geschichte des Sozialismus beschäftigte.

Völlig überraschend: Der Weg von Wilhelm Kriech zur NSDAP führte über den Ur-Vater der heutigen FDP: Friedrich Naumann, evangelischer Theologe, liberaler Politiker zurzeit des Deutschen Kaiserreichs, Mitbegründer des Deutschen Werkbunds und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Nach ihm ist die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit benannt. Für manche verbrämte Naumann den deutschen Nationalismus nur mit sozialer Attitüde.  Die soziale Frage wollte er durch ein Bündnis von Liberalismus und Protestantismus lösen, durch Einbau von Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften, Geschichtsforschung und Philosophie in den christlichen Glauben der Volksgemeinschaft als einer klassenübergreifenden Einheitsideologie (Quelle: Wikipedia).

Vier Seiten zur Verteidigung: Wilhelm Kriech an die Spruchkammer - "Wie ich zum nationalen Sozialismus kam". Vor allem das Schreiben von Kriech ist sehr aussagekräftig und in seiner Art nahezu idealtypisch für die Haltung eines Pfarrers in jenen Jahren, kommentiert der Kirchenhistoriker Siegfried Hermle

Als Wilhelm Kriech 1900 in Ohmenhausen bei Reutlingen die ständige Pfarrstelle übernahm, habe ihm der Referent für die Besetzung der ständigen Pfarrstellen, Prälat Bilfinger, mit auf den Weg gegeben, Wilhelm wisse als Sohn eines selbstständigen Schreiners in Stuttgart wie Arbeiter zu behandeln seien. So solle sich der junge Geistliche auch in der Arbeiter-Wohngemeinde Ohmenhausen verhalten, eine politisch sozialdemokratische ausgerichtete Kommune. Von 1900 bis 1920 auf der ersten Stelle, von 1920 bis 1929 auf der zweiten – in Hohenhaslach – hielt ich mich vom politischen Leben fern und neutral, notierte er zu seiner Verteidigung.

Die Spruchkammer: 50 Reichsmark als Sühne und Wiedergutmachung. Das war es, das schriftliche Verfahren

Doch in seiner dritten Stelle – in Lienzingen - änderte sich das wohl. Er habe mit Bürgermeister Brodbeck gut und gerne zusammengearbeitet, besuchte einmal in Mühlacker eine Versammlung der NSDAP mit Stadtpfarrer Ettwein aus Bad Cannstatt als Redner. Bei Ettwein, der ihm persönlich bekannt gewesen sei, missfiel ihm, wie er weiterschreibt, der Antisemitismus. Aber der Name Arbeiterpartei erinnerte ihn an Friedrich Naumann. Sollten hier nicht die alten Hoffnungen erfüllt werden? Leicht zu erkennen ist, dass Kriech an die Gedanken während seiner Tübinger Zeit anknüpfte und sich auch mitreißen ließ vom Tag der Machtergreifung Hitlers. Brodbeck lud ihn ein, bei der Gemeindefeier nach dem Ortsgruppenleiter zu sprechen. Ich redete von der Freude, die heute jeder Deutsche darüber empfinde, dass der durch die vielen Parteien zerrissene Volksgemeinschaft nun mehr die ersehnte Einheit folgte. Wichtig war ihm der Hinweise, keine Uniform getragen zu haben.

So infiziert, übernahm Kriech die Funktion des Amtswalters einer NS-Organisation in Lienzingen, der NS-Volkswohlfahrt. Es ist im Übrigen nichts Außergewöhnliches, dass Pfarrer in den späten 1920er, frühen 1930er Jahren Funktionen in der NSDAP und ihren Untergliederungen übernommen haben; bis hin zu Ortsvorsitzenden, ehe dies dann offiziell verboten wurde, erläutert der Kirchenhistoriker Professor Dr. Siegfried Hermle.

NS-Wohlfahrt, erwarb sich auch eine Amtswalteruniform, stellte aber in Abrede, aktiv für die NSV geworben zu haben. Was sich daran zeige, dass sich die Mitgliederzahl in seiner Amtszeit stagnierte. Gewonnen durch den Namen Arbeiterpartei, die Tätigkeit im NSV (die nach seinem Weggang Brodbeck übernahm) und um für das Wohl der arbeitenden Klasse wirken zu können, meldete ich im Sommer 1933 meinen Eintritt in die Partei an.

Herzenbühlstraße 24, letztes Zuhause für Richard Bertis (Foto April 2022, Günter Bächle)

Lienzingens Ortsgeistlicher Wilhelm Kriech trat 1934 in den Ruhestand, zog nach Stuttgart um.  Zwar sammelte er dort noch einmal für das Winterhilfswerk, meldete sich bei der zuständigen Ortsgruppe Stadtgarten zunächst nicht an, wurde aber zur Bezahlung der rückständigen Mitgliedsbeiträge aufgefordert. Gegenüber seinen Erwartungen beim Eintritt erfuhr Kriech, wie er schreibt, allerhand bittere Enttäuschungen. Den Hausarrest und die Verfolgung des evangelischen Landesbischofs Theophil Wurm durch die Nazis, gehörte dazu, die Verfolgung von jüdischen Schulkameraden, aber auch der Fall des Lienzinger Fabrikarbeiters und Kommunisten Richard Bertis, der im März 1933 eines morgens verhaftet und ins KZ auf den Heuberg gebracht wurde. Nach einigen Monaten kam er als Schwerkranker zurück, starb am 15. Oktober 1933. Wilhelm Kriech besuchte ihn mehrmals zuhause. Über die Behandlung auf dem Heuberg redete er kein Wort. Das machte mich misstrauisch. Seinen Tod konnte ich mir nur als Folge des auf dem Heuberg erlittenen Misshandlungen erklären. Seine Frau redete weder vor noch nach der Beerdigung ihres Mannes etwas über die Heuburg. Gewiss ward ihnen strengstes Schweigegebot auferlegt.

Stolperstein erinnert an Richard Bertis

An Richard Bertis erinnert vor seiner Wohnung Herzenbühlstraße 34 ein Gedenk-Stolperstein. Das Schicksal des Werkmeisters in der Eisengießerei Niefern spielte auch im Spruchkammer-Verfahren gegen Karl Brodbeck eine Rolle.

All dies habe zu seiner Erkenntnis geführt, aus der Partei auszutreten, zu der ich offenbar nicht passte. Weiter heißt es in seiner Erwiderung auf die Klageschrift: Ich erwartete, nachdem ich dem Blockwart meinen Austritt angezeigt hatte eine Vorladung – diese erfolgte nicht.  Als Pfarrer jedenfalls galt ich als politisch unzuverlässig. Deshalb sei die Partei über diese Entscheidung nicht unglücklich gewesen, vermutete auch der Vaihinger Rechtsanwalt F. Cramer, der ihn vor der Spruchkammer vertrat (Schreiben vom 11. März 1947).  Ab wann mein Austritt gezählt wurde, weiß ich nicht, denn die Beitragsbescheinigungen sind am 12.9. 44 in meinem Hausrat verbrannt.

In der von der Spruchkammer veranlassten schriftlichen Anhörung teilte das Bürgermeisteramt Lienzingen am 15. Januar 1947 mit, unterschrieben vom amtierenden Bürgermeister Jakob Straub, der Pfarrer sei nur einmal in Uniform aufgetreten. Zwar erklärte die örtliche Polizei, ebenfalls angeschrieben, Kriech habe am Abend der Machtergreifung Hitlers 1933 bei Fackelzug und Höhenfeuer als Festredner SA-Uniform getragen, doch das bestritten der Geistliche und andere. Die Angabe der Polizei wurde in diesem Punkt von niemandem gestützt. Als Ortspfarrer sei Kriech sehr beliebt gewesen, sei ansonsten in parteipolitischer Hinsicht nicht weiter in Erscheinung getreten, so die wenigen Sätze aus dem Lienzinger Rathaus.

Am 21. Juli 1947 fiel das Urteil der Spruchkammer Vaihingen an der Enz mit Sitz in Mühlacker unter dem Vorsitz von Dr. Uhlig. Sie legte den Sühnebetrag auf 50 Reichsmark fest, die Entscheidung wurde am 22. November 1948 rechtskräftig. Zuvor wies die Berufungskammer 2 in Stuttgart am selben Tag den Einspruch des öffentlichen Anklägers zurück.  In seiner Berufung hatte er das Ergebnis insgesamt nicht infrage gestellt, sondern nur die Höhe der finanziellen Sühne, wobei er selbst keinen Vorschlag unterbreitete, diesen Wiedergutmachungsbeitrag aber offensichtlich für zu niedrig ansah. Der Vorstoß, ihn als stärker belastet zu qualifizieren, misslang. Das hatte für ihn insoweit 'positive' Folgen, als dass er keine Kürzungen seiner Ruhestandsbezüge im größeren Umfang hinnehmen musste.

Beim festgesetzten Streitwert von 6000 Reichsmark fielen 18 Reichsmark Verfahrenskosten an, die der Ruheständler auch pünktlich am 1. August 1948 bei der Gerichtszahlstelle Ludwigsburg beglich.

Im Spruch der Kammer heißt es, als NSV-Ortsverwaltung sei der Pfarrer nie förmlich bestätigt und seine Tätigkeit auf sozialem Gebiet unwesentlich und nur von kurzer Dauer gewesen. Uniform habe er nur ein paar Mal bei offiziellen Veranstaltungen getragen. Nach seinem Parteiaustritt 1935 sei er politisch nicht mehr in Erscheinung getreten, der Betroffene habe sich dann nur noch seelsorgerisch betätigt, an Parteileben und Politik keinen Anteil mehr genommen. Auch die angestellten Erhebungen hätten ergeben, dass der Betroffene nicht mehr als nominell am NS-Leben teilgenommen und dieses keinesfalls mehr als nur unwesentlich unterstützt habe.

Kriechs Personalakte liegt im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart (A 127, Nr. 1378). Dr. Andreas Butz blätterte darin. Seine Auskunft an den Autor:  Zu seiner Dienstzeit in Lienzingen ist außer Ernennung, Urlaubsanträgen und Pensionierung so gut wie nichts überliefert, was wohl als ein Zeichen gewertet werden kann, dass sich nicht viel Ungewöhnliches ereignet hat. Etwas zu seinem Spruchkammerverfahren fand sich auch auf der Akte (Antwort-Mail vom 17. Dezember 2021).

Selbst den Kirchenhistoriker überraschte die Ergebnisse der Recherche. Durch Zufall stieß ich darauf, als in den Unterlagen über Bürgermeister Brodbeck der Hinweis stand, dieser habe 1934 die Leitung der NS-Wohlfahrt in Lienzingen von Pfarrer Wilhelm Kriech übernommen.

Kriech?  Nie gehört!

Sagte außer mir Siegfried Hermle herzlich wenig. Hermle (Jahrgang 1955) stammt aus Lienzingen, ist Theologe, Fachmann in Kirchengeschichte, seit 2001 Professor für Kirchengeschichte an der Universität zu Köln, ehrenamtlich stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte.

Eine ganz typische Pfarrerkarriere, kommentiert er Kirchs berufliche Stationen. Im Herzen etwas vom Sozialismus angehaucht - zumindest von der sozialen Verpflichtung der Kirche (als das Kapitel Naumann) -, dann Hoffnung auf die neue Volksgemeinschaft und recht bald Enttäuschung über den wahren Weg der NS. Vor allem das Schreiben von Kriech ist sehr aussagekräftig und in seiner Art nahezu idealtypisch für die Haltung eines Pfarrers in jenen Jahren, schreibt er in einer Mail an den Autor am 18. Januar 2022 an dem Autor.

Das Bertis-Grab auf dem Friedhof Lienzingen. Rechts die Ruhestätte von Richard Bertis, der an seinen schweren Verletzungen, die ihm die Nazis im KZ Heuberg beigebracht hatten, im Oktober 1933 starb. Pfarrer Kriech schreibt in seinem Verteidigungsbrief, ihn mehrfach besucht zu haben (Foto: Günter Bächle)

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