Drei Nationen, ein Ziel
Mehr als doppelt so viele Einwohner wie der Enzkreis und mehr als sechs Mal so groß – und dennoch steht das im Nordwesten Ungarns gelegene Komitat Györ-Moson-Sopron, zu dem der Enzkreis gemeinsam mit der Stadt Pforzheim seit zehn Jahren eine offizielle Partnerschaft unterhält, vor ähnlichen Herausforderungen und Aufgaben wie sein deutscher Partnerkreis. Das wurde bei einem zweitägigen Treffen deutlich, zu dem neben Landrat Karl Röckinger und Vertretern der Kreistagsfraktionen auch eine hochkarätige Delegation aus der polnischen Partnerkommune des Enzkreises, dem oberschlesischen Myslowice, nach Györ gereist war.
„Wir kamen schnell auf das Thema Flüchtlinge zu sprechen, wobei allerdings sehr unterschiedliche Sichtweisen deutlich wurden“, wie Röckinger berichtet. So habe Komitatspräsident Zóltan Németh, der der ungarischen Regierungspartei angehört, auf die ungarische Position verwiesen, das Dublin-Übereinkommen strikt umzusetzen, aber auch auf die Probleme im Komitat als Durchgangsstation vieler Flüchtlinge.
Während die Myslowicer, mit denen der Enzkreis im vergangenen Jahr 20-jähriges Partnerschaftsjubiläum feiern konnte, von einem großen Zustrom an Flüchtlingen aus der Ukraine in ihr Land berichteten – in ihrer rund 75.000 Einwohner zählenden Stadt leben etwa 1.000 - hofft Röckinger auf die neue Bundesregierung: „Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz ähnlich wie Kanada oder die Schweiz, das Menschen eine geregelte Zuwanderung nach Deutschland ermöglicht.“ Von dieser „gesteuerten Migration“ zu unterscheiden sei die humanitäre Hilfe, die in Folge der Flüchtlingsbewegungen vielerorts vonnöten sei. In der Bundesrepublik Deutschland gebe es einen Konsens – und damit appellierte der Kreischef vor allem an die ungarischen Partner – dass man nicht die Augen verschließen dürfe vor dem teilweise großen Elend, das sich in der Welt und an Europas Grenzen abspiele. Dabei sei aber auch klar, dass Deutschland alleine völlig überfordert und alle Mitgliedsländer der EU verpflichtet seien, Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, die die Union erreicht haben, auf Zeit Schutz zu bieten. „In der EU darf Solidarität keine Einbahnstraße sein“, so Röckinger.
"Drei Nationen, ein Ziel" vollständig lesenSechs Stunden Zukunft
Meine erste Zukunftswerkstatt liegt hinter mir und damit der zweite Termin des Projekts der Stadt Mühlacker zur Bürgerbeteiligung. Gestern sechs Stunden Zukunft von Lienzingen. Neben einer Handvoll Moderatoren, dem OB und drei Stadträten trafen sich morgens um zehn in der Gemeindehalle weitere fast 30 Teilnehmer – die Hauptpersonen - aus unserem, 2100 Einwohner zählenden Stadtteil. Zugegeben, mehr hätten es schon sein können. Alle wussten Bescheid, denn Mitarbeiter des Arbeitskreises Ortsjubiläum verteilten die Einladung an alle Haushalte. Doch viele bringen ein so großes Zeit-Opfer nicht auf, zu sehr ist der Samstag ein Tag diverser Erledigungen und der Familie. Immerhin: Gemessen an der Einwohnerzahl schnitt Lienzingen bei der Zahl der Mit-Macher leicht besser ab als zwei Wochen zuvor Enzberg. Erfreulich: das Interesse junger Menschen. Bei der persönlichen Vorstellung in die Arbeitsgruppe begeisterte mich als waschechten Lienzinger eine Neu-Bürgerin aus dem historischen Ortskern, die von sich als „Herzens-Lienzingerin“ sprach. Eine Liebeserklärung an unser Dorf!
Konsens herrschte darin, dass man gerne in Lienzingen lebt. Dass dem so bleibt, war auch gemeinsames Anliegen. Ein junges Paar beklagte, dass nicht alle noch freien Bauplätze zum Verkauf stehen. "Wir wollen doch in Lienzingen bleiben, auch weil es von einer so schönen Natur umgeben ist." Prompt kam das Thema auf den Tisch. Wie können die 19 Baulücken in Lienzingen aktiviert werden, wie lassen sich bei neuen Baugebieten solche gleich verhindern? Und so kamen in den vier Arbeitsgruppen viele Anliegen und Ideen auf den Tisch, die jeweiligen Moderatoren notierten sie auf hellbraunes Papier an großen Tafeln. ab und zu mussten sie ermahnen, die Punkte nicht gleich zu diskutieren und zu zerreden. Festgehalten wurden zunächst alle Punkte. Anschließend folgte die Priorisierung durch die Arbeitsgruppe: Jede(r) durfte drei rote Punkte verteilen. Für die drei Top-Themen galt es, einen Maßnahmenkatalog zu entwickeln, aus denen in einer zweiten Runde wieder drei "herausgepunktet" wurden.
"Sechs Stunden Zukunft" vollständig lesenAtempause
90 Flüchtlinge im Göbricher Großzelt - ein Besuch
Kein Flüchtlingstourismus, auch keine Asylantenbesichtigung. Doch auch wenn die vorläufige Unterbringung von Asylsuchenden eine staatliche Aufgabe ist und somit der staatliche Teil des Landratsamtes im Auftrag des Landes Baden-Württemberg handelt: Die Suche nach den vier Wänden und einem Dach überm Kopf, die Folgen für die Infrastruktur wie Schulen und Kindergärten haben längst die Kreis- und Kommunalpolitik erreicht. Da ist es sinnvoll, Flüchtlingsunterkünfte nicht nur aus der Zeitung zu kennen. Zusammen mit der CDU-Fraktion im Kreistag informierte ich mich gestern in Neulingen-Göbrichen über eine Unterkunft, die aus einem Großraumzelt sowie mehreren Funktionscontainern besteht. Dort leben derzeit 90 Menschen aus fünf Ländern, vor allem Syrer, Irakis und Afghanen, vor allem Familien. Sozialdezernentin Katja Kreeb, Neulingens Bürgermeister Michael Schmidt und Mitarbeiter des ehrenamtlichen Betreuerkreises waren Gesprächspartner.
Im Zelt ist es warm, frieren muss niemand, trotzdem ist es eine Notlösung. Im Zelt trennen Bauzäune, mit blickdichter und feuerfester Plane oder Folie bespannt, jeweils Wohnbereiche von vier auf vier Meter ab. Eine syrische Familie lässt uns hinter die dicke Folie blicken, der Vater ist sehr freundlich, aber ein Gespräch mit ihm und seiner Frau scheitert an passenden Sprachkenntnissen. Die Kinder stellen ihr Plüschpferd auf den Spind, so dass es nach draußen auf den Gang blickt, der das Großraumzelt teilt, denn die Wohnparzellen sind nach oben offen. Freie Sicht auf das innere Zeltdach. Einer der Container vor dem Zelt ist für die wöchentliche Arztsprechstunde reserviert - in der Gesundheitsbetreuung der Flüchtlinge gilt der Enzkreis als Vorreiter. In einem anderen Container stehen Waschmaschinen. Gegessen wird in der benachbarten Büchighalle. Heute steht Gänsebraten auf dem Speisenplan. "Ein gutes Essen baut den Frust ab", sagt der Wirt der Vereinsgaststätte, der die Verpflegung übernommen hat, unterstützt von ehrenamtlichen Kräften bei der Essensausgabe. Den ganzen Tag zwischen Planen, keine Arbeit, immer auf engstem Raum, unklare Perspektiven - wer wäre da nicht öfters frustriert? Trotz dem Wissen, nun in Frieden leben zu können.
Vergessen wir nicht die Ursachen der Wanderungsbewegung aus dem Nahen Osten nach Euro. Die neuesten Nachrichten aus der syrischen Stadt Aleppo sind erschreckend, treiben die Menschen auf die Flucht. Seehofer-Freund Putin lässt Bomben auf Zivilisten abwerfen. Wann werden die ersten dieser Syrier in Deutschland um Asyl nachsuchen, dem Land, in dem just CSU-Chef Seehofer Obergrenzen der Flüchtlingszahlen fordert? Was schreibt der Bayer in seinem Dankesbrief für den Besuch in Moskau und die Nettigkeiten von Putin?
Zurück nach Göbrichen: Einen 24-Stunden-Sicherheitsdienst kann auch dazu beitragen, Konflikte rechtzeitig zu entschärfen. Der Enzkreis muss für seine Flüchtlingsunterkünfte mehr Hausmeister und Heimleiter anstellen, kündigt die Sozialdezernentin im Gespräch mit der Fraktion an. Dafür finde man auch noch geeignete Leute. Dagegen bekomme man für die vom Kreistag schon bewilligten zusätzlichen Stellen für Sozialpädagogen und Verwaltungsmitarbeiter für den Asylbereich nur schwer Personal. Der Arbeitsmarkt sei wie leergefegt.
"90 Flüchtlinge im Göbricher Großzelt - ein Besuch" vollständig lesen
Aus schierer Not
Heute schickten Landrat Karl Röckinger und der Sprecher der Bürgermeister im Enzkreis, Jürgen Kurz (Niefern-Öschelbronn), einen Brandbrief an die Bundes- und Landtagsabgeordneten des Enzkreises. Denn wöchentlich werden 100 Asylbewerber dem Landkreis zur vorläufigen Unterbringung zugewiesen. Hier das Schreiben zum Herunterladen: EntwicklungenimBereichFlchtlingshilfe.pdf
Röckinger und Kurz schreiben aus schierer Not an Unterkünften. Zuletzt lehnte der Gemeinderat von Neuenbürg einen Standort zur Flüchtlingsunterbringung ab. Die Suche geht weiter - zum Beispiel in Ötisheim und Illingen, aber auch allgemein auf dem Wohnungsmarkt. Gleichzeitig soll auf die Aufstellung von weiteren Zelten verzichtet werden. Zurecht verlangt der Deutsche Landkreistag wirksame Maßnahmen zur Zugangsbegrenzung. Gleichzeitig relativiert heute DIE WELT die Hoffnung mancher (Wirtschafts-)Verbände auf Flüchtlinge als neue Fachkräfte. Und die Politik? Die Bundesregierung, getragen von einer selten so breiten Mehrheit im Bundestag, könnte handeln. Die Parteien der Großen Koalition verständigten sich im November auf das Asylpaket II, doch dann brach wieder Streit aus und nichts geschah. Heute räumte die Koalition die Stolpersteine aus dem Weg und will die notwendigen Gesetze im Februar 2016 (!) durchs Parlament bringen. Endlich! Das wird die Nagelprobe sein für die Handlungsfähigkeit des Kabinetts Merkel. Die Bürger erwarten, dass gehandelt wird. Wir im Kreistag beklagen, dass bisher die Taten zulange auf sich warten ließen. Deshalb traf die CDU-Kreistagsfraktion Enzkreis Anfang Dezember 2015 in Mühlacker-Lienzingen zu einem Krisengespräch mit Gunther Krichbaum als Vertreter des Wahlkreises in Berlin zusammen - doch das Unbehagen blieb bei uns Kreisräten vor allem gegenüber der Hoffnung auf eine europäische Lösung des größten Problems seit 1945. Ich bin dafür, dass politisch Verfolgte Asyl genießen, aber das heißt nicht, dass wir alle, die auf ein besseres Leben hoffen, aufnehmen. Das schaffen wir nicht. Deshalb unterstütze ich den dringenden Mahnbrief aus dem Landratsamt an die Abgeordneten. Und hoffe inständig, dass die Kanzlerin ihre Ankündigung umsetzt, die Flüchtlingszahlen spürbar zu reduzieren. Nichts anderes wollen wir. Aber hier muss Berlin liefern. Rasch!
Palmers Worte: So ist es
Heute nix von mir, nur ein - wenn auch längeres (und gutes) - Zitat: Boris Palmer (Grüne), Oberbürgermeister von Tübingen, schreibt auf seiner Facebook-Seite nach dem Lesen eines Zeitungsberichts:
Zeitung lesen. Augen reiben. Stimmt wirklich. Ich wusste bis gerade eben nichts von 600 neuen Flüchtlingen im Kreis. Solche ad hoc Entwicklungen sind die Voraussetzungen für die Beschlagnahmung leer stehender Gebäude, wenn alle anderen Möglichkeiten der Unterbringung ausgeschöpft sind. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell auf diesen Punkt zulaufen. Die Kanzlerin sagt, wer keine Bleibeperspektive hat, muss gehen. Es tut mir leid, aber so ist es. Das wird meine Partei einsehen müssen. Das Asylrecht ist nicht die Antwort auf Armut oder Diskriminierung auf dem Balkan.
Update 19. September 2015: Münchens Sozialdezernentin Brigitte Meier (SPD) spricht offen über die Lage.
Heute legte auch Boris Palmer auf Facebook nach:
I disagree
Nein, es stimmt einfach nicht, dass alles gut wäre, wenn nur die Bundesregierung sich besser auf die Flüchtlingskrise vorbereitet hätte. Auch die Länder, mehrheitlich grün mitregiert, sind nicht vorbereitet. Und die Städte und Gemeinden schon gar nicht. Es ist eine meiner Ansicht nach gefährliche Illusion zu glauben, eine Million Flüchtlinge seien problemlos zu integrieren. Die Probleme sind schon jetzt riesig und wir werden es nicht schaffen, sie zu bewältigen, wenn wir es bei Schuldzuweisungen belassen und so tun als könnten wir beliebig viele Flüchtlinge mit offenen Armen aufnehmen. Um mit Heinz Bude zu sprechen: Wir müssen dringend die Phase des Flüchtlingsoptimismus durch Flüchtlingspragmatismus ersetzen.