Forschungsobjekt Mühlacker
Mühlacker war dabei, zusammen mit bundesweit acht anderen Kommunen: Germersheim, Goslar, Ilmenau, Michelstadt, Saarlouis, Steinfurt, Weißenfels und Zittau. Sie alle Kommunen mit relativ hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, machten mit beim Forschungs-Praxis-Projekt "Vielfalt in den Zentren von Klein- und Mittelstädten – sozialräumliche Integration, städtische Identität und gesellschaftliche Teilhabe", das das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) von Juli 2015 an drei Jahre lang bearbeitete. Trotz einer Information im Gemeinderat lief aber alles in Mühlacker kaum in der Öffentlichkeit ab, die Arbeitssitzungen blieben eher im fachspezifischen Rahmen. Jetzt erschien in der Edition Difu der Ergebnis-Band. Sein Inhalt bietet wissenschaftliche Beiträge, Essays und persönliche Positionierungen. Sie berücksichtigt theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zu Integration und Stadtentwicklung ebenso wie Fragen der alltäglichen Praxis kommunaler Stadtentwicklungspolitik und Integrationsarbeit. Im 364 Seiten dicken Buch taucht Mühlacker 56 Mal auf.
Das Projekt startete mit folgender Annahme: Maßnahmen zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Integration können positive Entwicklungsimpulse für die Stabilisierung von Innenstädten/Zentren gerade in jenen Kommunen auslösen, die innerstädtische Funktionsmängel aufweisen. Vor allem an Akteure aus der Stadtverwaltung waren gefragt, zweimal auch die Gemeinderatsfraktionen.
Aus der Ergebnis-Sammlung: Der mit Abstand höchste Anteil an Migrantinnen und Migranten findet sich mit 58,1 Prozent in Germersheim. Der überdurchschnittlich hohe Anteil erklärt sich zum einen durch die industriell geprägte Wirtschaftsstruktur (Binnenhafen, Logistikstandort). Zum anderen ist Germersheim ein Universitätsstandort für Translationswissenschaften. Ein ebenfalls vergleichsweise hoher Anteil an Personen mit Migrationshintergrund ist in Mühlacker vorhanden (36,5 Prozent). Die Forscher sehen in der industriell geprägten Wirtschaftsstruktur die Ursache für den hohen Zuwandereranteil.
Für Mühlacker ist, so ist zu lesen, ein recht hoher Anteil an Zuwanderern aus Westeuropa (6,2 Prozent) kennzeichnend; Germersheim, Michelstadt und Mühlacker haben zwar relativ hohe Bevölkerungsanteile an Zuwanderern, aber eine deutlich geringere Segregation, also weniger Ungleichverteilung über die Gesamtstadt. In mehreren Kommunen ragen einzelne Stadtgebiete mit einem besonders hohen Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund heraus: In Mühlacker, Germersheim und Michelstadt liegt in den Wahlbezirken der maximale Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei über 50 Prozent. Rechnet man die Gebiete mit einem Anteil von über 30 Prozent hinzu, so weisen mit Ausnahme von Zittau alle Projektkommunen mindestens einen Wahlbezirk auf, in dem ein Drittel oder mehr der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Daraunter ist der Wahlbezirk Rathaus Mühlacker - mit einer Wahlbeteiligung von 22 Prozent bei der Gemeinderatswahl 2014.
Gleichzeitig werden Funktionsverluste vor allem im Bereich des Handels als negative Entwicklung vermerkt. Die Ausdünnung der Einzelhandelsangebote, Kaufkraftverluste und zunehmende Leerstände verringern die Aufenthaltsqualität in den Innenstädten. In der Folge nimmt die Verweildauer ab und veröden die Innenstädte, wie sich in einigen Städten abzeichnet.
Germersheim, Mühlacker und Steinfurt beklagen, dass durch die Konkurrenz größerer Städte in der näheren Umgebung, die über attraktive Einzelhandelsangebote verfügen, die Funktion ihrer Innenstädte als Treffpunkt und Begegnungsraum geschwächt wird. Mühlacker schaffte eine Gegenstrategie durch die Gartenschau 2015, die heutigen „Enzgärten“. Diese werden einhellig als wichtiger Schub für die (städtische) Identitätsstiftung und als emotionaler Anknüpfungspunkt bewertet. Die Gartenschau habe es ermöglicht, innerstädtische Räume neu zu gestalten und um niedrigschwellige Begegnungsmöglichkeiten zu bereichern, die von der Bevölkerung, über kulturelle Grenzen hinweg, gut angenommen werden.
Der Großteil der Gesprächspartnerinnen und -partner in den beteiligten Projektkommunen empfindet die Innenstadt dennoch als zu wenig lebendig und als besonders für junge Menschen zu wenig attraktiv. Es fehlten vor allem Anlässe, die Innenstädte zu besuchen, heißt es weiter im Ergebnis-Band.
Hervorgehoben wird die Bezirksstelle der Diakonie in Mühlacker, die sich verstärkt allgemeiner Fragen der Integration annehme. Ein sehr breit aufgestellter informeller, trägerübergreifender Arbeitskreis sozialer Einrichtungen und die Verwaltung seien eng vernetzt. Dies gilt auch für die Verknüpfung – teils seit mehreren Jahrzehnten etablierter – ehrenamtlicher und professioneller Flüchtlingsarbeit (Freundeskreis Asyl, Freiwilligenagentur, Diakonie, Miteinanderleben e.V.). Die Kirchen, loben die Forscher, seien in einigen Kommunen wichtige Impulsgeber für Aktivitäten zur Förderung des sozialen Zusammenhalts, der Begegnung und des Dialogs. Auch die Städte Goslar und Mühlacker diskutierten die Schaffung von Begegnungszentren in der Innenstadt.
Auch wenn kommunale Strukturen geschaffen wurden, ist deren langfristige Perspektive nicht immer gesichert und der Stellenanteil bei hohem Aufgabenvolumen eher gering. So beschäftigt die Stadt Mühlacker mit langer Zuwanderungstradition und einem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund von annähernd 40 Prozent erst seit 2014 eine Integrationsbeauftragte, allerdings halbtags, aber seit kurzem immerhin unbefristet. Diese übernimmt neben der Koordination der im Integrationsbereich Aktiven auch Einzelfallbetreuung und arbeitet gleichzeitig an der Erstellung eines kommunalen Integrationskonzeptes.
Insgesamt beklagen die Forscher: Es ist nur in wenigen Fällen gelungen, ein von Landkreis wie von Städten und Gemeinden gemeinsam getragenes Integrationskonzept auf den Weg zu bringen. Auch wenn die meisten Projektkommunen mittlerweile anstreben, ein eigenes Integrationskonzept zu erarbeiten, so wäre es - sagen die Experten - doch sinnvoll, ein übergeordnetes Konzept auf Landkreisebene zu haben, das von allen Städten und Gemeinden mitgetragen wird und deren Belange berücksichtigt. Da ein Großteil der integrationspolitisch relevanten Aufgaben, wie Ausländerbehörde, Sozial- und Jugendamt oder Jobcenter, bei den Landkreisen angesiedelt ist, wären gemeinsam verabredete Ziele, Handlungsfelder und Verantwortlichkeiten eine wichtige Grundlage für erfolgreiche Integrationsarbeit auf regionaler und lokaler Ebene.
Gleichwohl sollte die Kommune eine klare Vorstellung vom angestrebten Ziel haben und im Diskussionsprozess die Umsetzbarkeit der Ergebnisse im Auge behalten, wie zwei gegensätzliche Erfahrungen mit extern moderierten Partizipationsprozessen in den Projektkommunen zeigen: So führte Mühlacker im Rahmen eines rund einjährigen, vielteiligen Prozesses zur Erstellung eines Demografiekonzeptes eine sehr breite und offene Diskussion durch, deren Ergebnisse für den Handlungsalltag allerdings nur schwer zu operationalisieren sind.
Die Wissenschaftler Ricarda Pätzold und Bettina Reimann schreiben in einem Positionspapier, zu finden in dem Ergebnis-Band Seite 29: Integration sei als zweiseitiger Prozess zu verstehen, der Zugewanderte und Einheimische gleichermaßen fordere. Durch die jüngste Zuwanderung (ab 2015) sei in den Klein- und Mittelstädten der Eindruck entstanden, das Thema Integration wäre vielerorts „Neuland“. Mittlerweile finde schrittweise eine Anbindung und Verknüpfung mit länger zurückliegenden Zuwanderungserfahrungen statt. Im Zuge dessen reife die Sicht auf Integration als langfristigen Prozess. Bisher sei aber die kommunale Integration(-sarbeit) eher schwach mit Strukturen untersetzt und wenig strategisch-konzeptionell angelegt.
Ricarda Pätzold und Bettina Reimann: Nach außen werden diese Stellen als Erfolg verbucht – das Problem scheint gelöst und kann adressiert werden. Was aber kann eine solche Stelle tatsächlich leisten und was nicht? Erfahrungen zeigen, dass diese Stellen eher auf die durchaus erforderliche aufsuchende Sozialarbeit und „das Netzwerken“ orientiert sind, weniger auf die strategisch-konzeptionelle Untersetzung und Weiterentwicklung der Themen. Auch geht mit der Schaffung einer solchen Zuständigkeit ein Aufatmen durch die anderen Fachämter – sie fühlen sich zu einem guten Teil der Verantwortung für das Thema enthoben. Im Ergebnis werden Integrationsaufgaben einer Stelle zugeschrieben und damit in eine bestimmte Ecke verwiesen.
Das tendenziell als positiv bewertete Bild vom „schlanken Staat“ scheine in den Kleinstädten durchaus Realität. Allerdings sei die Grenze zur „Magersüchtigkeit“ schmal. Haushaltsnöte und Personalmangel verengten den städtischen Handlungsspielraum immer stärker auf die Erfüllung von Pflichtaufgaben. Die abnehmenden Freiheitsgrade im Ausgestalten von freiwilligen Aufgaben – zu denen auch die Integration gehöre – begrenzten die möglichen Innovationen. Diese Lücke könnten Impulse von außen nur ein Stück weit füllen – die notwendige Vertiefung und Verstetigung müssten indes innerhalb der Kommunalverwaltung geleistet werden.
Grundlegende Einschätzungen geben die Forscher mit auf den Weg:
- Integration findet vor Ort in den Kommunen statt und ist sozialräumlich differenziert zu bearbeiten – das Wohnquartier hat eine hohe Bedeutung für die Integration.
- Integration ist eine Daueraufgabe und ein zweiseitiger Prozess, der gleichermaßen Anforderungen an Zuwanderer und Aufnahmegesellschaft stellt.
- Integrationsarbeit muss Chefsache sein, da sie politische Rückendeckung und einen klaren Auftrag braucht, was durch politische Beschlüsse, Integrationskonzepte und entsprechende Aktivitäten der Stadtspitzen unterlegt werden kann.
- Integration ist eine Querschnittsaufgabe, die ressortübergreifendes Agieren in dafür passenden Strukturen erfordert.
- Integration erfordert das Zusammenwirken von verwaltungsinternen und verwaltungsexternen Akteuren in dafür passenden Netzwerken und Strukturen.
- Integration fußt auf Teilhabe und lebt von Beteiligung und bürgerschaftlichem Engagement, wofür strukturelle und personelle Voraussetzungen und Möglichkeiten geschaffen werden müssen.
Die beiden Autoren verstehen diese Hinweise und Empfehlungen als Grundkonsens. Aufbauend darauf formulieren sie – vor dem Hintergrund der Erfahrungen der drei Jahre – ein Plädoyer für mehr Differenzierung und für mehr Reflexion, ein Plädoyer für mehr Raum zum Nachdenken über Integrationsprozesse, wodurch die Handlungsfähigkeit von Klein- und Mittelstädten gestärkt werden kann. Denn die erforderlichen Weichenstellungen für das richtige „Tun“ und kommunales Handeln setzen in sehr viel stärkerem Maße – als bislang diskutiert – die Bereitschaft zu Differenzierung und Reflexion voraus. Beides sollte dem Handeln vorangestellt werden sowie das Handeln flankieren.
Auf 20 Seiten werden die (Ober-)Bürgermeister der neun Kommunen in Textpassagen zitiert. Davon acht Mal OB Frank Schneider (Mühlacker). Ein Beispiel für ihn:
Eigentlich bedauere ich, dass wir uns mit Integration erst so spät befassen. Aber die Zuwanderung Geflüchteter hat jetzt erst das Thema Integration noch mal neu nach oben gespült. Wobei das Flüchtlingsthema an sich bei uns überhaupt keine so große Rolle spielt. Wir nehmen aber die Parallelwelt wahr, die sich in Jahrzehnten aufgebaut hat, weil eben gerade die türkische Community eigene Handwerker hat, eigene Apotheken. Nur, wir haben es einfach laufenlassen, eigentlich hätte man schon lange daran arbeiten müssen. Das sind alles so klassische Integrationsprobleme, die aufpoppen – wir erarbeiten jetzt ein Integrationskonzept im Gemeinderat.
Der erste Anlauf scheiterte - an Terminproblemen. Der nächste Versuch folgt im neuen Jahr.
Info: "Vielfalt gestalten - Integration und Stadtentwicklung in Klein- und Mittelstädten", Dr. rer. soc. Bettina Reimann (Hrsg.), Dipl.-Soz. Gudrun Kirchhoff (Hrsg.), Dipl.-Ing. Ricarda Pätzold (Hrsg.), Dipl.-Ing. Wolf-Christian Strauss (Hrsg.). Edition Difu, Bd. 17, 2018, 364 S., vierfarbig, zahlreiche Fotos und Grafiken, kostenlos (auch kostenloser Volltextdownload verfügbar). Print ISBN: 978-3-88118-618-6, Preis: 0.00 Euro
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