Lienzinger Premiere anno 1928: Erste Tankstelle im Dorf, zweite folgte im Jahr drauf - Durchgangsverkehr brachte den Umsatz
Zwei Tankstellen, und das bei zwei Kraftfahrzeugen im Ort? Kein Witz, keine Satire, sondern Realität. Eine Milchhändlerin, die auch Benzin anbietet. Was wie diese Kombination skurril wirkt, gehört zu einer Momentaufnahme von Lienzingen anno 1937. Und ist ein Stück weitgehend unbekannter Ortsgeschichte: Das landwirtschaftlich geprägte 700-Einwohner-Dorf, die Motorisierungswelle und ihre Auswirkungen im Alltag. Antworten auf Fragen nach diesen ungewöhnlichen Folgen finden sich in einem Aktenbündel im Staatsarchiv Ludwigsburg, das Überraschendes zutage fördert. Ein halbes Jahrhundert lokaler Historie, dokumentiert durch Anträge auf Genehmigung von Zapfsäulen, Pläne, Schriftwechsel zwischen Mineralölkonzernen, Gemeinde, Oberamt und Behörden, alles beginnend 1926. Eher durch Zufall entdeckt – bei meiner Online-Suche auf der Webseite des Landesarchivs Baden-Württemberg (StAL FL 20--18_Bü 214).
Lienzinger Geschichte(n) – die Fortsetzung mit einem weitgehend unbekannten Kapitel: Das Dorf und seine Tankstellen. Folgen der Motorisierung - Erfolgreich im Fundus des Staatsarchivs Ludwigsburg und im Stadtarchiv Mühlacker gestöbert.
Genau genommen begann das Kapitel vom Bauerndorf und dem Kraftstoff schon am 17. Juli 1926 – mit einem Benzinfass. Ein Sekretär des württembergischen Oberamtes Maulbronn legte eine neue Akte an unter der Nummer 3999/1. Benzinlagerung bei Emil Oelschläger, Lienzingen, stand auf dem Deckblatt. Der Fahrradhändler Oelschläger hatte am 17. Juni 1926 im Rathaus den Wunsch vorgebracht, ein Fass mit 190 bis 200 Liter Benzin der Marke Strax von Olex aufstellen zu dürfen. Aber offensichtlich nicht für eine Tankstelle, sondern als Betriebsstoff für das eigene Geschäft im Haus seiner Mutter (heute Schützinger Straße/Ecke Zaisersweiherstraße).
Das Schultheißenamt reichte den Antrag an das Oberamt weiter, das wiederum Oberamtsbaumeister Aeckerle in Mühlacker um eine Stellungnahme bat. Bereits einen Monat später traf bei dem Antragsteller via Gemeinde nicht nur ein Merkblatt ein mit der Überschrift Vorschriften betreffend Lagerung von Benzinmengen unter 600 Kilogramm, sondern auch die Erlaubnis zur Lagerung von 200 Liter Benzin-Betriebsstoff. Laut Punkt 8 durften in Wohnräumen, Küchen und den anschließenden Vorratsräumen, Geschäftsräumen und Werkstätten nicht mehr als 2 kg in dichten Gefäßen aufbewahrt werden.
Im Jahr 1928 erlebte Lienzingen eine Premiere: die erste Zapfsäule, ein Jahr später die zweite, beide an der damaligen Hauptstraße, Nummer 16 und 111 (heute Friedensstraße 12 und 26). Pläne, diese zweite Anlage 1937/38 zu erweitern, scheiterten am Nein des Generalinspekteurs für das deutsche Straßenwesen. Die beiden Sprit-Ladestationen überdauerten das Kriegsende von 1945 nicht. In den Akten finden sich keine Hinweise darauf, wann genau der letzte Liter Benzin verkauft wurde. Nach einer längeren Pause in den ersten Nachkriegsjahren folgte das zweite Kapital: 1959 an der Zaisersweiherstraße. Es endete 1980. Pläne, an der Bundesstraße 35 eine Tankstelle einzurichten, scheiterten. Nach 52 Jahren war alles vorbei. Das Dorf hatte endgültig keine Zapfstelle mehr. Was blieb, sind Akten im Staatsarchiv Ludwigsburg, teilweise auch im Stadtarchiv Mühlacker
Lienzingens Bürgermeister Karl Brodbeck, seit 1920 im Amt, entwickelte 1928 fast hellseherische Fähigkeiten. Der Kraftfahrzeugverkehr hat sich in den vergangenen Jahren sehr gesteigert und wird sich noch viel, viel mehr steigern. Er forderte in einem Schreiben vom 29. August 1928 an das Straßen- und Wasserbauamt Ludwigsburg eine Auto-Umgehungsstraße für das vom Durchgangsverkehr geplagte Dorf, von dem jedoch der Betreiber, der seit einigen Monaten neben dem Rathaus stehenden ersten Zapfsäule für Benzin profitierte. Doch erst seit dem 1. November 1951 nimmt die etwa einen Kilometer lange Umgehung den Verkehr auf, die südwestlich parallel zum Ort verläuft. Ein erster Anlauf zum Bau 1940 musste kriegsbedingt bald wieder eingestellt werden.
Exakt vor dem Nachbar-Wohngebäude des Schultheißenamtes, vor dem Haus Hauptstraße 60 (heute Friedensstraße 12, später Friseurgeschäft Wiest), begann auch in Lienzingen die neue und faszinierende Autowelt: Am 10. April 1928 genehmigte das Oberamt Maulbronn eine Anlage für 5000 Liter Benzin, gelagert in einem eingegrabenen Doppelbehälter, aufgestellt von der Olex Petroleum-Verkaufs-Gesellschaft mbH Berlin-Schöneberg, betrieben von Albert Schnabel (von 1931 an Gottlob Common). Ein Jahr später folgte die zweite Tankstelle: Auf Antrag der Deutsch-Amerikanischen Petroleum-Gesellschaft Stuttgart (DAPG, ehemals Dapolin) freigegeben vom Oberamt Maulbronn am 18. Juli 1929, für 3000 Liter, auf dem Anwesen der Witwe Friederike Lehr, Hauptstraße 111 (heute Friedensstraße 26, Familie Link).
Aus Olex wurde Jahre später die BP, aus der Deutsch-Amerikanischen Petroleum-Gesellschaft die ESSO.
Durch das Dorf führte die Reichsstraße, die spätere Bundesstraße 35. Ein lukrativer Standort für Sprit-Verkäufer.
Hauptstraße 60, Tankstelle Nummer eins: Bedingungen und Vorschriften steht über einer fünfseitigen Anlage zum Schreiben vom 5. April 1928 des Württembergischen Gewerbe- und Handelsaufsichtsamtes zum Gesuch der Olex. Es ist ein Auszug aus der Mineral-Verkehrs-Ordnung, eine Preußische Verordnung für Handel und Gewerbe von 1925. Drei Tage zuvor akzeptierte das Straßen- und Wasserbauamt Ludwigsburg schriftlich die Pläne für den Standort Hauptstraße 60. Gegen dieses Gesuch vom 3. Februar 1928 bestünden keine Einwände, weil die Etterstaatsstraße im Eigentum und in der Unterhaltung der Gemeinde Lienzingen stehe. Der Behälter solle solide gebaut und abgedeckt werden und mit einer Dampfwalze von 16 Tonnen Gewicht ohne weiteres befahren werden können. Gleichzeitig riet die Behörde, mit Rücksicht auf den Durchgangsverkehr, die Zapfsäule um einen halben bis ganzen Meter nach Westen zu verschieben. Tatsächlich wurde sie zwei Meter nördlich aufgestellt, heißt es in der Bescheinigung des Württembergischen Revisionsvereins Stuttgart - ein Vorläufer des TÜV - über die Abnahmeuntersuchung der Benzinzapfstelle vom 6. Mai 1931.
Schmiedeeiserner, verschließbarer Zapfständer
Die von Olex projektierte Sicherheitsanlage mit Doppelumschaltmessgeräten bestehe aus Erdbehältern, Rohrleitungen und Zapfständer, die gesamte Anlage entspreche in allen Punkten den behördlichen Vorschriften, so das Unternehmen in seinem Antrag an Oberamt und Gemeinde. Die Pump- und Zapfapparatur sei in einen schmiedeeisernen, verschließbaren Zapfständer eingebaut. Bereits im September 1927 stimmte der Gemeinderat dem Projekt zu, das der Pforzheimer Olex-Vertreter, Stockert, dem Gremium in einem Brief vom 12. September 1927 vorgestellt hatte. Sein Unternehmen wolle eine Pumpe aufstellen gegen einen jährlichen Pachtzins. Schultheiß Brodbeck und Gemeindepfleger Rommel einigten sich mit Stockert auf einen Pachtvertrag, den der Gemeinderat am 1. Oktober 1927 genehmigte (Auszug aus dem Protokoll des Gemeinderats, S. 98, STAM Li B 322)).
„BP“-Shield seit 1930 auch das Markenzeichen für die Olex-Produkte
Wie sah diese Pumpe nun aus? Fotos von der ersten Lienzinger Tankstelle fehlen, doch für Fachleute wie jene vom Historischen Archiv BP/Aral in Bochum, sind Form und Konstruktion des damaligen Zapfsäulentyps kein Rätsel, wenn sie den genauen Typ erfahren. Und der steht in der Genehmigung. Es ist das System Mabag Nordhausen R 7075. Zeitgenössische Bilder mit baugleichen Zapfsäulen werden im Archiv von BP und Aral aufbewahrt.
Demnach war der Anstrich anfangs entweder in Gelb mit blauer Schrift oder Blau mit gelber Schrift ausgeführt, was sich in den Bildern an unterschiedlichen Graustufen zeigt. 1930 wurde der „BP“-Shield in Deutschland eingeführt. Die Olex Benzin- und Petroleum-Gesellschaft mbH hatte es von ihrer neuen Muttergesellschaft, der Anglo-Persian Oil Company (APOC) erhalten. Es war nun auch das Markenzeichen für die Olex-Produkte. In Deutschland, wo BP mit „Benzin“ und „Petroleum“ übersetzt wurde, galten weiterhin die Olex-Farben Gelb und Blau, weltweit führte die APOC für ihre Marke BP Gelb und Grün ein. Die Zahlenfähnchen an der Dachentlüftung konnten je nach Säulenstandort auch an den Seiten montiert werden. Sie zeigen den aktuellen Preis der beiden erhältlichen Kraftstoffe (Quelle: Historisches Archiv BP/Aral in Bochum, Mail vom 12. August 2021 an den Autor auf dessen Nachfrage).
Die Olex eröffnete 1922 in Deutschland die erste Tankstelle, und zwar in Hannover. Das Benzin der Firma hieß in den 1920er Jahren Strax, das Öl Olexol, dagegen Olexin das seit 1923 angebotene Benzin-Benzol-Gemisch.
Olex und ihre Konkurrentin Deutsche Petroleum-Verkaufs-Gesellschaft mbH fusionierten 1926. Und wie war die Marktlage 1929, als in Lienzingen die zweite Zapfsäule montiert wurde, aus der Sicht der Unternehmen? Die Deutsche Petroleum AG (Olex) in Berlin schloss das Jahr mit einem Gewinn von 1,657 Millionen Reichsmark ab, die Deutsch-Amerikanische Petroleum-Gesellschaft mit 3,8 Millionen Reichsmark. Letztere bewertete das Jahr doch um einiges besser als die Deutsche Petroleum AG.
Die DAPG nannte den Absatz zufriedenstellend, insbesondere zeige sich entsprechend der Zunahme des Autoverkehrs eine weitere Steigerung des Verbrauchs an Autobetriebsstoffen. Die Weltmarktpreise der Mineralöle seien stabil gewesen. Nur die Tankdampferfrachten zeigten ein ständiges Anwachsen. Zwar berichteten Vorstand und Aufsichtsrat bei der ordentlichen Generalversammlung der Olex am 26. Juni 1930, mittags 12 ½, im Sitzungssaal der Gesellschaft in Berlin-Schöneberg, die Rohölproduktion habe sich zufriedenstellend entwickelt. Leider stehen diesem erfreulichen Umstand niedrige Preise für unsere Produkte gegenüber. Die Olex habe sich normal entwickelt. Fazit: Es könnte aber besser sein (Quelle: Pressemappe 20. Jahrhundert - wirtschaftshistorisches Online-Archiv).
Das erste Tankstellenverzeichnis in Deutschland erschien 1909 und listete 2500 Drogerien, Kolonialwarenhändlern, Fahrradhandlungen, Hotels und Gaststätten auf, die Benzin verkauften. 1935 sorgten im Deutschen Reich 56.000 Zapfstellen, dass leere Tanks wieder aufgefüllt werden konnten, davon 32,7 Prozent von der DAPG sowie 10,9 Prozent von Olex. Heute sind es in Deutschland 14.089 reine Tankstellen.
Eine Folge des gewaltigen Wachstums der Pkw-Zahlen – dieses neuartige Fortbewegungsmittel hatte Carl Benz 1886 als Patent angemeldet, Ford stieg 1913 in die kostensenkende Fließbandproduktion ein. 1922 rollten auf Deutschlands Straßen 82.700 Personenkraftwagen (Pkw). Ihre Zahl stieg von 1924 bis 1932 von 132.000 auf fast eine halbe Million. Aber eine im Verhältnis zu heute doch bescheidenerer Anzahl. Was damals niemand zu träumen wagte: Für Ende 2020 meldete das Kraftfahrzeug-Bundesamt in Flensburg rund 48,2 Millionen Pkw.
Keine verlässlichen Zahlen über die Motornisierung in Lienzingen
Karl Brodbeck behielt in der Tendenz recht, auch wenn er wohl kaum solche Größenordnungen erwartet hatte. Ein kurzer Blick auf die lokalen Zahlen: 1962 waren im Altkreis Vaihingen, zu dem Lienzingen gehörte, 14.566 Kraftfahrzeuge registriert, davon fast die Hälfte Pkw – ein Jahrzehnt zuvor war es ein Zehntel dessen. Inzwischen sind allein in Mühlacker deutlich mehr Blechkarossen zugelassen: 2021 genau 19.867 Kfz, davon 16.458 Pkw (Kuhnle, Friedrich in: Der Kreis Vaihingen, Aalen. 1962, S. 20f und Statistik Baden-Württemberg, Regionaldatenbank, 2021, im Internet).
Und wie viel Pkw waren in Lienzingen registriert? Verlässliche Zahlen fehlen. Doch in einer ablehnenden Stellungnahme der Bezirksfachabteilung Treibstoffe und Garagen der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel in Stuttgart zur geplanten Erweiterung der Tankstelle Hauptstraße 111 vom 2. Juli 1937 heißt es, in Lienzingen seien nur zwei Kraftfahrzeuge vorhanden. Kundschaft brachte demnach vor allem der Durchgangsverkehr.
Hauptstraße 111: Am 17. Juni 1929 hatte die Deutsch-Amerikanische Petroleum-Gesellschaft (DAPG). in Mannheim das Schultheißenamt Lienzingen/Wttbg. hochachtend über seine Pläne informiert, eine Straßen-Dapolin-Pumpanlage Z 5 nebst unterirdischer Lagerung von 3000 Liter Benzins zu bauen. Die Sicherung der Anlage erfolge unter Anwendung der modernsten technischen Einrichtungen gegen Explosion und Entzündung des Tankinhalts. Diese Anlagen hätte den Vorteil, dass die feuergefährliche Flüssigkeit direkt aus dem unterirdischen Tank in den Kraftstoffbehälter des Fahrzeuges abgegeben werde, ohne Eimer, Kannen und Trichter zu verwenden, so dass das Benzin mit der Luft nicht in Berührung komme. Betreiben wollte diese Station die Witwe Friederike Lehr, die gleichzeitig mit Milch handelte. Die Zapfsäule sollte direkt vor der Haustüre montiert werden, wie der Lageplan zeigte.
Wie schon bei der Olex-Tankstelle stellte sich der Gemeinderat am 6. Juli 1929 hinter die Absicht, das Württembergische Oberamt Maulbronn gab der DAPG am 18. Juli 1929 grünes Licht mit dem Hinweis, die explosionssicher zu schaltende elektrische Beleuchtung sei noch anzuschließen. Auch hier findet sich in den Akten des Staatsarchivs Ludwigsburg die Postzustellungsurkunde für die schriftliche Erlaubnis. Der Württembergische Revisions-Verein in Stuttgart bescheinigte am 16. Oktober 1929 die Abnahme und die Ordnungsmäßigkeit der Anlage.
Keineswegs so reibungslos und zügig wickelten die Behörden den Antrag der DAPG vom 30. Juni 1937 an das Oberamt Maulbronn ab, die in Vaihingen bei der Firma G. Engel Schwanenbrauerei bestehende Tankanlage für den Verkauf des Benzin-Benzol-Gemisches Esso, bestehend aus einem Zapfständer Type B 10 mit einem 2000-Liter-Tank nach Lienzingen aufs Anwesen Lehr zu verlegen. Gleichzeitig sollte der Zapfständer gegen einen des Typs Z 5 und den 2000-Liter-Tank gegen einen 3000-Liter-Kessel ausgetauscht werden. Der Landrat in Maulbronn forderte von Bürgermeister Brodbeck eine Stellungnahme unter dem Gesichtspunkt an, ob ein dringendes Verkehrsbedürfnis anzuerkennen und eine wesentliche Beeinträchtigung des Absatzes benachbarter Tankstellen nicht zu erwarten sei. Gleichzeitig wollte er Aufschluss darüber, welches Geschäft Frau Lehr betreibt und wo die nächste Tankstelle ist.
Front gegen die Pläne machte die Bezirksfachabteilung Württemberg-Hohenzollern der Fachabteilung Treibstoffe und Garagen, eine Untergliederung der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel in Stuttgart, und die Kfz-Innung. In einem Brief vom 2. Juli 1937 an den Landrat heißt es, die Verlegung entspreche keinem dringenden öffentlichen Verkehrsbedürfnis. Die Mitglieder der Fachabteilung bemängelten zudem die Verlegung zu einem artfremden landwirtschaftlichen Betrieb, womit dem Kraftfahrer nicht gedient sei. In der näheren Umgebung der Gemeinde Lienzingen sei das Tankstellennetz außerordentlich stark besetzt. Diese Verkaufsstellen seien überwiegend in den Händen von Fachleuten, also Kraftfahrzeughandwerkern, welche ausschließlich auf den Verdienst aus der Tankstelle angewiesen seien. Bei Lehr in Lienzingen reiche der Verkauf von Standard-Benzin vollkommen aus.
In der Antwort vom 27. Juli 1937 verteidigte DAPG ihre Pläne und widersprach der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel. Das Unternehmen sah ein dringendes Bedürfnis für eine Esso-Pumpe in Lienzingen, um Benzin-Benzol-Gemisch verkaufen zu können. Der bisher in Kannen erzielte Absatz in dieser Sorte habe sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Die DAPG räumte ein, dass die Firma Lehr kein Fachgeschäft sei, aber in ganz Lienzingen und Umgebung gebe es keinen Fachmann. Friederike Lehr habe alle ihre Äcker, die sie bewirtschaftet habe, verpachtet, so dass sie sich voll auf das Tankstellen-Geschäft konzentrieren könne.
Friederike Lehr, geborene Kuhn, die aus Kleinsachsenheim stammte, verkaufte nicht nur Benzin, sondern betrieb auch einen schwunghaften Handel mit Milch. Wie viel Stück Vieh sie im Stall stehen hatte? Nirgends gibt es eine Zahl. Bei dem Pro und Contra um die Erweiterung wurde immer klarer, dass sie sich verpflichten soll, sich auf die Tankstelle zu konzentrieren und dieses Geschäft hauptberuflich zu betreiben. Sie hatte darauf auch wie gewünscht reagiert. Das Schultheißenamt Lienzingen teilte dem Landrat in Maulbronn mit, Lehr habe gut drei Hektar im Eigentum und das Gros inzwischen verpachtet (Schreiben vom 6. September 1937). Nach Kriegsende nahm sie den Milchhandel wieder auf, war auch in Mühlacker mit einem von Pferden gezogenen Pritschenwagen unterwegs.
IHK Stuttgart: Kundschaft besteht nur aus Durchfahrenden
Keine Einwände gegen den Abbau in Vaihingen und die Erweiterung in Lienzingen hegte das Straßen- und Wasserbauamt Ludwigsburg (Schreiben vom 10. Juli 1937). Allerdings solle in Lienzingen die gesamte Anlage zwei Meter von der Straße abgerückt werden. Im August 1937 meldete sich auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Stuttgart mit einer positiven Stellungnahme zum Antrag. Die Kundschaft bestehe nur aus Durchfahrenden, demgegenüber sie die Zahl der Kunden aus dem eigenen Dorf ganz unbedeutend. Die IHK verwies darauf, dass bislang der Verkauf von Esso in Kannen erfolge. Der monatliche Umsatz liege bei 300 Litern. Gefahren für die Konkurrenz in Lienzingen, Maulbronn und Illingen bestünden nicht.
Das Württembergische Wirtschaftsministerium ließ Anfang November 1937 den Maulbronner Landrat wissen, Lienzingen liege noch innerhalb einer Zehn-Kilometer-Zone der Reichsautobahn Stuttgart-Karlsruhe. Gleichzeitig kündigte das Ministerium an, die Akten dem Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen vorzulegen. Dessen Aufgaben waren die Förderung des Baus von Reichsautobahnen sowie den Ausbau und die Unterhaltung eines effektiven Netzes von Reichsstraßen und Landstraßen 1. und 2. Ordnung. Chef der Behörde: der aus Pforzheim stammende Fritz Todt.
Die Sache zog sich immer weiter hin. Der Landrat forderte am 22. Dezember 1937 eine Äußerung von Kreisbaumeister Aeckerle in Mühlacker an. Immer wieder trafen Nachfragen der DAPG bei den Behörden nach dem aktuellen Stand ein, mehr als ein halbes Dutzendmal. Anfang 1938 fehlte der Ortsplan Lienzingen im Maßstab 1:100.000, er war verloren gegangen und musste nochmals ans Oberamt geschickt werden. Der Hinweis der Antragsteller, durch die Verlagerung der Tankstelle von Vaihingen nach Lienzingen ändere sich an der Gesamtzahl der Zapfsäulen nichts, verfing nicht.
Am 8. April 1938 traf die Absage aus dem Wirtschaftsministerium in Stuttgart ein. Der Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen habe seine Zustimmung im Hinblick auf die Belange der Reichsautobahn versagt. Eine Rückfrage des Maulbronner Landrats beim Lienzinger Bürgermeister Brodbeck vom 10. November 1937 lässt den Hauptgrund der Ablehnung vermuten. Es sei an ihn zu berichten, so der Oberamtschef, ob und in welchem Maße die Durchgangsstraße in Lienzingen auch als Zubringerstraße zu der Autobahn in Betracht komme. Sprit sollte wohl nach dem Willen des Deutschen Reiches schwerpunktartig für den Verkehr auf den neu gebauten Autobahnen und die Zubringerstraßen eingesetzt werden.
Nicht festzustellen ist, wann die beiden Tankstellen an der Hauptstraße ihren Betrieb einstellten. Die wenigen Zeitzeugen erinnern sich, dass sie das Kriegsende 1945 nicht überstanden haben (Angabe Dieter Straub, August 2021, Gespräch mit dem Autor). Tatsächlich blieben die Fundamente zunächst im Boden, waren nicht mehr sichtbar, wurden erst 1990/91 beim Ausbau der Ortsdurchfahrt durchs Land Baden-Württemberg entfernt.
Nach einer längeren tankstellenlosen Pause entschied sich der Schmiedemeister Eugen Lepple 1957, eine BP-Kleinsttankstelle montieren zu lassen - gleich neben seiner Werkstatt gegenüber der Kelter in der Zaisersweiherstraße (damals Hauptstraße 149). Bauherr war Lepple, die BP Benzin- und Petroleum Gesellschaft – Verkaufsabteilung Stuttgart – lieferte die Technik für jeweils 3500 Liter Mineralöl, so einen unterirdischen Behälter sowie einen senkrecht angeordneten, teilweise im Boden eingebauten Behälter. Letzterer ragte bis zum Domdeckel etwa 400 Millimeter aus dem Boden heraus. Es gab nur eine einzige Zapfsäule. Der Hersteller des Herzstücks der Anlage: die Tankbau Junger & Co. In Siegen, Anlage Nummer 1026. Das Straßenbauamt Besigheim stimmte unter der Bedingung zu, dass die von ihm im Schreiben vom 29. August 1957 (Aktenzeichen IV/1c-4025) genannten neun Punkte berücksichtigt werden, darunter eine bepflanzte Schutzinsel parallel zu der Zaisersweiherstraße, auf dem Eigentum von Lepple, als optische Abtrennung, Das Landratsamt Vaihingen genehmigte Mitte September 1957 das Projekt. Der TÜV Stuttgart e.V. nahm die Anlage im Februar 1959 ab, die Beanstandungen wurden bis Anfang März erledigt, wie der TÜV dem Landratsamt Vaihingen mitteilte, das wiederum den Betrieb vom 1. Mai 1959 an erlaubte. Diese Anlage bestand bis 1980.
Eugen Lepples Enkel Bernd verlegte den Betrieb 1996 an die Schelmenwaldstraße. Bernd Lepple führt den Familienbetrieb in der vierten Generation. 1923 gegründet, ist Metallbau Lepple der älteste noch vorhandene Handwerksbetrieb von Lienzingen (STAM Acc 12-1999, Nr. 51).
Die 1951 fertiggestellte Umgehungsstraße im Zuge der B 35 lockte Investoren: im November 1959 reichte die Firma Oest Caltex KG in Freudenstadt eine Bauvoranfrage zu Errichtung einer Tankstelle an der Bundesstraße ein. Doch das Straßenbauamt Besigheim machte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung. Noch im selben Monat gab es einen ablehnenden Bescheid. Da die Tankstelle an der Außenstrecke der B 35 geplant sei, würde sie unmittelbare Zufahrten zu dieser Straße benötigen. Das Bauvorhaben stehe somit Im Widerspruch zu den gesetzlichen Bestimmungen für den Anbau von Verkehrsstraßen. Die Voraussetzungen für die Zulassung eine Ausnahme sei im vorliegenden Fall wegen erheblicher verkehrstechnischer Bedenken nicht gegeben. Dem Bauvorhaben können daher eine Zustimmung der obersten Landesstraßenbaubehörde nicht in Aussicht gestellt werden.
Damit endete das Kapital Lienzingen, das Auto und die Tankstellen. Thema heutzutage ist eher die Frage, wie viel Auto verträgt das Land. Aber das ist keine speziell Lienzinger Thema.
Nachtrag: Fast wäre 1970 an die Tankstellen-Geschichte von Lienzingen angeknüpft worden. Die Pforzheimer Frank Siegel und Leo Müller legten dem Landratsamt in Vaihingen eine Bauvoranfrage für das Grundstück Friedenstraße 26 vor. Sie wollten ein zwei- bis dreigeschossiges Wohn- und Geschäftshaus mit flachgeneigtem Satteldach bauen. Im Erdschoss sollte ein Kosmetiksalon entstehen – und eine Tankstelle! Das vorhandene Wohn- und Scheunengebäude hätte abgebrochen werden müssen. Das Vorhaben war auch Thema bei der Kreisbereisung im Januar 1970 mit Oberregierungsrat Dr. Heinz Reichert, dem späteren Enzkreis-Landrat, an der Spitze. Nachdem aber danach Funkstille entstand, forschte die Kreisverwaltung im Juni 1970 nach dem Schicksal der Planung. Umgehend ließ Lienzingens Bürgermeister Richard Allmendinger die Behörde in Vaihingen urschriftlich wissen, dass durch den plötzlichen Tod eines der Beteiligten das Projekt nicht zur Ausführung kommt. Übrigens: Dieser Standort war auch einige Zeit als Bauplatz für ein neues Rathaus im Gespräch. Aber auch diese Pläne landeten im Papierkorb.
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Hans am :