Als der Hirsch-Saal die Gemeindehalle war - und andere Geschichten rund um das Fachwerkhaus, das 2025 seit 300 Jahren steht

2023: Mit besonderer Note: rundum mit Hölzer verkleidetes Nebenzimmers des Hirsch. Für die Täfelung sind mehrere Holzarten verwendet worden, wie der Lienzinger Revierförster Bernd Obermeier feststellte. (Fotos: Antonia Bächle)

Der Lienzinger Hirsch, Gastwirtschaft mit viel Seele, noch größerem Charme, langer Tradition, vor allem mit einer fast 300-jährigen Geschichte. Ein stattlicher Fachwerkbau eines hierzulande seltenen Gebäudetyps, den eines Dreiseitgehöfts. Baujahr: 1725. Ein höchst seltenes Jubiläum, das 2025 gefeiert werden kann. In all diesen Jahren blieb das Anwesen an der heutigen Knittlinger Straße/Ecke Herzenbühlstraße durchweg in Familienbesitz. Schmidgall, Lindauer, Scheuerle, Geißler…  

Im Jahr 2023: Werbung vor dem Fachwerk in doppeltem Sinne (Foto: Antonia Bächle)
Etwa 80 Jahre früher: zum Hirsch mit Blick auf den späteren Nachtwächter (aus der Sammlung Familie Geißler)

Lange war das Lokal – nach meiner Erinnerung - der Lieblingstreff der Lienzinger Honoratioren, die seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vor allem im holzgetäfelten Nebenzimmer den Trollinger oder Lemberger, vielleicht auch einen Silvaner vom heimischen Eichelberg schlotzten, davor ein Bier. Gestandene Mannsbilder, selten in weiblicher Begleitung, gönnten sich eine deftige Vesper oder einen Rostbraten, um hernach geruhsam die Zigarren-Kringel in die Luft steigen zu lassen.  Dabei ließ sich trefflich debattieren, die neueste Sau rhetorisch durch das Dorf treiben.

Doch noch vor der Eingemeindung von Lienzingen im Juli 1975 nach Mühlacker setzte ein Wandel ein.

 
2023: Farben- und Lichtspiele

Der Hirsch trotzte der Trendwende, er blieb in seiner Zeit stehen. Denn Gaststube und Nebenzimmer schauen 2024 noch genauso aus, wie 1957, damals nach den Plänen des Pforzheimer Architekten Edgar Fritz saniert und neugestaltet – mit fachlicher Unterstützung der Stuttgarter Hofbräu AG, womit wir auch wissen, an welchem Bier sich diese Lienzinger labten.

Fast 70 Jahre liegen dazwischen. Der Hirsch blieb unverändert, legte Patina an und hat so einen fast musealen Charakter, der ihn weitgehend einzigartig macht. Er fiel mit der Zeit aus der Mode, doch gleichzeitig wirkte er modisch wie gemeinhin ein Magnet, der die Leute anzieht. Wer den Gastraum betritt, fühlt sich gleich wie daheim.

Der Hirsch fand Pächter und somit eine neue Rolle als Kneipe. Frank Becker, im Hauptberuf Sozialarbeiter, machte 1992/93 mit Kumpeln ihn zur Szenen-Kneipe, die Treffpunkt war vor allem für junge Leute. Die Spezialität: Flammkuchen. Hobby-Gastronom Becker soll die Zutaten auch schon mal direkt aus dem Flammkuchen-Mekka Elsass geholt haben. Ausreichend war, täglich, außer monatgs, von19 Uhr an zu öffnen. Kurze Zeit später übernahm Jürgen Schwenkel, ein junger Lienzinger. Heute noch Wirt, im dritten Jahrzehnt- Er sagt offen, inzwischen davon leben zu können.  Musikkneipe nennt der eher ruhige Chef in Küche und an Theke sein Lokal sowohl in der analogen als auch der digitalen Welt. Die Kommentare auf Facebook & Co fallen durchweg gut aus.  Noch so eine richtige Dorfwirtschaft auf dem Land, die es leider immer weniger gibt. (…) Urig. Genial. Einer euphorisch:  Ich liebe es. Zwar kann die Speisekarte auf Schwäbisch selbst bei Schwaben zu Übersetzungsbedarf führen, doch, das macht nichts! Und die Preise für Flammkuchen, einem Oimer voll buntem Salat, Schnitzel, Kässpätzle? Einfach günstig. Diese kleine Aufzählung klärt die Schwerpunkte der Speisenkarte deutlich.

Und dies in historisch wertvoller Kulisse – der Hofanlage in Form eines geschlossenen Dreiseitgehöfts, bestehend aus dem giebelständigen Gasthaus und nördlich anschließender Scheune mit Schopf und Holzlege. In der historischen Ortsanalyse der amtlichen Denkmalpfleger des Landes, zusammen mit dem Fachbüro Strebewerk Riegler Läpple in Stuttgart 2011 vorgelegt, schwärmen die Experten von dem zweigeschossigen Hauptgebäude über einem hohen massiven Sockelgeschoss mit Kellerrundbogentor und Erdgeschoss mit Eckbuckelquadern, ab dem ersten Obergeschoss in Fachwerk ausgeführt. Nach oben mit zwei Dachgeschossebenen und Spitzboden unter einem Satteldach abschließend. Das Obergeschoss und die Giebel springen vor, so die Beschreibung, und sind mit sichtbaren Balkenköpfen, Eckpfosten mit Wickelstab und ornamentierten Füllhölzern versehen, die Datierung am Schlussstein des Hoftorbogens und dem Wappen mit springendem Hirsch über der Kellertür weist auf 1725.

Hirschwirt Jürgen Schwenkel hinter der Theke. Seit 30 Jahre sorgt er für die Marke Musikkneipe Hirsch
Hirsch, ein seltener Typ des Dreiseitgehöfts.

Die Hofanlage gilt als ein repräsentatives Dokument des historischen Hausbestandes des 18. Jahrhunderts mit einem für die damalige Zeit typischen Zierfachwerk in Lienzingen und zugleich als ein seltener Vertreter des Dreiseitgehöfts. Ein Kulturdenkmal (...) wegen seines dokumentarischen und exemplarischen Wertes im besonderen öffentlichen Interesse. Letztlich zählt sie auch zu den Gründen für Gemeinderat und Regierungspräsidium, den mittelalterlichen Ortskern 2012 in der so genannten Etterdorf-Lienzingen-Satzung als Gesamtanlage unter Schutz zu stellen.

Die Gaststube - so wie 1957 neu eingerichtet

Nein, man muss sich nicht fühlen wie ins Mittelalter gebeamt. Alles wirkte aus der Zeit gefallen, reihenweise Fachwerkhäuser hinter Kopfsteinpflaster, schrieb Ronald Schulz am 16. Juli 2020 im Magazin der Süddeutschen Zeitung zum Ambiente der Knittlinger Straße, wobei sein Thema der Nachwächter gegenüber war – nicht Konkurrenz, sondern Alternativprogramm zum Hirsch. Im Schein seiner Fenster sah der Gasthof aus wie eine Stätte aus einer Märchenwelt. Die Straßen so leer! Leer? Irgendwie finden sich täglich, vor allem abends, geparkte Autos reihenweise.

Blick ins Nebenzimmer

Einstens war der Hirsch Gaststätte mit Fremdenbetten und Saal. Letzterer ersetzte bis 1967 den Lienzingern, wie in anderen Dörfern auch, die kommunal eigene Turn- und Festhalle. Das war etwas für das Herz der Neoliberalen, die immer sagen, der Staat müsse nicht alles selbst erledigen und der Markt regle alles: Privates Kapital ermöglichte einen Saal, verdient an Speis und Trank für Besucher eines Vereinsfestes oder wie am 16. November 1963, abends 20 Uhr, der Bürgerversammlung zum geplanten Verkauf eines mehr als acht Hektar großen Waldstücks an die Stadt Mühlacker. Die Gemeinde dagegen muss nichts investieren, sondern nur reservieren. Allerdings achtete die Kommune auch für eine gewisse Ausgewogenheit. So legte der Gemeinderat am 19. Januar 1955 fest, die beiden Brennholzverkäufe fänden heuer in den Sälen von Hirsch und Adler statt, der Stammholzverkauf im Lamm (STAM, Li B 325, S. 3).

In meiner Erinnerung ist der Hirsch-Saal mit einer verpatzten sportlichen Präsentation meinerseits verbunden. Unsere dreiköpfige Familie wohnte von 1952 bis 1957 in dem Kontzi’schen Fachwerkhaus unterhalb des Gasthauses zum Lamm, an der Ecke zur Brühlstraße. An einem Tag im Dezember, es mag 1955 gewesen sein, eine Schneedecke überzog die Straßen, der Turnverein Lienzingen hatte zur nachmittäglichen Kinderweihnachtsfeier in den Saal des Gasthauses Hirsch eingeladen. Also marschierte ich die Straße hoch, fand es in dem Saal auch wohlig warm. Laut Programm schlugen wir Jungen auf der Bühne hintereinander Purzelbäume, um dem verehrten Publikum zu demonstrieren, was wir das Jahr über in den Übungsstunden im Anbau an der Kelter in der Zaisersweiherstraße gelernt hatten. Ich nahm Anlauf – und landete voll auf dem Bauch. Die Zuschauer fanden die Panne lustig, applaudierten (war möglicherweise der erste in meinem Leben), doch ich genierte mich und rannte nach dem peinlichen Auftritt schnurstracks heim.

Die Theke auch als Erinnerungsstätte

Ja, der Saal hatte auch eine Bühne. Karl Geißler, Gast- und Landwirt, ließ sie 1927 anbauen – laut Genehmigungs-Urkunde für Bausachen (ein) Theaterbühnenraum an sein Wirtschaftsgebäude, Nr. 38. Zwölf Mark kassierte die Gemeinde für die vom Lienzinger Schultheiß Karl Brodbeck unterschriebene Genehmigung. Laut vom Bauherrn verfassten, ausgesprochen detaillierten, peinlichst genauen dreiseitigem Voranschlag kostete der Bau der Bühne 2481 Mark und 73 Pfennige. Heute wäre das Vierfache nötig.

Postkarte, oben links der Hirsch

Seine Tochter Marianne (verheiratete Mulfinger) erinnerte sich in einem Zeitzeugen-Gespräch zum 1250-Jahr-Jubiläum von Lienzingen:

Beliebt: die Sitzbank. (Hier endet die Foto-Strecke von Antonia Bächle)
Schicht für Schicht

Der große Saal erstreckte sich über die gesamte Hauslänge entlang der Herzenbühlgasse. Dort wurden Jagdgesellschaften, Holzverkäufe und Kirwen ausgerichtet. Der Saal war bis zum Bau der Festhalle 1967 auch der Ort der Lienzinger Festlichkeiten. Marianne listete auf: zum Beispiel Weihnachtsfeiern der Schule, der Vereine, wie Gesangverein und Turnverein, und Hochzeiten. Lange Wege mussten zurückgelegt werden, um das Essen von der Küche unten nach oben in den Saal zu tragen.  Marianne erzählt: Da sind wir geschläppelt!!! Im Saal konnten bis zu 80 Gäste Platz finden, bei Filmvorführungen in den 50er Jahren bedeutend mehr. Oft stand Rosa Geißler bei Veranstaltungen im Hof und schaute sorgenvoll nach oben. Sie machte sich Sorgen wegen der Belastung des Saales durch die vielen Menschen und manchmal wackelte es bedenklich. Dabei wurde auf der im Saal befindlichen Bühne oft Theater gespielt, gesungen und geturnt.

Gerne schlichen sich Marianne und ihr Bruder Hans in den Saal und lauschten interessiert den Proben für die schwäbischen Theaterstücke, bis die Eltern sie wieder suchten. Auf der Bühne standen Kulissen und ein Klavier. Oft kam die Musikkapelle von Lienzingen und es wurde getanzt. Der Saal konnte im Winter nur schwer und mit großem Aufwand beheizt werden. Dafür wurde ein großer Kanonenofen auf dem Dachboden genutzt, der schon früh angefeuert werden musste und manchmal sogar glühte. Oft lief an den Fenstern das Wasser hinunter, auch wegen der vielen Menschen.

Den Saal gibt es seit etwa einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Im Sommer 1963 übernahm Hans Geißler die Gastwirtschaft, nachdem seine Mutter Rosa Geißler gestorben war.

1957: Das Nebenzimmer frisch aufgemöbelt (Foto: Frischkorn, Sammlung Familie Geißler und Stadtarchiv Mühlacker)
Ebenfalls ein Frischkorn-Foto von 1957: Der Gastraum

Diese Nachricht vom Eigentümerwechsel fand Eingang selbst ins Protokollbuch des Gemeinderats von Lienzingen. Denn in der Sitzung am 16. August 1963 musste sich das Gremium zum Antrag von Hans Geißler zum Weiterbetrieb äußern. Die Stellungnahme fiel positiv aus (STAM, Li B 325, S. 221). Hans war der Sohn von Karl und Rosa Geißler. Wiederum der Sohn von Hans trägt den Vornamen seines Vaters, heißt also auch Hans. Letzterer heiratete Martina Vinçon aus Kleinvillars. Sie bauten sich 1997/98 einen Teil des Hirschs zu einer gemütlichen Wohnung um – der der Saal zum Opfer fiel, der aber zuvor etwa 30 Jahre lang ungenutzt blieb.  

1926: Antrag für die Bühne, die an den Saal angebaut wurde

Die Geißlers und der Hirsch – fast eine eigene Geschichte. In die Pflicht genommen: Karl Geißler musste nach dem Tod von Vater Gottlob (1900) und Mutter Marie (1917) Gasthaus und Landwirtschaft weiterführen, erzählte seine Tochter Marianne Mulfinger. Eigentlich hätte er sich wohl auch anderes vorstellen können als Lienzingen. Er war der Zweitälteste, hatte Abitur. Täglich ging er zu Fuß ins Gymnasium nach Dürrmenz, nach dem Unterricht zu Fuß wieder zurück. Er lernte Bankkaufmann in Pforzheim, wollte Neues kennenlernen, reiste viel, war weltmännisch. So gibt es ein Bild aus Anfang der zwanziger Jahre, das ihn in Wien zeigt.

Karl brachte, zusammen mit seiner Frau Rosa aus Haberschlacht, Schwung ins Geschäft, auch mit Übernachtungen. So stellte ihm am 24. Mai 1917 das Königliche Oberamt Maulbronn eine Wirtschaftserlaubnis aus. Durch Beschluss des Bezirksrats durften in Lienzingen, Hauptstraße 37 zum Hirsch, in drei Zimmern des Erdgeschosses und ersten Stockes sowie in den der Fremdenbeherbergung dienenden Zimmern Fremde beherbergt werden - neben dem Betrieb der Gastwirtschaft.

Noch heute befindet sich das Buch, in denen sich die Gäste eintragen mussten, im Familienbesitz. Martina und Hans Geißler hüten es wie ihren Augapfel. Marianne Mulfinger war Zeitzeugin. Sie sagte: Durch Karls Geißlers Kontakte ging im Hirsch ein großes Publikum aus nah und fern ein und aus. Die Gäste übernachteten in den Gästezimmern und in einem heute noch existierenden Fremdenbuch kann man nachlesen, wer wann im Hirsch übernachtet hat. Das Fremdenbuch wurde von 1931 bis 1956 von Karl Geißler geführt und regelmäßig vom Bürgermeister abgezeichnet. Die meist männlichen Gäste (auch weibliche waren dabei) mussten Name, Personenstand, Beruf, Geburtstag, Geburtsort, Wohnort und Staatsangehörigkeit angeben. Eingetragen wurde selbstverständlich auch der An- und Abreisetag. Die Übernachtungsgäste im Hirsch kamen oft von weither mit dem Zug und zu Fuß, so Marianne Mulfinger.

Gute Stimmung im Hirsch-Saal: Mühlackers Bürgermeister Erich Fuchslocher (sitzend vor dem Fenster) freut sich. Aufnahmejahr und -anlass sowie Fotograf unbekannt. Fuchslocher stand von 1951 bis 1966 an der Spitze der Senderstadt

Hier ein kleiner Auszug der angegebenen Berufe. Die Auflistung zeigt, was für Menschen im Hirsch ein- und ausgingen und damit auch durch Lienzingen kamen:

Vertreter, Beamter, Kaufmann, Ingenieur, Arbeiter,  Baumeister, Eichbeamter, Kellner, Hüttendirektor, Wanderlehrerin, Bürstenmacher, Haustochter, Chemiker, Bergmann, Agentin, Bühnenbildner, Graphiker, Veterinär und Adjutant, Inspektor, Bergmann, Tonfilm Vorführer, Student, Musiker,  Inspektor, Kraftfahrer,  Händler, Orgelbauer, Förster, Physiker, Monteur, Mechaniker, Bäcker, Arzt, Kartograph, Fotograph, Kulturhausführer, Klaviertechniker, Rektor, Studienrat, Revisor, Klaviertechniker, Laborant, Forstmeister, Museumsdirektor …

Erhalten geblieben

Der Hirschwirt hatte Ideen, wollte auch Neues wagen.  So schickte er sich im Frühjahr 1939 an, bei der Asperger Eisschrankfabrik Carl Fink für die Gaststube ein neues Wirtschaftsbüfett zu kaufen. Dazu lieferte er eine Zeichnung, nannte exakt Größen, Länge (230 Zentimeter), zu verwendendes Material (Kiefer- und Fichtenholz) und schrieb die Anordnung der Teile vor: Zuerst eine Kasse, darunter eine Brotschublade, unter dieser ein Kühlraum, Türe links angeschlagen. Dann folgt ein ausziehbarer Eisraum, Wasser zum Ablassen und Ableiten gerichtet, alsdann ein Fassraum für Fässer bis 50 Liter Inhalt liegend auf Fassrollungen anzustechen, ganz rechts ein Trockenraum. Eis-Fink bestätigte den Auftrag unter der Nummer 100994. Der Preis: 492 Reichsmark bei Eichenholzplatte, 416 RM bei Chromstahlbelag. Zweite Bestellung: eine Schanksäule Nr. 756. Insgesamt bezahlte Geißler um die 2000 RM, feilschte dann aber noch um Prozente, wollte einen Nachlass von 30 Prozent, musste sich wohl mit 15 zufriedengeben.

Nicht immer fielen Investitionen auf Zustimmung. So lehnte der Gemeinderat am 2. Dezember 1960 die WC-Umbaupläne von Karls Witwe Rosa ab. Sie und ihr Sohn Hans wollten Spülklos in das Gasthaus einbauen, deren Schmutzwasser zusammen mit dem häuslichen Abwasser in einer mechanisch-biologischen Kläranlage reinigen und dann in den Wassergraben am Ortsweg Nr. 3 abfließen lassen. Das Gremium befürchtete lästigen Geruch und im Winter verkehrsgefährdende Vereisungen der 200 Meter langen Straße. Das Ortsparlament wehrte sich gegen die zu erwartenden Unannehmlichkeiten und drängte auf die geschlossene Grube (STAM, Li B 325, S. 68). Hans Geißler sen. unternahm 1967 einen erneuten Anlauf mit neuen Plänen, die der Mühlacker Architekt Alfred Illenberger dem Bauamt vorlegte.

Auftrag für Eis-Fink in Asperg

Bau- und Familiengeschichte hängen beim Hirsch eng zusammen. Die Story begann 1717, als die Witwe Jacobina 1692-1776), geborene Geißler, Johann Jacob Schmidgall heiratete. Es war ihre zweite Ehe. Ihr erster Gatte, Gastwirt Simon Siedler, war ein Jahr zuvor erst 29-Jährig gestorben. Sowohl die Sidlers als auch die Geißlers gehörten zu jener Zeit zu den angesehensten Familien, die mehrfach Gerichtsverwandte und Schultheißen stellten und als Wirte sicherlich recht begütert waren, schreibt die Historikerin und Mühlacker Stadtarchivarin Marlis Lippik im Ortsbuch von Lienzingen, erschienen 2016 im Verlag Regionalkultur (S. 87 f). Jacobina brachte in den 16 Jahren nach der Eheschließung zwölf Kinder zur Welt.

Das Paar baute 1725 den Hirsch, ein stattliches Fachwerkgebäude an der zeitweisen wichtigsten Durchgangsstraße des Herzogtums Württemberg, gleichzeitig Teilstück der großen Fernverkehrsstraße zwischen Venedig und den Niederlanden. Insofern ein guter Schachzug. Zweimal im Jahr reisten vor allem oberschwäbische Kaufleute zur Frankfurter Messe. Ihre Route führte durch Lienzingen. Der Ort war aber nicht nur ein Ort wie viele andere an der Strecke, die in Lienzingen stationierten Geleitreiter schützten die Händler – natürlich gegen Gebühr – ab Lienzingen bis Knittlingen vor Überfällen. Die Begleitmannschaft bestand in der Regel aus 40 Personen.  Alle ließen Geld liegen im Flecken mit seinen 400 Einwohnern (dazu: Andreas Butz, Frankfurter Route. In: Ortsbuch Lienzingen, 2016. Verlag Regionalkultur. S.  37 f).

Der Durchgangsverkehr brachte Umsatz. Der kleine Ort war attraktiv für Handwerker, aber auch für Gaststätten. Zwei Gassen- und bis zu zwei Schildwirtschaften nennt der Autor und Historiker Konrad Dussel Im Ortsbuch von 2016 (S. 214) für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert für Lienzingen und errechnete, gemessen an der damaligen und heutigen Einwohnerzahl müsste das Dorf heutzutage 15 Lokale haben.  Schildwirte waren wohl Ochsen und Hirsch. Im Gegensatz zu den Gassenwirten durften sie das ganze Jahr öffnen und auch Fremdenbetten anbieten, ebenso Getränke, aber nur kalte Beilagen zum Essen. Schildwirte seien im Ansehen noch über den Bauern gestanden.

Hirschwirt Johann Jacob Schmidgall, Metzgermeister und von 1751 an bis 1755 Schultheiß von Lienzingen, war aber auch Zunftmeister der Metzger im Oberamt Maulbronn, somit über den Ort hinaus bekannt und einflussreich. So musste er zu aller Arbeit auch noch den Wunsch seiner 105 Meisterkollegen erfüllen, unbedingt einen schöneren und größeren Zunftpokal zu beschaffen. Mit dessen Herstellung beauftragte der Hirschwirt 1753/54 den jungen Augsburger Goldschmiedemeister Georg Ignatius Baur (1727-1790). Der neue Pokal konnte sich sehen lassen: 26 Zentimeter hoch und 469 Gramm schwer. Auf dem Pokal wird die Schlachtung eines an einen Pfosten angebundenen Ochsen dargestellt. Schmidgall überlebte den Kauf nur um ein Jahr, er starb 1756 etwa 65-Jährig (dazu: Martin Ehlers, Der Hirschwirt und der Zunftpokal der Metzger im Oberamt Maulbronn. In: Ortsbuch Lienzingen. 2016. Verlag Regionalkultur. S. 79 f).

Schriftstücke aus der Familiensammlung Geißler

Die Gastwirtschaft blieb in der Familie. Sohn Simon Schmidgall (1718-1779) folgte, Anwalt und Hirschwirt, heißt es im Ortsfamilienbuch Lienzingen (OFB). Zwei seiner drei Ehefrauen überlebte Simon: Agnes Dorothea geborene Glück (1723-1760), Maria Sophia Zeller (1742-1762) aus Gochsheim. Ein Jahr vor seinem Tod ehelichte der Witwer Catharina Müller.  Eine der Schwestern von Simon, Margaretha (1723-1743), war mit Johann Christoph Wolff verheiratet, Gastgeber zum Herzog von Württemberg. Erbe von Simon: Christian Heinrich Schmidgall (1746-1805), Sohn aus der ersten Ehe, Hirschwirt, Metzger und Commundeputierter, wiederum von diesem der Erstgeborene, Friedrich Heinrich (1776-1843).

Nun übernahmen nacheinander zwei Lindauer: zuerst Carl Gottfried  (1794-1848), dann Carl Friedrich (1819-1868). Letzterer musste zusehen, wie das gesamte Anwesen 1869 versteigert wurde - die Gründe dafür bleiben unklar. Neuer Chef im Hirsch war nun der Hirschwirt von Dürrmemz, Johann Georg Scheuerle (1820-1874). Er kehrte in seinen Heimatort zurück und gab seine Wirtschaft in Dürrmenz auf. Dann wechselt mit Gottlob Friedrich (1854 bis 1900) der Hirsch in die Geißler-Linie - er hatte Johann Georgs Scheuerle Tochter Marie Wilhelmine (1858-1917) geheiratet. Die folgenden Eigentümer: Karl Otto Geißler (1881-1958), Hans Karl Geißler (1924-1978). und nun wieder ein Hans. 

Wie gefährlich ein Gaststätten-Besuch sein konnte, lässt sich an einem im Lienzinger Familienbuch wiedergegebenen Eintrag zur Todesursache ablesen. Da steht über Mathäus Mamber unter dem 27. Juni 1751: Gestorben, nachdem er den Abend vorher in des Hirschwirths Hauß die Treppen hinuntergefallen und die Hirnschale eingeschlagen hat. (Quelle: Ruth Schneider, Familien in Lienzingen 1693 bis 1910 (OFB), Band 5 der Mühlacker Geschichtshefte und Nummer 16 der Schriftenreihe des Enzkreises. Stadtarchiv Mühlacker).

Zeitzeugin Marianne Mulfinger, geborene Geißler, 1928 im Hirsch geboren, erzählte am 25. Februar 2015 ihrem Neffen Hans Geißler und Martina Geißler unter anderem über Gottlob Friedrich Geißler, die Geschichte des Lokals, der Familie und dem Alltag in Lienzingen. Ein Projekt im Rahmen des 1250-Jahr-Jubiläums von Lienzingen 2016, dessen Texte, Fotos und digitale Gesprächsaufzeichnungen ein Schwerpunkt der von der Stadt im alten Rathaus geplanten Etterdorfstube sein sollten.

Alte Dokumente zuhauf in der Sammlung Geißler: Zum Beispiel von Stellen mit originellen Bezeichnungen

Zuerst war das Rathaus 2016 noch nicht saniert wegen Verzögerung bei den Bauarbeiten, dann räumte die Stadt dem Christbaumständermuseum Vorrang ein. Im November 2019 eröffnet, litt die Einrichtung bald darauf, wie viele andere Museen auch, unter den Folgen der Covic-Pandemie. Wann nun die Stube eingerichtet sein wird, steht in den Sternen.  Doch die Aufzeichnungen über die Gespräche mit Marianne Mulfinger sind auch ortshistorisch interessant.  Deshalb werden sie nun in der digitalen Serie Lienzinger Geschichte(n) meines Blogs im Original veröffentlicht und sie so der Öffentlichkeit gesichert.

Stuttgarter Hofbräu AG plante die Gaststube 1956

Marianne musste schon früh in der Gastwirtschaft helfen. Hinzu kam noch ein kleiner Teil Landwirtschaft, in der Getreide und Anderes zum Eigenverbrauch angebaut wurden.  Mit 14 Jahren war Marianne allein für die Bewirtschaftung des Gartens hinter der Scheune zuständig, da die Mutter keine Zeit mehr dafür hatte. So musste sie alles lernen, bekam aber Hilfe von einem Nachbarn, die sie anwies.

Oft blieb Marianne dann im Haus, während die Eltern und der Bruder auf dem Feld schafften. Kam dann ein Gast, musste sie sich etwas einfallen lassen. Die Mutter kochte vor, so dass immer etwas zum Essen vorhanden war. War dies Mal nicht der Fall, musste das Mädchen selbst etwas organisieren. So kam einmal ein hungriger Herr Schuler. Marianne lief schnell zum Laden zur Schroths Marie und holte etwas für ein Vesper, das sie dann servierte. Sie musste beim Einkaufen in den Läden im Ort immer abwechseln und erinnerte sich an sechs Läden: Laden von Marie Schroth, Anna, Post, Konzi Beck, Benzenhöfer und Hermle.

Seinerzeit schon wie ein Fels in der Brandung?

Wenn im Hirsch jemand Wein verlangte, musste sie den Wein Vierteles weise vom Keller holen. Er lagerte dort in Fässern. Dies waren meist betuchte Leute, denn der Normalbürger konnte sich den teuren Wein nicht leisten. Der Normalbürger trank Most. Zumindest das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Die Getränkekarte der Musikkneipe Hirsch ist der beste Beleg dafür.

Marianne Mulfinger erzählt auch vom Schnapstürle. Damals umschloss eine Sandsteinmauer das Anwesen der Familie Geißler. In der Hofmauer hinter dem Haus war eine kleine Türe, in die man ungesehen hineinhuschen konnte. So kam man von hinten unbemerkt in den Gasthof und jeder kann sich denken, was manche Lienzinger dort spätabends suchte.

Karl Geißler pflegte Freundschaften. So zu Dr. Otto Schneider, 1952 gestorbener Nachkomme der einstigen Lienzinger Brauereifamilie Schneider. Er kam regelmäßig mit seiner Familie zum Essen in den Hirsch, wenn er auf Besuch war. Dann brachte er immer Geschenke mit, einmal bekam Marianne ein Hüpfseil.  Sie berichtet eindrucksvoll vom Erscheinen des promovierten Ingenieurs - Inhaber einer Firma in Ludwigsburg - mit seiner Ehefrau. Wenn sie reinkamen, die Frau mit ihrem großen Hut, dann ist man fast unter den Tisch hinunter vor Ehrfurcht!  

Monsieur Charles nannten ihn Gäste, erinnert sich Walter Schuler (84), Enkel des Firmengründers Friedrich Schuler aus Mühlacker. Er kam mit seiner Familie öfters in den Hirsch. Wirt Karl war reisefreudig, besuchte öfters auch Frankreich.

Fotogalerie: Wer kennt wen auf den Fotos von einer Feier in ausgelassner Stimmung im beliebten Hirsch-Saal? Die Klärung gibt es später.

Lina Ehrenreich (stehend, Mitte) half im Hirsch beim Bedienen

In der Gaststube
Neugierig und heiter - die Runde im Hirsch-Saal in Lienzingen

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