Happy-End am Spottenberg – Eine Lienzinger Geschichte, auch wenn sie zunächst  in Sachsen spielte

Alllein die Briefe von Magda an Arno boten allemal den Stoff, aus dem sich Dramen entwickeln können: Enttäuschung, Eifersucht, Eitelkeit. In Hass umgeschlagene Liebe, wobei die Anwürfe eher einseitig  blieben – sie Furie, er verständnisvoller Ex-Partner. Rache einer Reutlingerin, mit der sich 1959 sogar der Bundesminister des Innern befassen musste. Letztlich spitzte sich alles auf den Vorwurf von ihr zu, er habe sich vom Staat finanzielle Wiedergutmachung erschlichen. Doch der angebliche Skandal verebbte sozusagen auf dem Dienstwege, ohne die Öffentlichkeit zu erreichen. Teil der spannenden Vita von Arno F.,  dem Flüchtling aus Sachsen, der 1957 in Lienzingen  zugezogen war. Ein Stück deutscher, aber auch arg persönlicher Geschichte eines Menschen, der seine letzten Lebensjahre am Spottenberg genoss, weitgehend unbemerkt von den Menschen im Dorf da unten.

Blick vom Spottenberg auf Lienzingen (Foto: Günter Bächle, 2020)

Als Lienzinger Geschichte reicht die Handlung allemal.  Nicht nur, weil mein Jugendfreund Roland Straub und seine Familie die westlichen Nachbarn von Arno am heutigen Schönblickweg waren. Wir Buben schauten öfters bei dem älteren und noblen Herrn und seiner Frau vorbei und hörten ihm fasziniert zu, wenn er zum Beispiel über Briefmarken sprach. Denn er hatte, wie wir meinten, eine Sammlung, die zurecht groß genannt werden durfte. Dass er kein Schwabe war, das registrierten wir durchaus. Arno kam aus Sachsen.

Jüngst stieß ich im Staatsarchiv Ludwigsburg auf den Namen. Da war sie da, die  Neugier. Hinter der Signatur EK 350 II  Bü 1283 verbarg sich der  Wiedergutmachungsfall Arno Fritzsch, Stadtrat a.D., (14a)  Lienzingen/ Mühlacker/Württemberg. Was ist über ihn noch bekannt? Recherchen führten mich auf die Webseite der SPD Limbach-Oberfrohna, mit 26.000 Einwohnern Große Kreisstadt im Freistaat Sachsen, mit Mühlacker durchaus vergleichbar.  Anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums des 1871 gegründeten SPD-Ortsvereines Limbach arbeiteten Genossen die Geschichte auf, stellten sie ins Internet. Fritzsch schrieb seine Erinnerungen im Jahr 1952, überarbeitete sie dann zehn Jahre später. Sie erschienen nach seinem Tod in der Reihe Aus unserer Heimatgeschichte, herausgegeben von Dr. Schnurrbusch, veröffentlicht im Eigenverlag des Herausgebers in Limbach-Oberfrohna im Jahr 1996. Arno  Fritzschs Memoiren geben ein plastisches Bild der Lebensumstände unserer Vorfahren, schreibt der Herausgeber der Schriftenreihe.

Arno Fritzsch in den 20er Jahren (Bild bei SPD-Ortsverein Limbach-Oberfrohna)

Titel eines der Kapitel: Arno Fritzsch stehr für die Limbacher SPD-Strategie der 20er Jahre. Im Dezember 1918, gerade aus dem Krieg zurückgekehrt, trat Fritzsch demnach in die Mehrheits-SPD (MSPD) ein, die geschrumpfte Partei, denn 1917, nach der Revolution Lenins in Russland und dem Streit im Reichstag um die Kriegskredite, spaltete sich die Unabhängigen Sozialdemokratische Partei (USPD) ab, vereinigten sich aber in der Weimarer Republik mit der KPD. In Limbach war die USPD stärker als die MSPD. Fritzsch wurde ein Jahr später schon Stadtverordneter und 1921 Kreisvorsitzender. Der ehrenamtliche Kommunalpolitiker verdiente sein Geld mit einem kleinen, aber gut geführten Versand für Trikotwaren.  Am 8. Mai 1923 machte er aus seinem Ehrenamt den Hauptberuf, denn er wurde zum besoldeten Stadtrat und stellvertretenden Bürgermeister gewählt. Er war der Stratege der Sozialdemokratie in dem 18.000 Einwohner zählenden Limbach. Am 31. März 1933 setzten ihn die Nazis ab.

Arno Fritzsch kommentierte die Entwicklung in privaten und bis dato unveröffentlichten Aufzeichnungen, jetzt im Besitz des SPD-Ortsvereines Limbach-Oberfrohna, von denen Teile nun auf der Web-Seite zum 150-Jahr-Jubiläum zugänglich sind und aus denen diese Zitate stammen.

Es gab aber bei der allgemeinen Verarmung der Bevölkerung als Folge der Geldentwertung, doch einige ganz zeitbedingte dringliche Aufgaben, bei denen meine SPD-Fraktion initiativ wurde. Zum Beispiel die Einführung der Lernmittelfreiheit und die kostenlose Totenbestattung unter anderem, also Dinge, die für die Leute von großer Bedeutung wurden, als der Wert der verdienten Lohngelder unter der Hand von einer Stunde zur anderen zusammenschmolz. Die Einrichtung des der Stadt gehörenden früheren Sanatoriums Bad Grüna als Altersheim lag ihm, so notierte er, besonders am Herzen und es sei gelungen, die Umbaukosten und die Materialien zum Umbau zu beschaffen, so daß der Umbau und die Einrichtung im allgemeinen Geldschwund zuletzt gar nichts gekostet hätten.

Ein Bodenreformer war Fritzsch. Zitat aus dem Text zum 150-Jahr-Jubiläum der SPD Limbach: Als Gründer des Limbacher Ortsvereins der Deutschen Bodenreformer wusste er die neuen Heimstätten- und Bodenreformgesetze der frühen Weimarer Zeit zu nutzen und konnte, da sich wesentliche ehemalige Rittergutsgrundstücke, Felder, Wiesen und Wälder in städtischem Besitz befanden, unnötiges Ansteigen der Grundstückspreise und Spekulation verhindern. Gemeinnützige Baugenossenschaften erhielten Bauland nach Erbbaurecht für sozialen Wohnungsbau. Auf diese Weise initiierte Arno Fritzsch den Bau der Wohnsiedlung Am Quirlbusch. Im Sommer 1926 dann konnten demnach dort 100 Wohnungen in der Siedlung bezogen werden.

Aus Limbachs Heimatgeschichte mit den Memoiren des früheren Stadtrates Fritzsch

Limbach galt laut Fritzsch als kommunistische Zentrale des mittelsächsischen Industriegebiets. Arbeitslosigkeit, die Menschen haufenweise auf den Straßen. Volksküche ernährt viele Familien. Fritzsch weiter: Ein politischer Hexenkessel, aber dank der Uneinigkeit der Arbeiter und durch die Begünstigung des Bürgertums sind inzwischen die Nationalsozialisten auch im Limbacher Gebiet stark geworden. Jede Reichstagswahl bringt ihnen Gewinne an Stimmen. SPD ist schlapp geworden. Die Berliner Führung sei zwar sauber, aber den Dingen politisch nicht mehr gewachsen.

Der Stadtrat weiter: Der Ungeist brutalster Gewalt ist über uns gekommen. Der Stiefelabsatz beherrscht die Straße. (…) Nervenzerreißende Lage für mich, der als Polizeidezernent einer Stadt von 19.000 Einwohnern mit 22 Mann Polizei (von denen mindestens ein Drittel bereits das Nazizeichen unterm Revers haben) so quasi per Prokura die Staatsgewalt zu vertreten hat und seine völlige Ohnmacht kennt.

An den Kollegen im Stadtrat vermisste Fritzsch Rückhalt für ihn, denn da suchte sich jeder erstmal selbst in Deckung zu bringen. Unheimlich  zu erleben, wie bisherige vermeintliche Freunde oder gute Bekannte plötzlich auswichen, (…) oder sonst zu erkennen geben, dass sie in Distanz bleiben möchten. Von 1932 an waren wir als Anhänger der Weimarer Republik völlig politisch vogelfrei (Quelle: Andreas Eichler (Hrsg.) Bürgertum und Industrie im Limbach Land , 1999, Seite 125). Die Memoiren über seine Zeit als Stadtrat erschienen erst 1996, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod.

Rückblickend erhob der ehemalige Kommunalpolitiker die Frage, die wir damals den Buckel hingehalten haben für den Bestand der Weimarer Republik,…ob wir damals aktiv hätten kämpfen sollen mit der Waffe in der Hand, also Bürgerkrieg riskieren. Wir haben diese Fragen ernsthaft erörtert. Am Tage vor seiner Verhaftung durch die Nazis, am 8. März 1933, fuhr er nochmals nach Chemnitz zur Leitung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, das auf der Seite der Weimarer Republik stand.  Doch Reichsbannerführer Max Hofmann war beurlaubt. Das Reichsbanner in Chemnitz war also in den entscheidenden Tagen ohne Führung. Nun, da wusste ich genug. Auch das gehörte zum elenden Bilde in dieser Zeit.

Der Stadtrat erinnerte sich auch daran: Am 9. März 1933 kamen gegen 9 Uhr vier schwer bewaffnete Nazis ins Dienstzimmer von Fritzsch und erklärten ihm, er sei  verhaftet. Er kam mit anderen Gefangenen in den Saal des Hotel Hirsch. Da wurde für etwa 400 politische Gefangene, die man inzwischen zusammengetrieben hatte aus allen Orten des Limbacher Gebietes am Abend Stroh aufgeschüttet für die Nacht. In der Nacht begannen dann vor einem Tribunal von Nazigrößen die Einzelvernehmungen.

Meinen bisherigen Kollegen, den Bürgermeister Winters von der KP, einer der  wirklich politischen Idealisten, die ich bei der KP kennengelernt habe, anständig in seiner Gesinnung, lauter und hilfsbereit, haben die Nazis schon bei seiner Gefangennahme halbtot geschlagen, indem man ihm ein Lenin-Bild über den Kopf schlug, dessen Glassplitter sich in seiner Halsschlagader verfingen, sodass er im Krankenhaus tagelang in höchster Lebensgefahr schwebte.

Im März, Mai und Juni 1933 nahmen ihn die Nazis mehrmals in Schutzhaft.  Im selben Jahr starb seine Frau nach längerer Krankheit. Er baute sich danach in Weinböhla eine neue berufliche Existenz auf – mit der Herstellung von Faltvorhängen. 1942 kam die Einberufung zum Kriegsdienst, Fritzsch geriet in amerikanische Gefangenschaft, kehrte im Juli 1945 heim (aus: W. Schnurrbusch, Arno Fritzsch, 1996. S. 3). Alles weit weg von Lienzingen, dem späteren und letzten Wohnort von Fritzsch. Doch die Geschichte des Mannes begann nicht erst hier. Geschichte ist ganzheitlich, deshalb spanne ich den Bogen so weit. Denn die Flucht 1950 hatte Ursachen, die sich an diesem Leben offenlegen lassen.

Er stamme aus der Chemnitzer Textilindustrie von beiden Elternteilen her, heißt es in seinem Schreiben von Fritzsch vom  11. Juni 1959  an das Landesamt für Wiedergutmachung  in Tübingen. Da war der Streit mit seiner Partnerin bereits  voll entbrannt. Er hatte sie im Jahr zuvor verlassen, nachdem sie seit 1950 eine gemeinsame Wohnung in Reutlingen hatten. Magda holte daraufhin zum Rundumschlag in einem Schreiben vom 5. September 1958 gegen ihn aus, das mit dem Satz endet: Ich behalte mir vor, diesen Brief auch in andere Hände zu geben.  Diese  unverhohlenen Drohung setzte sie in einer Eingabe an den Bundesminister des Inneren um. Nun ging eine Prüfungsorder an das Landesamt, das sich am 5. Juni 1959 schriftlich bei ihm meldete. Der in der Eingabe erhobene Vorwurf: Fritzsch habe die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) lediglich aus wirtschaftlichen und familiären Gründen verlassen, nicht aus politischen. Aber aus letzteren war ihm 1955 ein Anspruch auf Wiedergutmachung als geschädigter Angehöriger des öffentlichen Dienstes zugestanden worden.

Also schickte das Landesamt zwei dicke Aktenpakete auf die Reise von Tübingen nach Bonn: an den Bundesinnenminister sowie an den Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Inhalt: Die Wiedergutmachungsakten des Regierungspräsidiums  Südwürttemberg-Hohenzollern, die Akte des Landesamtes für die Wiedergutmachung (LAW) in Tübingen sowie des Notaufnahmelagers Gießen, die Versorgungsakten und die Vorakten des Regierungspräsidiums Nordwürttemberg, ein Band Vorgänge des Bundesministeriums für Vertriebene, zweimal Entschädigungsakten des LAW Tübingen sowie Akten des Landesverwaltungsgerichts Köln.

Eine Freude für jeden Bürokraten!

Jedenfalls empfahl die LWA, die Eingabe der Marga M. abzulehnen. Dem schlossen sich die beiden Bundesministerien an, wobei sowohl Fritzsch als auch seine verflossene Liebe mit Papier gegeizt hatten – beide beschrieben ein Blatt fast ohne Rand (jeweils drei Seiten).

Den Ex-Stadtrat aus dem Sächsischen hatte es 1946 in das Städtchen Königstein an der Elbe verschlagen. Die dort maßgebenden Kommunisten seien über ihn genau im Bilde gewesen und wussten, dass ich seit 1919 im Chemnitzer Industriegebiet  als besoldeter Stadtrat und als Mitglied der Gemeindekammer von Sachsen sowie ehren- und hauptamtlich bei der SPD tätig war. Auch darüber, dass er als Wehrmachtsbeamter  im Offiziersrang in der Heimat Dienst getan habe. Sie hätten ihn zunächst ordentlich behandelt.  Aber seine politische Vergangenheit und die Ablehnung, der kommunistischen Partei beizutreten, hätten in ihren Augen nicht für ihn gesprochen. Seit 1947 arbeitete Fritzsch für die alteingesessene Eisenwarenhandlung Zschaler – die Eigentümer Nichtkommunisten und Christen, die unter Schikanen und unvermuteten Geschäftsprüfungen zu leiden gehabt hätten. Und unter dem Ziel der örtlichen Kommunisten, daraus einen HO-Laden zu machen.

Auf dem Spottenberg

Marga M. bezog sich in ihrem Tatsachenbericht auch auf ein Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Königstein von 1950, Aussagen der geschiedenen ersten Frau von Fritzsch sowie von CDU und SPD in Reutlingen. Pech nur, dass der Bürgermeister zwar Margas Aussagen bestätigte, aber die Formulierung  Jeder Einwohner der DDR … wählte. Das lasse erkennen, dass der Zweck dieses Schreibens politische Propaganda sei, gerichtet gegen die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik, so der prüfende Beamte.

Jedenfalls, so die Ergebnisse der Ermittlungen der Wiedergutmachungsbehörde, der frühere Kommunalpolitiker sei in Königstein als Sozialdemokrat und Gegner der Zwangsverschmelzung von SPD und KPD bekannt gewesen. Zudem habe Fritzsch heimlich West-Berliner Zeitungen verbreitet. Hierbei sei er im Januar 1950 einem jungen fanatischen Volkspolizisten aufgefallen und nunmehr ernstlich gefährdet gewesen. Tatsächlich floh Fritzsch 1950 über die grüne Grenze in die Westsektoren in den Westen, erreichte über das Notaufnahmelager Gießen schließlich 1952  Reutlingen, damit die Stadt, in die die Eisenwarenhandlung Zschaler inzwischen umgesiedelt war. Er lernte  Marga kennen, sie wohnten bis zum Zerwürfnis 1956 in einer gemeinsamen Wohnung. Fritzsch verließ wegen verschiedener Differenzen 1952 die SPD und wechselte zur CDU (H.Schnurrbusch in: Arno Fritzsch, 1996). Er twechselte nach seinem Umzug nach Lienzingen zur Mühlacker Union, ward jedoch nicht aktiv.

Seit 1958 wohnte der Stadtrat außer Diensten, zusammen mit seiner späteren zweiten Frau, in Lienzingen am Spottenberg in jenem Haus zur Miete, das der Mühlacker Metzgermeister Erwin Bammesberger 1950 bauen ließ. In bester Südlage. Da stand vorher nur, westlich davon, das Jagdhaus des Mühlacker Fabrikanten Friedrich Münch, der dann aber Bammesberger folgte und sein Landhaus nach Schweizer Stil auf die Spitze setzen ließ - allesamt umstrittene Projekte.

Also, eine höchst angenehme Wohnlage für den früheren sächsischen Stadtrat und Neu-Lienzinger. Die letzten Jahre genoss er in Ruhe. Seit 1958 wohnte der Stadtrat außer Diensten in Lienzingen am Spottenberg. Im September 1959 waren die Verfahren, die 1956 losgetreten worden waren, beendet – in seinem Sinne. Da war Arno Fritzsch schon 61 Jahre alt.

Am 11. Mai 1963 starb er in seiner neuen, nun letzten Heimat, die über ihn nur wenig wusste.

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