Dank Scans das Herzenhäusle mit ins Büro genommen - Tilman Riegler und seine Werkzeuge: 3D-Scanner und Tachymeter

Birgt das unscheinbare und marode Herzenhäusle, am Bachweg in Lienzingen, noch weitere Geheimnisse? Bevor es die Stadt wegen Altersschwäche abreißen lässt, griff Bürgermeister Winfried Abicht meinen Vorschlag im Gemeinderat auf, das über Jahrzehnte von seiner ortsgeschichtlichen Bedeutung her unterschätzte Haus im Etterdorf  dokumentieren zu lassen. Gut einen halben Tag lang brauchte dazu jetzt Tilman Riegler. Er nahm die Maße des Gebäudes mit Hilfe von 3D-Scanner und Tachymeter auf. Die Ergebnisse sollen später im Stadtarchiv Mühlacker zugänglich sein.

Das Dach fasziniert als 360-Grad-Scan - aber auch das Herzenhäusle (rechts). Aufgenommen von Thomas Riegler

Der 3D-Scanner erfasst von seinem jeweiligen Standpunkt die gesamte Umgebung und man bekommt für jeden Punkt, von dem der Laser des Scanners reflektiert wird, Koordinaten (X, Y, Z), erläuterte der Chef von Strebewerk-Architekten GmbH in Stuttgart, die 2011 auch die historische Ortsanalyse erarbeiteten, Basis für die Gestaltungssatzung des Etterdorfs Lienzingen.

Mittels der Kugeln und Schwarz-Marken lassen sich über eine Software die einzelnen Scans zusammenstellen. Das  Ergebnis ist ein komplettes Modell.  Nun können beliebig Schnitte (waagrecht gleich Grundrisse oder senkrecht gleich Ansichten oder Schnitte) durch diese Punktwolke gelegt werden, so der Fachmann weiter. Vorteil im Vergleich zu einem Foto sei, dass alles maßlich stimme und es keine Verzerrungen gebe, erläuterte Tillman Riegler dem Mitarbeiter der Stadtverwaltung, Steffen Kazda von der Stadtverwaltung und mir, die auch interessierte Zuschauer waren - neben den Passanten, die gerade vorbeigingen und auf die Gerätschaften vor dem Haus neugierig schauten, sich auch erkundigten, was hier geschehe.

Tilman Riegler mit dem 3D-Scanner vor dem mindestens 180 Jahre alten Haus (Foto: Günter Bächle)

Das zweite Vermessungsgerät, auf einem gelben Stativ: das Tachymeter.  Mit diesem könne man einzelne Punkte messen, also auch Lage und Höhe, somit ebenfalls alle drei Koordinaten (X, Y, Z).  Damit ermittelt er die Referenzierung (bedeutet, sich auf etwas zu beziehen, etwas zueinander in eine Beziehung bringen) der Lage sowie die Höhe über Normalnull, geläufiger als über der Meereshöhe. Den dazu notwendigen Höhenbolzen lieferte, wie der Stuttgarter Experte ergänzt, das Landesamt für Geoinformation. Dieser feste Bezugspunkt fand Riegler am Haus Friedenstraße 30, genau 35 Zentimeter über dem Boden. Die Schwelle der Eingangstür des „Herzenshäuschen“ liegt seinen Angaben zufolge 44 Zentimeter unterhalb der bekannten Höhe und damit bei 246,73 Meter über Normalnull.

Eine Vermessungs-Software werte diese Daten auch dreidimensional aus:  Längen messen, Linien nachzeichnen … er nahm durch die Scans

Die Süd-Seite. Mit Fachwerk

sozusagen das Gebäude mit ins Büro und kann dort die Pläne erstellen.  Die Scans sind ohne Farbe, daher die Dateien als Graustufen-Bilder. Nach dieser ersten Runde ist Tilmann Marstaller gefragt: Der Mittelalterarchäologe, der dieses Projekt anregte. Ein optisch zwar unscheinbares Haus – aber ein Haus voller historischer Überraschungen, dessen genaues Alter noch ein Rätsel ist. Dendrochronologie soll die Antwort bringen mit Hilfe der Jahresringe im Holz, aus dem eine Probe entnommen wird.  Der Bauforscher und Archäologe lüftete mit dieser Methode vor rund einem Jahrzehnt das Geheimnis des Alters eines jeden Gebäudes im Ortskern. Nur das Herzenhäusle ging ihm raus. Marstaller wertet nun die Scan-Resultate aus. Er ist ein Glücksfall für Lienzingen, aber auch für die Burgruine Löffelstelz, bei der er die Scherbabuzzer mit ihren Funden fachlich beraten hatte.

Blick in den Innenraum.

Fasziniert von den Ergebnissen, etwa des Scans als 360-Grad-Ansicht des Daches des Herzenhäusle. Die berufliche Freude am Recherchieren als früherer Redakteur kommt mir, auch bei meiner Beschäftigung zupass bei der Friedenstraße 26/1, so die amtliche Adresse. Eigentlich wollte ich nur das Baujahr ermitteln. Doch weder im Stadtarchiv noch im Baurechtsamt fanden sich dazu Akten. Stadtarchivarin Marlis Lippik fand die entscheidende Spur: alte Listen der Feuerversicherung. Danach stand das bescheidene Haus seit mindestens 1842, nicht erst seit den 1930er Jahre, wie früher vermutet worden war. Das Ergebnis überraschte doch: Es war Heuhaus, Brennhütte und danach Wohngebäude.

Ausgangspunkt war meine Anfrage im Gemeinderat. Die Stadtverwaltung hatte in der Antwort im Sommer 2021 zur Frage, wann denn das heruntergekommene Hexenhäusle endlich abgeräumt werde, geantwortet, der Auftrag sei ausgeschrieben worden. Bald darauf bat ich den OB, den Plan zunächst doch nicht umzusetzen, denn in den Mauern stecke weitaus mehr Ortsgeschichte als jemals zuvor vermutet. Frank Schneider ließ sich überzeugen, wofür ich ihm als Lienzinger dankbar bin. Dabei stand die Verwaltung unter Zeitdruck. Denn sowohl der Abbruch von Friedenstraße 12 als auch von Friedenstraße 26/1, einschließlich der Dokumentation des Letzteren, finanziert die Stadt aus dem Sanierungsprogramm Ortskern, das jedoch bis Ende April 2022 abgerechnet werden muss, heißt es im Rathaus.

Das Festpunktinformationssystem - ein Zungenbrecher

Manche/r mag beim Anblick das heruntergekommene Gebäude mit dem Zuhause einer Hexe assoziieren, schon gar, wenn die Person gerne Märchen liest. Das passierte mir in einer Ratsanfrage. Das Wörtchen Hexenhäusle erweist sich als Hörfehler und eigentlich war Herzenshäusle damit gemeint. Marie Herz - nach dieser letzten Bewohnerin heißt das marode Gebäude am Bachweg im Volksmund Herzenhäusle, der Weg davor bei manchen auch Herzengässle.

Das älteste Dokument über das Gebäude stammt laut Marlis Lippik nachgewiesen von 1842 – da ist die Immobilie neu eingeschätzt worden. Demnach muss es älter sein. Bereits in der Ur-Karte des Ortskerns von Lienzingen aus dem Jahr 1835 ward dort ein Gebäude eingezeichnet. Daten zu der Immobilie finden sich laut Lippik im Brandschadens-Versicherungskataster. Jedenfalls stand nach dieser Quelle dort zumindest schon 1842 ein Gebäude, genutzt als Heuhaus. Das gehörte Albrecht Conradt Schray, der es 1846 dem Hafner Jakob Kilian verkaufte, einem Töpfer, der darin 1848 eine Brennhütte einrichtete. An anderer Stelle des Katasters heißt es in der Rubrik Beschreibung des Gebäudes oder Grundstückes eine einstöckige Hafnerbrennhütte stehe hinter dem Haus mit Hofraum dabei. Anno 1863 kauften Rosine und Luise Dautel für 250 Gulden das Anwesen aus der Verlassenschaftsmasse des Jakob Kilian – von da an war es reines Wohnhaus. Ein Gulden war von 1753 bis 1899 etwa zehn Euro wert. Knapp vor der Jahrhundertwende bekam man für einen Gulden zehn Kilogramm Brot oder zwei Kilogramm Rindfleisch.

Am Haus Friedenstraße 30 sitzt der Bezugspunkt (Pfeil)

Jedenfalls gab es zwischen 1891 und 1909 vier Eigentümerwechsel. 1891 von Luise zu Christine Dautel, 1892 Christian Münzinger, 1902 Dürr – Christinas Kinder. 1909 Tagelöhner Wilhelm Zeeb.  Es blieb nicht der letzte Eigentümerwechsel. Vor dem Übergang an die Stadt 2018 waren dies Karl un danach Wilhelm Bopp sowie die Familie Stickel.

Nachdem in Lienzingen in den ersten Jahren nach 1945 mehr als 250 Vertriebene ankamen, denen ein Dach überm Kopf verschafft werden musste, wohnten dort nacheinander Familien, die ihre Heimat hatten verlassen müssen, bis sie in eine bessere Unterkunft umziehen konnten.  Maria Herz, inzwischen Witwe, starb 1968. Sie war die letzte Bewohnerin. Seitdem steht das einfach gebaute Häusle leer, an dem allerdings der Zahn der Zeit immer weiter nagt.

Die Stadt Mühlacker ist Eigentümerin, seit sie für das rund 900 Quadratmeter große Grundstück im Mai 2018 ihr Vorkaufsrecht ausübte. Das Anwesen auf den Flurstücken 182/7 und 181 erstreckt sich zwischen Bachweg und Schmiebach. Der Bachweg erinnert an den Bach, der dort verläuft, der aber Mitte der 1960er Jahre bei der Kanalisierung des Dorfes zugeschüttet wurde.

Zusatz-Stoff für alle, die es noch genauer wissen wollen
Die Mess-Instrumente sind vor Friedenstraße 26/1 aufgebaut

Ein Heuhaus? Wer das für eine Scheune hält, liegt nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Während eine Scheune unterschiedlichen Zwecken diene, so Tilman Marstaller, sei anzunehmen, dass das Heuhaus eben für die Lagerung von Heu gedacht sei, das bekanntlich gut belüftet werden müsse, damit sich keine Flammen entwickeln. Heuhäuser seien vor allem aus Klosteranlagen bekannt.

Bei den Angaben zur weiteren Geschichte darf aus den von der Archivarin Marlis Lippik entdeckten Dokumenten zitiert werden: 1858 gehörte es dem Hafner Jakob Kilian. Anno 1863 kauften Rosine und Luise Dautel das Anwesen aus der Verlassenschaftsmasse des Jakob Kilian – mit dem Wiesenplatze. Alles Drum und Dran bezahlten die Dautels 390 Gulden für das gesamte Flurstück mit der Nummer 182/2 einschließlich Bauten.

Noch ein Blick - auf die maroden Stromleitungen

Im Kaufbuch (das ist das allgemeine Verzeichnis aller Kaufverträge, das in der Gemeinde geführt wurde) wird fürs Jahr 1867 vermerkt, dass Rosine Dautel die Hälfte an Luise (ledig) verkaufte. Laut Güterbuch vererbte Rosine 1881 die Hälfte an Luise und Christine. Zwar steht Christine im Kaufbuch, hat aber den Kauvertrag nicht unterschrieben. Da im Folgenden immer die Hälfte vererbt oder verkauft wird, hält es Archivarin Marlis Lippik für fraglich, ob sie tatsächlich beteiligt war und wie dann ihr Anteil aussah.

Innenleben

Irgendwie kommt selbst die Archivarin nicht dahinter, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die Beteiligten an dem Haus stehen. Beim Kaufvertrag sind es Schwestern, doch die späteren Aktionen können sich auch auf deren Kinder beziehen, vermutet Lippik.  Bemerkenswert hält sie es, dass alle Kinder unehelich waren. Dies werde klarer durch die Namen der Ehemänner, die später zum Teil als Eigentümer genannt werden wie zum Beispiel Münzinger.

Jedenfalls ist es seit 1863 als Wohnhaus genutzt worden. So wird es beschrieben: Gebäude ein einstoke Wohnhaus an dem Schmie-Bach. Es war wohl 250 Gulden wert. Jedenfalls gab es zwischen 1891 und 1909 vier Eigentümerwechsel. 1891 von Luise zu Christine Dautel, 1892 Christian Münzinger, 1902 Dürr – Christinas Kinder. 1909 Tagelöhner Wilhelm Zeeb.  Es folgten Karl und Wilhelm Bopp sowie die Familie Stickel.

Kein Zweifel: marode (Fotos: Günter Bächle)

Der seinerzeitige, im Hessischen wohnhafte Eigentümer Stickel wollte vor knapp 20 Jahren auf dem Grundstück ein neues kleines Wohngebäude anstelle des alten errichten. Dies war in einer Sitzung des zuständigen Gemeinderatsausschusses am 7. Oktober 2003 heftig umstritten, fand aber nach einem Ortstermin dann doch eine Mehrheit. Die Baugenehmigung ließ der Eigentümer zwar ein- oder zweimal verlängern. Doch letztlich verfiel sie, da sie doch nicht in Anspruch genommen worden war. In der Bauvoranfrage von 2003 findet sich für den Gemeinderat, vom damals planenden Architekt Raimund Gottwald zusammengestellt, eine Fotodokumentation der Inneneinrichtung.

Das Hausgrundstück 182/7 liegt im Sanierungsgebiet Ortskern Lienzingen. Das Gebäude sei in einem sehr schlechten Zustand und damit abrissreif, steht in der seinerzeitigen Vorlage der Verwaltung. Das unbebaute Flurstück 181 grenzt direkt an. Zur Umsetzung des Hochwasserschutzkonzeptes werden diese beiden Flurstücke für den Bau einer geplanten Hochwasserschutzwand beziehungsweise eines Deichs benötigt, so seinerzeit die Nachricht aus dem Rathaus weiter. Wann der errichtet wird, steht noch nicht verbindlich fest.

Tilman Marstaller zusammen mit mir vor einigen Wochen

Das Herzahäusle, zum Bachweg hin, weist an der rückwärtigen Fassade teilweise Fachwerk auf. Zum Grundstück gehört östlich zur Friedenstraße 26 hin ein kleines Stück Garten, die nach Süden ausgerichtete Freifläche ist weitaus größer. Dort grasen derzeit Ziegen, die der aktuelle Pächter hält. So gesehen: Ein Ziegenstall fehlte bisher noch in der mindestens 180-jährigen Geschichte des kleinen Hauses, die eigentlich erst entdeckt wurde, seit ich im Sommer meine Anfrage nach einem Abbruch im Mühlacker Gemeinderat stellte. Erkenntnisse, von denen ich selbst höchst überrascht war und dies niemals vermutete.

Wohnte nach Marie Herz doch noch eine andere Familie in dem Häusle? Jenny Ruber schrieb mir: Meine Mutter hat erzählt, dass irgendwann in den 70er im Herzenhäusle noch eine italienische Familie mit mehreren Kindern gewohnt hat. Sie habe die Familie immer gesehen als sie meinen Bruder oder mich in den Kindergarten gebracht hat. Ganz genau weiß sie den Zeitpunkt nicht mehr. Der Versuch einer Klärung endete ohne Ergebnis. Was weiß das Einwohnermeldeamt der Stadt Mühlacker?

Papier mit Zahlen bitte nicht entfernen

Die Antwort schrieb Stadtarchivarin Lippik: Da die Einwohner (bzw. damals nur die Erwachsenen) von Lienzingen in den 1970er Jahren noch von Mühlacker getrennt in den Adressbüchern erfasst wurden und diese Verzeichnisse nur wenige Seiten umfassen, bin ich die mir vorliegenden Adressbücher aus den Jahren 1971, 1975 und 1979 auf italienische Namen durchgegangen. Doch außer dem bekannten Antonio Sica (der 1979 erstmals verzeichnet ist), gab es für die genannten Jahre keine Treffer. Eine Einwohnermeldekartei habe ich für Lienzingen nicht.

Doch nicht nur diese Frage wird offen bleiben beim Herzenhäusle.

 

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