Mein Vetter Dieter

Er kümmerte sich um die technischen Aufgaben in der Kommune, um Wegebau und Grünpflege, räumte und streute bei Schnee und Eis, hielt die Entwässerungsgräben unterhalb der Weinberge sauber: Dieter Straub, der letzte Fronmeister von Lienzingen, gleichzeitig der letzte aus jener Gemeindeverwaltung, deren Mitarbeiter schließlich im Juli 1975 in die Mühlacker Verwaltung eingegliedert wurden, sofern sie dies wollten. Der Fronmeister wollte – wohl als einziger aus dem Team. Er leitete dann bis zum Ruhestand vor fast zwei Jahrzehnten die Bauhof-Außenstelle im Dorf. Dieter Straub, d’Vetter, starb heute Nacht 84-jährig in seinem Haus an der Brühlstraße im heimatlichen Lienzingen. Adieu, lieber Cousin, du hast passend den ersten Weihnachtsfeiertag für Deinen Abschied von dieser Welt gewählt.

Dieter Straub (1939-2023) Anfang November 2023 in den Lienzinger Weinbergen, sein beliebtes Refugium.

Mit Namen und Person des Fronmeisters verband sich nach dem Anschluss des Ortes an die Senderstadt der seinerzeitige besondere Status der Lienzinger Bauhof-Außenstelle als beinahe autarker Außenposten der städtischen Regiebetriebe, dem ihm niemand nehmen konnte. Wer ihm aus der Mühlacker Zentrale reinreden wollte in die täglichen Geschäfte, musste schon gute Argumente haben, oder er/sie erntete lautstarken Widerspruch. Und wenn gar nichts half, schob er drohend eine Ankündigung nach: Ich geh zum Vetter. Und das bin ich, seinerzeit die zweite Lienzinger Flanke neben ihm.

Die sparsam besetzte Lienzinger Verwaltung bestand bei Straubs Arbeitsbeginn 1972 seinerzeit aus Richard Allmendinger, als Bürgermeister Chef im an der heutigen Friedenstraße stehenden Rathaus, dem für die Finanzen verantwortlichen Gemeindepfleger Walter Vogt, mit seinem Zimmer gleich neben dem des Schultes. Dem Fronmeister, sozusagen der Bauhof in Person, mit seinem bescheidenen Fahrzeug- und Gerätepark in der Kelter an der Zaisersweiherstraße. Zudem standen auf der Gehaltsliste der 1750 Einwohner zählenden Kommune zwei Sekretärinnen, von denen eine (Lieselotte Zach) in sozialversicherungsrechtlichen Themen fit war und zum Beispiel den Leuten half, Rentenanträge auszufüllen, sowie dem Amtsboten – alle drei hatten ihren Platz im geräumigen Raum vor dem Dienstzimmer des Schultes im zweiten Stock.

Erstmals im Protokoll der Sitzung des Lienzinger Gemeinderates am 26. November 1971 (S. 130) findet sich namentlich Dieter Straub. Sein Vater Karl schied altershalber auf Ende 1971 als Fronmeister der Gemeinde aus. Auf den Bewerberaufruf, so Bürgermeister Richard Allmendinger, habe sich dessen Sohn Dieter Straub, Jahrgang 1939, gemeldet und wissen lassen, er halte eine Entlohnung zwischen sechs und sieben Mark für angemessen. Die Räte beschlossen, den gelernten Elektriker anzustellen, zunächst auf Probe für drei Monate in der Vergütungsgruppe 8 TOA.  

Keine Lienzinger Besonderheit: Fronmeister, der Beruf mit der absonderlichen Bezeichnung, tauchte erstmalig in der Bibel auf. Im Alten Testament, im ersten Buch der Könige - 12:18 – werden der in Jerusalem residierende König Rehabeam und sein Fronmeister Adoniram erwähnt. Fronmeister, das klingt denn auch nach längst vergangenen Zeiten, nach harter Arbeit ohne Belohnung. Tatsächlich gehörten Frondienste mit zu den drückendsten Belastungen der Bauern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein:  Arbeiten auf den Äckern und Wiesen des Landesherrn, Transporte innerhalb des Oberamtes, Einsätze im Wegebau, Instandhaltungsarbeit der Bewässerungs- und Abgrenzungsgräben oder Hand- und Fuhrfronen, Botengänge, Vorspanndienste und dergleichen für das herzogliche Militärwesen sowie in Treiberdiensten für die landesherrliche Jagd. Alles Dienstleistungen, für die es keinen Lohn gab. 1848 wurden sämtliche Fronen aufgehoben. Lediglich die Bezeichnung Fronmeister für den Gemeindevorarbeiter blieb. Inzwischen wird er zusehends von der Bezeichnung Gemeindewegebauaufseher/in abgelöst, obwohl diese nur einen Teil der Arbeiten einbezieht.

Beim Reben schneiden 2018

Jedenfalls bestand Dieter Straub die Probezeit, der Bürgermeister äußerte sich sehr zufrieden über den neuen Mitarbeiter, der Gemeinderat stimmte für ein Dauerarbeitsverhältnis. Wesentlich trug dazu bei, dass der junge Familienvater - verheiratet mit Iris aus Illingen, ein Sohn, später noch eine Tochter – eine persönliche Schwäche in den Griff bekam. Er stand am Scheideweg, hatte massive Alkoholprobleme, war aber letztlich ein Musterbeispiel für gelungenen Entzug. Zeit seines Lebens trank er keinen Tropfen Alkohol mehr, steckte seine ganze Energie ins Hausbauen, in die Weinberge und in sein Engagement für die Kommune. Dass Iris an Krebs starb und er auf ärztliche Anordnung nicht am Begräbnis teilnehmen konnte wegen akuter Herzprobleme beschwerte ihn. Dann starb Sohn Siegmund – der Vater überlebte ihn um viele Jahre. Brüche eines Lebens…

Der Fronmeister und sein Unimog.  Am 13. Juli 1973 diskutierte der Gemeinderat von Lienzingen über den Kauf eines Allzweckfahrzeuges. Die Hersteller Adria, Holder und Unimog sollten geeignete Fahrzeuge vorführen und je ein Angebot ausarbeiten. Dann wollte sich das Gremium entscheiden (S. 235), Straub und die Mehrheit des Gremiums setzten ganz auf Unimog. Als das Fahrzeug in die Jahre gekommen war, hatte der Mühlacker Gemeinderat über Ersatz zu befinden. Obwohl Amtsleiter Gottfried Kautter für ein günstigeres, einfacheres, keineswegs so nobles neue Fahrzeug warb, erlitt der Leiter des Rechnungsprüfungsamtes der Stadt eine herbe Niederlage. Das Gespräch von Dieter Straub mit dem damaligen Oberbürgermeister Gerhard Knapp im Rathaus brachte die Kehrtwende und der Gemeinderat schloss sich dem Votum pro Unimog an – ganz wie vormals das Lienzinger Gremium. Der unverwüstliche Unimog, vielseitig einsetz- und nutzbar, blieb bis zu Straubs Abschied in den Ruhestand.  Eine Extra-Wurst für Lienzingen, die niemandem schadete. Oder ein Statuszeichen? Nein, einfach vielseitiger und mit mehr Power.

Sabine und Dieter Vetter (rechts) im September 2023: Besuch beim OB-Stellvertreter im Rathaus Mühlacker

Fronmeister, Keltermeister, Klärwärter und – wenn es sein musste – auch Fahrer für den körperbehinderten Bürgermeister. So an einem Tag, als sich die ungeliebte Eingemeindung abzeichnete. Die inzwischen gut situierte Kommune Lienzingen wollte nicht ihre dicken Sparbücher nach Mühlacker mitbringen müssen, sondern möglichst Schulden. Das große Thema war der Feldwegausbau. In der Ratssitzung vom 5. April 1974 legte der Enzberger Tiefbauingenieur Erlenmaier Pläne für den Ausbau von Feldwegen vor, die der Gemeinderat drei Wochen zuvor aufgelistet hatte. Am 10. Mai 1974 vergab das Ortsparlament nach einer Ausschreibung, an der sich ein Dutzend Firmen beteiligt hatten, den Auftrag, gesplittet auf zwei Unternehmen, für etwa 450.000 Mark. Bezahlt wurde aus einem 250.000-Mark-Kredit der Norddeutschen Landesbank Girozentrale Braunschweig für den neuen Wasserhochbehälter im Wannenwald, am 14. Februar 1975 vom Gemeinderat genehmigt mit diesen Konditionen: Zinsen 7,25 Prozent, Auszahlung 99,75 Prozent, Tilgung zwei Prozent per anno. Eigentlich war der Hochbehälter schon finanziert.

Für den Bürgermeister hatte dies noch ein Nachspiel, denn er musste bei der Kommunalaufsicht des Landratsamtes Enzkreis in Pforzheim vorreiten, da er diese für Lienzinger Verhältnisse gewaltige Ausgabe unterschrieben hatte, ohne sich mit der Stadt Mühlacker vorher abzustimmen, was er angesichts der drohenden Eingemeindung hätte machen müssen. Er nahm die Einbestellung in die Kreisverwaltung wohl eher gelassen hin, berichtete der seinerzeitige Fronmeister Dieter Straub, der seinen Chef nach Pforzheim gefahren hatte und dort auf ihn wartete, bis dem Schultes amtlicherseits die Leviten gelesen worden waren. Wenn ich nicht mehr kommen, haben sie mich eingesperrt, meinte der Bürgermeister mit einem Augenzwinkern. Doch er kam zurück und meinte mit einem Augenzwinkern zu seinem Fronmeister: Er sei an einen Herrn geraten, der gleich denke wie er und mit dem er sich prächtig verstanden habe (Gespräch mit dem Autor am 24. Juni 2021).

Vetter Dieter hatte inzwischen weitere Aufgaben in der Gemeinde Lienzingen übernommen. So bestellte ihn der Gemeinderat am 28. September 1973 zum Keltermeister – neben seinem Gehalt als Fronmeister behielt er 15 Prozent der Roheinnahmen des Kelterbetriebs. Er durfte die Betriebszeiten so regeln, dass er das Keltern während seiner normalen Dienstzeit abwickeln konnte. Die vorausgegangene Suche nach einem neuen Keltermeister war erfolglos geblieben, wie der Bürgermeister im Rat sagte. Eine Kelter war und ist in Lienzingen als Obst- und Weinbauort wichtig. Eigentlich wollte Dieter hier nicht die Nachfolge seines Vaters Karl Straub antreten, steht im Protokoll der Ratssitzung. Begründung: Straub’s müssen nicht alles bei der Gemeinde gemacht haben. Doch er ließ sich dann doch bitten. Der Gemeinderat genehmigte die von ihm verlangte Sondervergütung, denn man müsse froh sein, wenn Straub den Keltermeister übernehme (S. 245) Als sich dann zeigte, dass doch 84,5 Überstunden anfielen, die den sowieso schon defizitären Betrieb noch weiter in die roten Zahlen bringe, wie der Bürgermeister in den Beratungen am 16. November 1973, somit nach der Erntesaison, beklagte. Schon jetzt betrage das Defizit 172 Mark und 69 Pfennige. Doch sein Versuch, die Zahl der Überstunden zu kappen, scheiterte am Gemeinderat: Man habe Straub diese Vergütung versprochen und müsse nun in den sauren Apfel beißen (S. 264). Im Jahr drauf übernahm der Fronmeister auch den Klärwärterdienst bis auf weiteres (Quelle: Stadtarchiv Mühlacker, Protokollbuch Gemeinderat Lienzingen von 1971 bis 1975, Li B 328. Darauf beziehen sich alle Seitenangaben im Text).

Als Keltermeister, dann in städtischen Diensten, sorgte er im Herbst 1989 für eine Schlagzeile in Sonntag aktuell, der gemeinsamen Wochenendausgabe der meisten baden-württembergischen Tageszeitungen. Ein Projekt, für das die Redaktion des Sonntagsblattes das Streuobstwiesen-Paradies Lienzingen auswählte. Der Titel: Most trinken – Natur schützen, eine angenehme Art, den Streuobstbau zu erhalten. Und so steht der Vetter mitten in einer Kinderschar in der Kelter, auf frisch gepressten Apfelsaft wartend. Er verrät auch, welcher Most ihm am besten schmeckt: aus zwei Drittel Äpfel und ein Drittel Birnen. Kulturlandschaft, Flächenverbrauch, Ernten und Pressen…

Dieters Idee: Quellwasser als Gießwasser günstig abzugeben, um die Folgen der Klimaveränderung in den Weinbergen abzufedern.

Ein Wengerter mit Leib und Seele war der Privatmann Dieter Straub. Seit siebzig Jahren bewirtschaftete er mehrere Weinberge am Eichelberg in Lienzingen – bis ihm die Last zu groß wurde. Im Liegestuhl am Weinberghäuschen auszuruhen, war für ihn das höchste Glück auf Erden. Und er hatte Ideen, setze sie um. So organisierte er vor zwanzig Jahren, dass das Wasser der Lienzinger Quelle in der Wette nicht ungenutzt in den Schmiebach fließt, sondern im Sommer fürs Gießen der Rebstöcke genutzt wird. Fässer müssen gefüllt und in die Weinberge gekarrt werden, die Kosten der Stadtwerke umgelegt und die Beträge von etwa 60 Menschen nach der Saison eingesammelt werden.  Diese Aufgabe übernahm in diesem Jahr Sabine, seine zweite Frau, nun im Auftrag der Stadtwerke. Ein Beitrag zur Bewältigung der Folgen des Klimawandels.

Eine Quelle versiegt: Vetter Dieter als wandelndes Lexikon der jüngsten Ortsgeschichte. Ein Anruf bei ihm klärte meist offene Fragen, wenn ich mit einem Lienzinger Thema am Bloggen war. Immerhin gelang es uns, zusammen mit ihm, Gerhard Kontzi und Volker Ferschel die Fotosammlung des früheren Lienzinger Pfarrers Gerhard Schwab durchzuschauen nach der Fragestellung: Wer / was ist das auf dem Bild? Zum Beispiel auf seinen Aufnahmen von den Heimattagen 1958 in Lienzingen. Der Klärungsgrad liegt zwar nicht bei 100, eher bei 80 Prozent – aber das ist auch ein großer Erfolg. Und das Stadtarchiv Mühlacker freut sich und dankt.

Als im November das Ortsfamilienbuch Lienzingen im Evangelischen Gemeindehaus Lienzingen vorgestellt wurde, war nur seine Frau Sabine dabei. Ihm war nicht gut an diesem Abend. Dabei hatte ich ihn einer Passage meines Vortrags erwähnt:  Nun hat auch mein Vetter Dieter Straub die genauen Daten seines Großvaters, des Ulanen-Karl, der mit seiner Familie im Erdgeschoss des Gebäudes wohnte, in dem sich heute Restaurant und Hotel zum Nachtwächter in der Knittlinger Straße befinden. Unter der Nummer 2091 gelistet: Karl Johannes Straub, Steinhauer, geboren am 24. Juni 1880 in Lienzingen. Am 9. August 1907 heiratete er die 1884 geborene (Vorsicht, nicht irritieren lassen) gebürtige Straub – Louise Pauline. Eines der drei gemeinsamen Kinder - Elise Friederike - überlebte 1908 nur ein halbes Jahr, starb an Masern-Epidemie.  Ihre Geschwister hießen Marie Pauline (1909) und Gustav Adolf (1910). Hier verknüpften sich zwei Straub-Linien.

1989: Medienprojekt in der Lienzinger Kelter - mittendrin der Keltermeister

Im Namensindex nimmt Straub 13 Zeilen ein, so viel wie sonst kein anderer Name.  Ist also die Nummer eins. Die Straubs waren – gefühlt - wohl mit dem halben Dorf verwandt.  Was Dieter eh schon vermutet hatte.

Apropos Evangelisches Gemeindehaus. Zusammen mit Reinhold Hermle rückte er viele Stunden Freizeit in die Bauarbeiten an dem Gebäude. Ehrenamtlich!

Eines brachten die beiden Vettern zeitlich nicht mehr auf die Reihe. Er wollte mir noch zeigen, wo der 1921 eingeweihte Übungsplatz des Turnvereins Lienzingen war – an der Straße nach Mühlacker, rechts vor dem Wald? Einmal regnete es, dann war er auf der Baustelle seines Hauses an der Friedensstraße/Ecke Neuwiesenstraße, dann lag er mit Lungenentzündung im Krankenhaus Mühlacker (aber das ist eine andere, nicht schöne Geschichte). Ein Zeitzeuge weniger. Vetter Dieter wird uns fehlen. Ach, auch als Lienzinger Institution. Das war er schon als Fronmeister.

Nachtrag: Das soll kein Nachruf sein. Dieter fragte mich, ob er auch einmal in den Lienzinger Geschichte(n). Bei meinem 73. Anfang November brachte er mir die Zeitungsausschnitte mit. Vetter, danke!   

 

 

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