Auf Spurensuche in Frankreich: Mein Opa im Ersten Weltkrieg - Bei Somme-Schlacht verbrannt
Leicht ratlos zunächst, aber auch neugierig, stehe ich an einem Juli-Samstag des Jahres 2023 in einem winzigen französischen Dorf. Das heißt Berny-en-Santerre, zählt 155 Einwohner, unterhält zwei Kriegerdenkmale und eine ungewöhnliche Informationstafel am Rande der einzigen Durchfahrtsstraße.
Ein nettes und gepflegtes Fleckchen Erde, doch unbedingt gesehen muss man es eigentlich nicht haben. Wenn man sich nicht gerade auf den Spuren seines Großvaters befindet, von Gotthilf Ernst Schrodt. Spuren? Wo sind sie? Das einzig konkrete: Mein Opa fiel hier, 596 Kilometer von seinem Heimatdorf Schützingen entfernt, südwestlich von Péronne, auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges.
Nah ist er mir und doch so fern, ließ ungewollt Rätsel bei den Spätgeborenen zurück: Ich kenne von ihm nur sein Gesicht. Zufällig stieß ich auf einer Porträttafel der im Ersten Weltkrieg gefallenen Schützinger auf sein Bild, mit Uniformmütze, veröffentlicht im Jahrbuch des Enzkreises. Er starb am 15. September 1916, somit 34 Jahre vor meiner Geburt, im Schützengraben bei Berny-en-Santerre – seine Tochter Emilie Gertrud (1916-1998), meine Mutter, war damals gerade dreieinhalb Wochen alt. Sterbliche Überreste, die bestattet werden konnten, gab es nicht. Er verbrannte im Schützengraben bei lebendigem Leib. Nie eine Gelegenheit zum Abschiednehmen. Eines der Millionen Opfer des Ersten Weltkrieges.
Schrodt, Gotthilf – Schützingen (Oberamt) Maulbronn – gefallen. Diese Nachricht passte gerade in eine einzige Zeile der dreispaltigen Seite, ähnlich einem Zeitungsblatt. Deutsche Verlustlisten steht im Titelkopf der Seite 16510, veröffentlicht am 25. November 1916. Namen unter Namen. Ein Menschenleben pro Zeile und Spalte. Gotthilf Ernst Schrodt, geboren 1887 in Schützingen, Gipsermeister, zuletzt Soldat, Vater dreier Töchter (die Zwillinge Frida und Mathilde und als Jüngste: Emilie) sowie Elsa, die Älteste, das vierte Mädchen, das Ehefrau Marie, geborene Bahnmeier aus Gündelbach, in die am 30. Januar 1914 in der Evangelischen Gemeinde in Pforzheim geschlossene Ehe mitbrachte.
Gefallen nahe der Somme, dem französischen Fluß, der im Ersten Weltkrieg ganzen Schlachten seinen Namen gab. Auf 192 Kilometer durchquert sie den Norden Frankreichs, mündet in den Ärmelkanal. Zwar war das Kampfgebiet groß, doch wo genau mein Großvater getötet wurde, ließ sich regional durchaus eingrenzen. Südwestlich von Péronne steht in der Kriegsstammrolle der 8. Kompanie des (württembergischen) Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 120 / 1914-1918, die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart verwahrt wird (Signatur: HStA Stuttgart, M 477 Bd. 28).
Inzwischen lässt sich dies genauer lokalisieren: Er fiel beim Ort Berny-en-Santerre, zehn Kilometer von Péronne entfernt. Denn dort verlief an seinem Todestag die Front zwischen deutschen und französischen Heeren, wie der Tagebucheintrag seiner 8. Kompanie belegt. Heute heißt das: nördlich des Autobahnkreuzes A1/A29 und südöstlich der Autobahn 1. Hier tobte um den 15. und 16. September 1916 die Schlacht um Berny. Am 17. September rückte die 10. französische Armee in das kleine Dorf ein und befreite es von den Besatzern, nahm 1400 deutsche Soldaten gefangen. Später, im Jahr 2016, erinnerte die Gemeinde mit der Benennung eines Platzes daran - Place du 17-Septembre-2016.
Gleich mit der Mobilmachung, die zum Ersten Weltkrieg führte, rückte am 5. August 1914 der Reservist Gotthilf Ernst Schrodt von der 8. Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments Nummer 120 ein. Er diente schon vom 12. Oktober 1907 bis 20. September 1909 als Rekrut in dieser Kompanie der Armee des Königreichs Württemberg, wurde dann zur Reserve nach Schützingen entlassen, leistete vom 25. August bis 21. September 1911 nochmals Dienst als Infanterist. Wie dem Eintrag in der Kriegsstammrolle zu entnehmen ist, lag Gotthilf im November 1915 wegen Bronchitis im Lazarett. Der letzte Eintrag über meinen Opa: Am 15. September 1916 gefallen südwestlich von Péronne. Dort war die Landschaft rund um Berny-en-Santerre topfeben. 80 Meter über Normalnull. In seinem, am 10. Oktober 1916 in Recelaire handschriftlich bestätigten Eintrag bleibt der Leutnant und Kompanieführer – dessen Unterschrift unleserlich ist - pauschal bei südwestlich Péronne.
Der 15. September 1916 war ein Freitag. In einem von der französischen Seite veröffentlichten Kriegstagebuch – ohne Gewähr - steht unter diesem Datum unter anderem: Südlich der Somme scheiterten mehrere deutsche Versuche an unserer neuen Front. Im Westen von Chaulnes wurde eine feindliche Abteilung, die als eine Kompanie bewertet wurde, durch unser Feuer fast vollständig vernichtet; wir machten mit der Granate östlich von Belloy-en-Santerre vor. Und unter dem 16. September: Im Süden der Somme haben uns zwei Angriffe im Bereich Deniécourt-Berny deutliche Vorteile eingebracht. Mehrere Gräben wurden erobert: Wir haben 200 Gefangene gemacht und 10 Maschinengewehre gefangen genommen. (…) Deutsche Angriffe wurden östlich von Cléry und südlich der Somme östlich von Berny abgewehrt. Die Gesamtzahl der von uns gefangen genommenen gültigen Gefangenen beträgt 400.(17. September). Allesamt Kampfhandlungen im Bereich Berny-en-Santerre.
Teil zwei meiner Spurensuche: das Historial de la Grande Guerre im Schloss von Péronne. Die im Ersten und Zweiten Weltkrieg zerstörte Kommune zählt heute 7652 Einwohner. Der Rat des Departements Somme, Initiator des Museums, entschied sich für den Standort inmitten der Schlachtfelder der Somme. Das mittelalterliche Gebäude aus dem 13. Jahrhundert wurde während des Ersten Weltkriegs belagert. Ein symbolisch, kultureller Ort, das dem Ersten Weltkrieg gewidmet ist. Das Museum hilft nicht bei der Suche nach einzelnen Schicksalen. Doch die Sammlung erlaubt, die Dinge zu sortieren und einzuordnen. So, dass an jenem 15. September 1916 die Briten erstmals Sturmpanzer einsetzten.
An der Somme trafen Menschen aus mehr als 20 Nationen aufeinander, steht auf der Web-Seite von Historial. Symbol des Ersten Weltkrieges ist: Drei Millionen Soldaten standen sich an einer vierzig Kilometer langen Front gegenüber – lange Zeit mehr oder minder unverrückt. Ein Stellungskrieg. Pläne der Alliierten für eine massive Attacke an der Somme 1916 waren durch die deutsche Offensive in Verdun vereitelt worden, da dort große Teile der französischen Truppen durch die Kämpfe gebunden waren.
Kurz gefasste Beschreibungen der jeweiligen Lage als Ergänzung zu den gezeigten Exponaten, etwa der Situation im Sommer 1916, mit dem viel zu frühen Tod des 29-jährigen Gotthilf Ernst Schrodt aus Schützingen. Nach einer Woche Dauerbeschuss wagten sich die Alliierten am 1. Juli 1916 aus ihren Schützengräben und versuchten, die deutschen Linien zu erobern. Dieser Versuch fand auf einem Landstrich statt, der durch den Einsatz von 1 500 000 Granaten vollkommen zerstört war. Auch die einwöchige Bombardierung hatte, entgegen aller Erwartungen, nicht zur Zerstörung der deutschen Stellungen geführt. Da die Alliierten nicht mehr mit dem Widerstand der Deutschen rechneten, verließen sie ihre Deckung und waren damit auf den gut einsehbaren Feldern der Picardie den Maschinengewehren ihrer Gegner schutzlos ausgeliefert. Dieser war der blutigste Tag in der Geschichte der britischen Armee: 20 000 Soldaten starben, 40 000 weitere wurden verwundet oder sind seit diesem Tag vermisst.
Der militärische Erfolg der Franzosen südlich der Somme konnte daher nicht genutzt werden, wie es in den Begleittexten zur Ausstellung heißt. Trotz kleinerer Zwischenerfolge der Alliierten durch die Nutzung neuer Waffen wie der ersten Panzer, musste der Kampf im November eingestellt werden, weil die Kanonen im Schlamm einsanken und auch für Soldaten und Pferde ein Vorankommen in der zerstörten Landschaft unmöglich wurde.
Für einen Geländegewinn der Alliierten von weniger als 15 Kilometer waren – so die weiteren Angaben - 420.000 Briten, 420.000 Deutsche und 190.000 Franzosen getötet worden. Damit war die Schlacht an der Somme die tödlichste Schlacht des gesamten Krieges – Symbol der Schrecken des Grabenkrieges und der Materialschlacht. Eines der Opfer: mein Großvater.
Der Weltkrieg 1 entwickelte sich, wie entsetzlich, zu einem totalen, industriellen Krieg. Für ihn wurden alle Ressourcen und die ganze Bevölkerung mobilisiert. Die Deutschen nannten die Schlachten von Verdun und an der Somme Materialschlachten, zitieren die Museumsmacher. Während des Krieges werden Artillerie, Flugzeuge und U-Boote immer besser, es kommen Kampfgas und Panzer auf. Diese Streitkräfte werden durch neue Kommunikationsmittel wie Telefon oder Radio unterstützt. Es werden Schutzmaßnahmen wie etwa die Rückkehr zum Helm eingeführt, aber paradoxerweise hilft die hohe Zahl an Gefallenen und Verletzten der Medizin, Fortschritte zu machen.
Um die Ressourcen auf den Krieg auszurichten, werden die Mittel zur Mobilisierung der Bevölkerung immer vielfältiger: die positiven (in Flaggen, MedaillenAllegorien... verkörperten) und negativen Werte (Hass auf den Feind) nehmen in Helden und Militärkommandanten Gestalt an. Diese Propaganda, die sich auch an die Kinder richtet, wird gleichzeitig von oben und von unten, vom Staat und von Einzelpersonen, initiiert. Sie versucht zu beruhigen, dem Krieg einen Sinn zu geben und Entbehrungen zu rechtfertigen. Durch Schenkungen und Anleihen wird Geld gesammelt.
Im Stellungskrieg und wenn die Kämpfe einmal kurzzeitig nachlassen, hat das Leben des deutschen Soldaten große Ähnlichkeit mit einem sehr aktiven Leben als Bauer, als Straßenarbeiter oder Zimmermann. So die weitere Schilderung. Vor allem in der Etappe gelang es tatsächlich, wieder eine Art normales Leben aufzubauen mit geselligen, geistigen und kulturellen Betätigungen. Nach den ersten Schlachten hoben die Armeen Schützengräben aus. Dieser Abnutzungskrieg dauerte über drei Jahre.
Frankreich und Deutschland mobilisierten jeweils zwischen drei und vier Millionen Männer. Die britische Armee, die bis 1916 nur aus Freiwilligen bestand, wurde allmählich größer und erhielt ihre wahre Feuertaufebei bei der Schlacht an der Somme. Franzosen und Briten mobilisierten außerdem ihre Kolonialgebiete: Dennoch war keine Schlacht im Jahr 1914 in Europa entscheidend, und die Armeen gruben sich in Schützengräben ein, um sich vor dem Beschuss zu schützen.
Diese tödliche Sackgasse hatte für die Soldaten einen strapaziösen Alltag zur Folge, die mit dem Tod und Problemen mit Hygiene, Ernährung, Heimweh... zu kämpfen hatten. Die Uniformen wurden angepasst, um sie unauffälliger und effizienter zu machen. Die persönliche Ausrüstung wog über 30 Kilogramm. Aber für alle ist der Tod im Kampf eine Realität.
Mehr als zwei Jahre lebte auch Gotthilf Ernst Schrodt aus dem schwäbischen Schützingen in den Schützengräben der von Deutschen besetzten französischen Gebiete. Heimaturlaube inklusive. Feldpost – sie fiel dem Lauf der Zeit zum Opfer. Marie Bahnmeier zog 1934 mit ihren vier Töchtern nach Lienzingen um, verkaufte ihre Haushälfte in der Ortsmitte von Schützingen. Vor allem eines der Mädchen, meine Tante Frida, gab sich nach Jahrzehnten mit der offiziellen Todesnachricht nicht zufrieden. Frida fragte, als solche noch lebten, Kriegskameraden, sie wollte wissen, wo ihr Vater seine letzte Ruhe fand. Wiederum ihre Enkel Sabine und Matthais Trück nahmen noch vor mir den Faden wieder auf.
Matthias fand im Hauptstaatsarchiv Stuttgart die Aufzeichnungen von Otto von Moser (1860-1931), württembergischer Generalleutnant im Ersten Weltkrieg - von 1915 an an der Westfront – sowie Militärhistoriker und Verfasser zahlreicher Bücher.
Also: Spur drei, die Moser-Spur. Tatsächlich. Der Titel einer seiner Veröffentlichungen heißt Die Württemberger im Weltkriege – ein Geschichts-, Erinnerungs- und Volksbuch, 767 Seiten, 1927 bei Belser in Stuttgart erschienen. Es ist Teil des digitalisierten Bestandes der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart (urn:nbn:de:bsz:24-digibib-bsz3924049073) und kann dort auch heruntergeladen werden. Moser berichtet umfassend über die Einsätze von Soldaten des Königreichs Württemberg im Ersten Weltkrieg sowohl an der Ost- als auch an der Westfront. Trotz allen Pathos entsteht ein realistisch wirkendes Bild der Lage im September 1916, die Monate davor und danach an der Somme.
Im wahren Sinne des Wortes seien am 1. August 1916 die 26. und dann die 27. Infanteriedivision der Württemberger (letztere unter Mosers Befehl) in die schon seit vier Wochen tobende Somme-Schlacht geworfen worden, genauer im Frontabschnitt zwischen Bapaume und Péronne. Hier hätten die Engländer und Franzosen, deren innere Flügel sich südlich Guillemont berührten, in gegenseitigem Wetteifer und unaufhörlich angestachelt durch ihre Führer, die Generäle French und Foch, die Gegner angegriffen. Ihr Ziel: Den an dieser Stelle bisher errungenen, laut Moser nicht unbeträchtlichen Einbruchserfolg unter Aufbietung aller Kräfte zum großen entscheidenden Durchbruchserfolge durch das deutsche Heer hindurch zu steigern.
Guillemont wurde, so Mosers Bewertung, deshalb im August 1916 der strategisch-taktische Punkt, von der die deutschen und die feindlichen Heeresberichte fast täglich sprachen und auf den die deutsche und schwäbische Heimat mit der höchsten Spannung sah.
Doch die schlechten Voraussetzungen für die württembergischen Soldaten schildert Moser ganz nüchtern: Keine fertig ausgebauten Verteidigungsstellungen mit gesicherten rückwärtigen Verbindungen hätten den beiden württembergischen Divisionen zur Verfügung gestanden. Die Liste der Minuspunkte: Nur aus Granattrichtern mit einer geringen Anzahl von dürftigen Unterständen bestand die vordere Linie, die zudem durch kein Hindernis geschützt war. Nur in den Katakomben von Combles, südlich von Péronne und Berny, sowie in einigen anderen Ortschaften habe sich ein gesicherter Unterschlupf für Reserve und Verwundete befunden. Keine Zeit sei ihnen gelassen worden, sich auf diese Schlacht, eine Materialschlacht, einzugewöhnen.
Gleich am ersten Tag hatte sich die 27. Infanteriedivision, schreibt der Militärhistoriker weiter, im ärgsten Geschosshagel in die erste Reihe unter schwersten Einbrüchen und Verlusten in die vordere Kampflinie vorarbeiten müssen, was Moser eine zweite schwäbische Großtat nannte – die erste: Die Division habe 25 Tage an einem Brennpunkt der Somme-Schlacht ausgehalten, zehn Tage mehr als üblich.
Die Großtat war wohl auch angesichts eines Mangels an Ressourcen als besonderes Lob von Moser zu verstehen. Denn, so schreibt er, an allem und in jedem war der Gegner überlegen: an Truppen, Geschützen, Geschossen, Fliegern und Fesselballonen. Keine Qual ward unseren Truppen erspart: Splitter-, Gas- und Minenwerfergeschosse aller Kaliber, direkte Beschießung durch Flieger, furchtbare Hitze, Hunger und quälender Durst, unerträglicher Leichengeruch und durch all dies hervorgerufene schwächende Magen- und Darmerkrankungen.
Bei Tage heißer Kampf und stummes Ausharren im Geschosshagel, bei Nacht fieberhafte Arbeit an den Trichterstellungen und Stollen, an den zerschossenen Geschützen und Geschützständen sowie das Vorarbeiten der pflichttreuen Munitionskontrollen und der Speise- und Krankenträger über das freie Feld hinweg. Moser lobte dies als Tapferkeit, vaterländische Hingabe, Ausdauer und treue Feldkameradschaft.
Nach Ablösung des VIII. Armeekorps wurde am 6. September, so ist seinen Aufzeichnungen weiter zu entnehmen, noch eine weitere württembergische Division, die 54. Reserve-Division, stückweise in den Großkampf geworfen gegen die mit Artellerie- und Fliegerüberlegenheit arbeitenden französischen Anstürmer. Sie harrte darauf südlich der Einsatzstelle des VIII. Korps bei Combles und Rancourt.
Furchtbar muss dies gewesen sein. Aus ihren zweiwöchentlichen Kampftagen heben sich besonders der 13. und 20. September 1916 besonders ab. Eine zynische Umschreibung des Generals mit dem Monokel vor dem linken Auge für die. Tatsache, dass dies die verlustreichsten Tage waren. Mein Opa fiel am 15. September – ein tapferer Mann und Familienvater, ein schwäbischer Handwerker aus Schützingen, einfach verheizt von Militärs. Bei den Mosers dieser Welt klingt das positiv: Vier württembergische Divisionen hatten also erfolgreich mitgekämpft an der Somme. Die 27. Division allein beklagte fast 1000 Tote, das VIII. Korps mehr als 6000 Gefallene und Verwundete. Das VIII. Korps habe seine Probe in der ersten großen Abwehrschlacht wahrlich ruhmvoll bestanden, kommentierte Moser. Ob das die Witwen und Waisen auch so empfanden? Es ist zu bezweifeln.
Mit Ablauf des Septembers waren für die württembergischen Divisionen die dramatischen Zeiten des Jahres 1916 vorüber in der allzu gut bekannten Front zwischen Bapaume und Péronne. Bis November 1916 sei, so Moser, die Schlacht an der Somme weitgehnd abgeebbt wegen beidseitiger Erschöpfung.
Die Bilanz meiner Recherche: Die Suche nach konkreten Spuren über den Eintrag in der Kriegsstammrolle hinaus war vergeblich. Gedanklich erwischte ich mich bei der Frage, ob irgendwo in den Äcker und Wiesen zwischen Berny und Péronne die Asche meines Großvaters untergepflügt wurde. Doch ein Gewinn war, sich sozusagen mit dem allgemeinen Rahmen der Geschichte des WK 1 zu befassen, besonders auch mit den Zuständen in den Schützengräben.
Und Berny-in-Santerre? Die Gemeinde liegt rund 6,5 Kilometer nordnordöstlich von Chaulnes und wird westlich von der Autoroute 1 und im Norden von der Départementsstraße D1029 begrenzt. Der Bahnhof TGV Haute-Picardie in Ablaincourt-Pressoin liegt knapp außerhalb des Gemeindegebiets. Zwar vertrieb die französische Armee die deutschen Besatzer am 17. September 1916, doch 1918 kamen die Deutschen wieder zurück – bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, als das Kaiserreich kapitulierte. Die Republik Frankreich zeichnete den Ort aus mit dem Croix de guerre 1914-1918 – ein Orden in Kriegszeiten und für militärische Aktionen.
Das Dorf zahlte einen hohen Preis dafür, dass bei ihm im Weltkrieg 1 die deutsch-französische Frontlinie verlief. Als ich am Tag meiner Spurensuche vor der Informationstafel an der Hauptstraße stehe, fallen mir besonders zwei Zahlen auf. Im Jahr 1914 wohnten dort 300 Menschen, zehn Jahre später 58. Heute ist es die Hälfte gegenüber dem Beginn des Ersten Weltkrieges: 155.
Zufällig stieß ich vor etwa zwei Jahren bei der Online-Suche in den Beständen des Staatsarchivs Ludwigsburg bei den Bauakten F 183 III Bü 3274 des Oberamtes Maulbronn (1834 bis 1938, Nachakten bis 1965) auf diese: Schrodt, Marie, Witwe aus Lienzingen: Erbauung eines Wohnhauses, 1937, 1940. Als ich den Bauantrag durchblätterte, sprangen mir drei Worte auf dem Deckblatt besonders ins Auge. Des Gipsers Witwe. Mehr als 20 Jahre nach dem Tod ihres Mannes diente dessen Beruf noch als Merkmal der Zuordnung.
Der Traum vom Häusle in Lienzingen fiel dann dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Oma Marie starb 1949.
Dass die Geschichte des Gotthilf Ernst Schrodt, meines Großvaters mütterlicherseits, nicht vergessen, die einstige Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen überwunden ist, ist Alltag (ich schreibe diesen Text gerade in der Bretagne). Unser aller Hochachtung kann zwei Männern gegebenüber nicht groß genug sein: Zweier Staatsmänner, die der Aussöhnung zwischen diesen Völkern den Boden bereiteten. Charles de Gaulle, framnzösischer Präsident, und Konrad Adenauer, deutscher Kanzler.
Nie wieder Krieg!
Update am 22. Oktober 2023:
Heute, zwei Monate nach der Erkundungstour, lösen sich die letzten Rätsel (fast) auf. Matthias Trück brachte Kopien von Seiten des Kriegstagebuchs der 8. Kompanie, verwahrt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Signatur: E II e, 1014). Das Bild wird nun genauer. Am 8. September 1916 verlegten die deutschen Kommandostellen Einheiten, darunter die 8. Kompanie, an die Somme - mit Bahn, mit Lkw‘s und zu Fuß erreichten sie zwei Tage später ihren Einsatzort. Einer von ihnen: mein Opa.
Mit Südlich der Somme, 8. bis 29 September 1916 steht über dem Bericht im Tagebuch. Die Lage war fatal. Denn in der übernommenen Stellung gab es keine Schützengräben mehr. Was zusätzliche Kraft kostete, war deshalb der Ausbau der Granattrichter zu Verteidigung und zur Verbindung untereinander. Feindliche Angriffe erfolgten täglich und sie erschwerten den Einsatz zusätzlich. Mosers Darstellungen und die der Tagebuchschreiber der 8. Kompanie ähneln sich.
Bis zum 15. September arbeitete das Regiment weiter an seiner vorderen Stellung und an einer zweiten Linie, der sogenannten Zwischenstellung. Material und Handgranaten wurden vorgetragen, alles im feindlichen Feuer. Am 15. September lag fast fortwährend feindliches Feuer auf dem Regimentsabschnitt. 4,30 Uhr Abends gehen die Franzosen in breiter Front vor und das deutsche Sperrfeuer, bis dahin tadellos in seinen Einsetzen, versagte diesmal. Verbindungs- und Beobachtungsoffiziere der Artillerie waren gefallen, ebenso die Infanteriezwischenposten, welche die Raketenzeichen weitergeben sollten. Die Telefondrähte waren abgeschlossen. (…)
Schlimmer gestaltete sich die Sache am linken Flügel des Regiments, der immer noch ohne Anlehnung war. Hier war der Feind bis östlich über Berny hinaus vorgedrungen und griff die achte Kompanie von vorne und aus der linken Flanke an. Trotz alledem wiesen der rechte Flügelzug der achten und die rechts anschließende siebte Kompanie den Gegner ab. Die schwachen Reste der beiden linken Flügel Züge der achten Kompanie, die das Artilleriefeuer überlebt hatten, fielen dem französischen Infanterieangriff zum Opfer. Aber unverwundet war kein Mann zurückgelaufen. Auf ihren Posten standen und starben 2 Züge.
Jetzt setzte die Fünfte Kompanie, bisher in Bereitschaft links gestaffelt, zum Gegenstoß an. Sie jagte den Gegner aus der von ihm genommenen Stellung wieder hinaus und grub sich während der Nacht in nach links rückwärts gebogener Linie ein. Von der linken Nebendivision fehlte jede Spur. Deshalb rückten 2 Kompanien des Ruhebataillons über Nacht über die Somme herüber und als Reserve hinter den linken Flügel des Regiments, wo bisher die fünfte Kompanie gestanden hatte. Es scheint, dass unser tapferes Verhalten dem Feind die Angriffslust genommen hatte. Er beschränkte sich auf Artilleriefeuer. Erst am 17. September, nach stundenlangen Vorbereitungen, griff der Feind wieder an mit Flammenwerfern und Gas gegen unseren rechten Flügel und gegen das rechte Nebenregiment. 120 wurden dabei vernichtet, das Grabenstück fiel in Feindeshand, aber das Grabenstück und ihr Leben hatten die Tapferen nur um einen hohen Preis gelassen. Das zeigte die Menge der französischen Leichen vor und in der deutschen Stellung.
Am 25. und 26. September 1916 wurde das Regiment abgelöst. Die Verluste nach 17 Tagen: 923 Tote allein auf der deutschen Seite, darunter Gotthilf Schrodt aus Schützingen.
Die bekannten fünf W’s treiben die Hinterbliebenen immer noch um: wo, wer, wann, was, warum. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges meldete sich bei Witwe Marie ein Kamerad, der mit Gotthilf im Schützengraben lag, aber das Inferno überlebte. Die Deutschen hätten nicht mehr zurückgekonnt, um ihre Toten zu bergen. Denn über den Gräben habe sich ein Feuertepich ausgebreitet, verursacht durch Flammenwerfer, eingesetzt von den Franzosen. Das Nicht-Abschied-nehmen zu können, belastete, musste aufgearbeitet werden.
Über die letzten Minuten im Leben meines Großvaters lässt sich, wie sich aus dem allem ergibt, nur spekulieren. War er schon tot, als ihn die Flammen erreichten? Oder verbrannte er bei lebendigem Leib? Das werden wir nie erfahren. Er fehlte der Familie jedenfalls. Seine Töchter wuchsen ohne Vater auf. Zumindest die Älteren von ihnen litten darunter. Narben in der Seele, die blieben.
Ein anderer Schrodt überlebte: Gotthilfs Bruder Karl Heinrich (Jahrgang 1885). Er kam wegen eines Herzleidens nicht an die Front, sondern wurde noch 1914 heim nach Schützingen geschickt.
Im Original:
Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStA Stuttgart M 477 Bd. 28). Kriegsstammrollen des (württembergischen) Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 120 / 1914-1918., genauer die Kriegsstammrolle der 8. Kompanie.
Unter der laufenden Nummer findet sich der Eintrag: Res[ervist] Gotthilf Ernst Schrodt, ev. [= evangelisch], Schützingen O.A. [= Oberamt] Maulbronn / 26.10.[18]87, Gipsermeister / Schützingen, Ehefrau Maria geb. Bahnmeier, Schützingen, 1 Kind, Vater: + [= verstorben] / Christine geb. Fritz, Schützingen. Vom 15.11. – 18.11.[19]15 im Revier [?] an Bronchitis.
Am 15.9.[19]16 gefallen südwestlich von Peronne. Die Richtigkeit beglaubigt. Recelaire, den 10. Oktober 1916 [eigenhändige Unterschrift] Leutnant u[nd] Komp[anie] Führer.
Zu seinem militärischen Dienst im damaligen Königreich Württemberg finden sich wenige Zeilen: [= 8. Kompanie. Res[erve] Inf[anterie] Regts. [= Regiment] Nr. 120 . Frühere Dienstverhältnisse: 12.10.[19]07 als Rekr[ut] 8. Komp[anie] I[nfanterie] R[egiment] 121 Entl[assung ?]: 20.9.[19]09 zur Res[erve] nach Schützingen, 25.8. bis 21.9.[19]11 ..bg. [?] b 5./ I[nfanterie] R[egiment] 121. Mit der Mobilmachung rückte Gotthilf Schrodt am 5.8.[19]14 ein.
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