Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, sondern nie

Bild von Gerd Altmann

Die derzeitige Lage ist historisch einmalig.
 
Das hören wir allenthalben und sind nach kurzem Nachdenken gewillt, diesem Gedanken beizupflichten. Doch es stellt sich die Frage, ob wir der Einschätzung ebenso zustimmen wie der Begründung. Sicher, Corona hat uns in einen wirtschaftsgeschichtlich einmaligen Zustand versetzt, den es so seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Ebenso gab es bislang keine Notwendigkeit, verfassungsrechtlich mögliche, aber nur mit Bedacht einzusetzende Einschränkungen grundständiger Rechte von 83 Millionen Menschen auch zu nutzen. So weit, so gut. Dieser Schlussfolgerung, dass die Krise einmalig ist, bildet den Tenor unserer in jüngster Zeit nicht durch Kreativität und Facettenreichtum geprägten Berichterstattung.

Wir erfahren täglich eben jene Feststellung: „Corona hält unser Leben im Griff“ oder „Corona sorgt für Ausnahmezustand“. Und wenn es nicht Corona selbst ist, sind es die Symptome: „Ausgangssperren werden verhängt“, „Österreich macht die Grenzen dicht“ oder „Ist die Gastronomie zu retten?“. Dem allen ist nichts hinzuzufügen – verblüffen mag einen nur der Umstand, dass offensichtlich einfache Feststellungen allein den Kern unserer zeitgenössischen Wahrnehmung selbst in elaborierten Medien oder Plattformen bilden können. Wo ist die Tiefe der Analyse? Wo ist der durchdringende Blick? Wo ist die übergeordnete, verbindende Einschätzung? Ja, Corona ist eine Herausforderung – teils existenziell, teils beschwerlich, für etliche bedeutet die Pandemie auch ein langfristiges Umdenken.

Doch, fragt man sich: Ist es das?
Mehr Einschätzung folgt daraus nicht? In der Krise offenbaren sich nicht nur Symptome einer temporären Herausforderung, sondern Krisen öffnen und weiten den Blick für ernste Verschleißerscheinungen von Systemen, ernsten Herausforderungen, viel allgemeineren Fragestellungen.

Wir befinden uns im achten Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg und im elften Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte neben den Verwerfungen der 1940er Jahre eine Veränderung unserer Gesellschaften mit sich, wie es diese so bislang nicht gegeben hat. Diese Veränderungen lassen sich, so verschiedenartig sie sind, auf wenige grundsätzliche Prämissenänderungen zurückführen: Nichts ist mehr bedingungslos, es gibt keine „allgemein gültigen“ Regeln, Werte oder Normen mehr und gemeinsame Ideale fehlen, werden sogar als Einschränkungen umdefiniert. Der fanatische Exzess, Normen gewaltsam durchzusetzen, führte zur Katastrophe von 1933. Doch danach setzte das Pendel den gegensätzlichen Weg bis hin zur Auflösung aller an Traditionen anknüpfenden Werte an. Ein Umstand, der viel zu wenig seriös diskutiert und so rechten Kreisen ohne philosophischen Anspruch überlassen wird.

Die Konsequenz dieser Feststellung lässt sich nun vergleichend auf die derzeitigen Beobachtungen in der Corona-Pandemie übertragen: Die Gesellschaft hält sich nicht an Regeln. Das Umgehen „des Systems“ ist zum „Volksport“ geworden und die Verortung des Individuums in einem Gemeingefüge wird heute als antiquiertes Gerede abgetan.
Die Folge ist eine Corona-Pandemie, in der sich zeigt, dass eben nicht der Zusammenhalt wächst, sondern der Egoismus sich beschleunigt. Anfängliche Beobachtungen im Frühjahr 2020, als vielerorten Initiativen entstanden, werden nun durch eklatante Vereinsamung, das Retten der Pfründe und alberne politische Skepsis konterkariert. Dahinter liegt eine Schieflage im argumentativen System der Individuen unserer Gesellschaften in Europa. Dieses argumentative System sieht eigentlich meine Freiheiten garantiert durch die Einhaltung der mir durch Normen und Werte tradierten Formen und Tugenden.

Diese These ist so simpel und alt wie die Philosophiegeschichte selbst – aber sie bildet die Bindekraft für gesellschaftliche Zentrifugalkräfte. Wo Eigeninteressen und Gemeinsinn nicht durch tradierte Werte in Balance gehalten werden, ist „Krisenmanagement“ komplexer – denn dann zielt das Krisenmanagement, wie man derzeit beobachten kann, nicht darauf ab, die Krise in ihren Problemen zu „managen“, sondern Kommunikation zu betreiben. Man sieht sich dann in einer Schleife aus Erklärungen gefangen und ist mehr damit befasst, zu erklären, als zu lösen. Ein Dilemma. Wir beobachten dies gerade als eine Art Uraufführung der verlernten „gesellschaftlichen Konfliktlösungsstrategie“.
 
Kommen wir zum zentralen Punkt: Was ist das grundsätzliche Element erfolgreicher Konfliktlösungsstrategien? Sei es in familiären Eltern-Kind-Auseinandersetzungen, in der Politik, im Beruf oder andernorts?
Die Lösung liegt im Kern darin, auf allgemeinere Ziele zurückgreifen zu können, die außerhalb des temporären Konflikts ruhen. Konflikte können leichter gemeistert, gesellschaftliche Prozesse einfacher gestaltet werden, wenn es Zielsetzungen, übergeordnete Visionen, Standpunkte oder Vorhaben gibt. Diese müssen nicht in realen Tagesordnungspunkten münden – zu wenig lässt sich vorhersehen, wie sich die Welt in dieser schnelllebigen Zeit entwickelt. Aber sie müssen allgemeine Richtungen vorgeben.
 
Und diese Richtung gibt es nicht.
 
Eine Gesellschaft, welche die Tradition verloren hat, in Zielen zu denken, kann Konflikte nur infantil lösen. Alle Maßnahmen wirken, als agiere man von Akt zu Akt, von Tag zu Tag. Das ist kindliches, um nicht zu sagen kindisches, Verhalten. Seriöse Strategien zielen darüber hinaus.
Nach dem zweiten Weltkrieg, vor acht Jahrzehnten, war das Überleben, der Wiederaufbau, die Zusammenführung von Familien, die Bewältigung von Flucht, Verlust, Vertreibung und anderem ein gemeinsames Ziel aller Politik. Alle Probleme wurden im Zeichen dieser Fragen behandelt – selbst, wenn es keinen unmittelbaren Zusammenhang gab. Dann folgte das Wirtschaftswunder – "Wohlstand für alle" lautete das Credo. Es kam zu einer Epoche, die nun seit etwa einem halben Jahrhundert andauert und zu einem Wachstum an Immobilien geführt hat, wie es dieses noch nie in der Geschichte gegeben hat. Wohnraum, Platz, individuell zu gestaltende soziologische Räume – dies galt in der Philosophie des Bürgertums nach 1945 als Wohlstand und Freiheit. Dies wiederum führte zum neuen Beidermeier: Heute ist eben dieser Rückzugsort wichtiger als der öffentliche.

Parallel wurden alle Ziele spätestens ab den 1950er und erst recht seit den 1960er Jahre überschattet vom Ziel, die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, Demokratie und republikanische Tradition sowie die Freiheit auch am Eigentum östlich des Harz herzustellen.
Und was kam nach 1990? Das Ende der Geschichte wurde verkündet. Ein Treppenwitz der Geschichte, aber eigentlich eine tragische Angelegenheit. Denn mit den zuvor genannten Zielen der Gesellschaft ging das Aufwachsen einer Jugend seit 1960 einher, die nur Wohlstand kannte und verlernte in Zielen zu denken, die in der eigenen Lebenszeit nicht erfüllt werden können. Individuelle Bedürfnisbefriedigung wurde das Ziel. Konsum eine Art Massensuchtmittel. Mein Platz, mein Leben, meine Rechte, mein Glück. „Das steht mir zu“, so das Credo. Doch dies ist, so schön es im Einzelfall ist, wenn es zutrifft, Auslöser einer gesellschaftlichen Schieflage, die auch als Gefahr bewertet werden kann: Denn so verlieren wir den Blick dafür, dass wir Teil einer gesellschaftlichen Biographie sind, dass nicht alles möglich ist und dass die Gesellschaft, um mit Schiller zu sprechen, mehr ist als die Summe seiner Teile. Es ist eine durch historische Umstände gebildete Personen- und Gütergemeinschaft.
 
Unsere Gesellschaft ist geschichtslos geworden. Darum kennt sie heute keine Ziele mehr. Wollen wir Europäer werden oder gar sein? Was tun wir dafür? Will Europa selbstständiger sein oder nicht? Soll unsere Volkswirtschaft eine Dienstleistungsgesellschaft werden? Was sind die Ziele für die kommenden Jahrzehnte?
 
Ohne Ziele denke ich in kleinen Schritten. Ich löse Probleme, wie ein Kind einen Konflikt zu lösen gewohnt ist. Es bedeckt, legt zur Seite, sucht einen Schritt um den nächsten. Das beobachten wir nun!
 

Bild von jorono auf Pixabay

Die Corona-Krise ist ein Problem, keine Frage. Aber sie offenbart ein größeres Dilemma. Es wird nicht diskutiert, wohin die Gesellschaft soll. Wir haben keine Ziele. Wir retten Pfründe, sichern Besitz, ziehen uns ins neue Biedermeier zurück. Die gesellschaftlichen Tendenzen erinnern an die Strukturpolitik des Fürsten Metternich. Wüssten wir um unsere gesellschaftlichen Ziele, welche Parlamente mühselig zu erarbeiten haben, würde auch die Konfliktlösung im Falle einer Pandemie anders laufen. Man wüsste, was wirklich wichtig ist, was es zwingend sofort zu erhalten gilt und was nicht, wo nun investiert werden könnte, wie viel Marktwirtschaft die soziale Variante zulässt. Aber diese Fragen stellen wir uns nicht.

"Keiner weiß, was kommt." Diese Binsenweisheit ist zum Credo geworden. Aber so ist kein Staat zu machen. Eben, da man nichts weiß, muss man planen. Wo der Nebel die See verdeckt, wissen Seeleute Pläne zu erstellen.
 
Das Dilemma der Corona-Zeit ist die Ziellosigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Der Dreiklang aus einem Verlust des Werte- und Tugendkanons, einer aktiven Geschichtslosigkeit und schließlich daraus folgend der Glorifizierung der Gegenwart und des einzelnen, wiederkehrenden Konsummomentes verhindern den Blick nach vorne.
 
Das Wort „futur“ entstammt einer Vergangenheitsform, obwohl es die Zukunft beschreibt. Dieser lateinische Ursprung ist beispielsweise noch im französischen „je fus“ zu sehen, was „ich war“ bedeutet. Die Vergangenheit ist also die Prämisse der Zukunft. Die Gegenwart ist eine Illusion, sie währt nie länger als eine Sekunde. Also hören wir auf, die Gegenwart zu glorifizieren, sondern durch die Vergangenheit in den „futur“ zu blicken.
 
Dann lösen wir vielleicht Konflikte mit Werten, Kopf, Sinn und Verstand.
 
Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, sondern nie.
 

 

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