Das spart Lienzingen ein kleines Baugebiet auf der grünen Wiese: 4,7 Millionen Euro von Land und Stadt für einen vitalen Ortskern

Lienzingens historischer Ortskern mit seinen gut erhaltenen mittelalterlichen Strukturen gelte als ein  Sonderfall gerade bei jenen Stellen der Landesverwaltung in Karlsruhe und Stuttgart, die sich mit Sanierungsprogrammen beschäftigen und zu deren Beritt der 2100 Einwohner zählende Stadtteil Mühlackers gehört. Das sagte jüngst eine Expertin in puncto Sanierungen.

Lienzingens Sanierungsgeschichte liefert Stoff für mehrere Infotafeln. Hier im großen Saal des Rathauses Mühlacker, 21. März 2023

Lienzingen, der Sonderfall, der  nicht mit den üblichen Maßstäben zu messen sei. Das zeigte sich auch, als Bund und Länder 50 Jahre Städtebauförderung feierten. Zu den 50 Musterbeispielen aus Baden-Württemberg gehörten Lienzingen und seine 85 Kulturdenkmale. Fazit des Landes: Mit Hilfe der Städtebauförderung konnte das historische Ortsbild erhalten und die vorhandenen Strukturen zeitgemäß weiterentwickelt werden.

Und weiter lobt das Land unser Dorf:

Der Stadtteil Lienzingen in Mühlacker mit seinem dörflichen Charakter besteht aus einem fast geschlossenen Scheunengürtel mit zahlreichen Fachwerkhäusern. Mit Hilfe der Städtebauförderung konnte diese historische Ortsanlage erhalten und zahlreiche denkmalpflegerisch wertvolle Gebäude modernisiert werden. Funktionslose Scheunen konnten umgenutzt und rückwärtige Bereiche erschlossen werden. Auch viele Gassen und Wege, Grünflächen sowie der Vorplatz der Festhalle wurden neugestaltet. Das Rathaus sowie die Kelter wurden saniert; im Rathaus ist nun das Heimatmuseum untergebracht. Zwischen 2008 und 2011 wurde zudem im Rahmen des Bund-Länder-Programms Investitionspakt energetische Modernisierung sozialer Infrastruktur die Festhalle energetisch und baulich saniert.

Grün gleich private Maßnahmen 2006/22, rot öffentliche Maßnahmen - alles im Sanierungsprogramm, 60 Prozent des Geldes vom Land, 40 Prozent von der Stadt Mühlacker. . . (Plan: KE)

Der Sonderfall sei hoch angesiedelt, wird erzählt. Der Sonderfall beschäftigte diese Woche auch den Gemeinderat.

Ein Programm der guten Taten.

Eine Gebäudesanierung, zumal bei einem Kulturdenkmal, kostet häufig beträchtliche Summen. Gut, dass Land und Bund einen Teil der finanziellen Lasten mittragen, einmal über Zuschüsse aus den gemeinsamen  Modernisierungsprogrammen mit den Kommunen, zum anderen über zehn Jahre durch erhöhte steuerliche Abschreibungssätze für die Hauseigentümer.  Auch wenn an den Immobilienbesitzern trotzdem eine erkleckliche Summe hängen bleibt - diese Art der Subventionen durch die öffentliche Hand hilft wenigstens tragen. Ohne solche Hilfen wären manche Häuser im historischen Ortskern von Lienzingen nicht zu Schmuckstücken herausgeputzt worden wie es seit 2006 der Fall ist. Lienzingen steht auf der Liste der erfolgreichen Sanierungsgebiete unter anderem mit der Bahnstadt in Heidelberg, der Bodan-Werft in Kressbronn am Bodensee und dem Dörfle in Karlsruhe.

Noch nicht saniert: Kirchenburggasse 5

Indessen: Durchaus interessierte Menschen kapitulieren, weil sie den Eigenanteil an den Sanierungskosten nicht oder nur schwerlich tragen können. Ein Beispiel, das nicht nur mich umtreibt, ist Kirchenburggasse 5: großes Haus, große Scheune. Wer kann eine solche Investition stemmen? Eine ortsbezogen agierende Baugenossenschaft vielleicht, die Kapital und Kräfte bündelt? Die Stadt kaufte zwei der Drittel, will das Anwesen ganz in ihre Hand bekommen, um es aus dieser am Stück verkaufen zu können. Seit Jahren rennt sie dem Eigentümer des letzten Drittels nach, doch der weilt meist in seiner Heimat Türkei.

Auch das sind Sanierungserfahrungen. Zum Glück die Ausnahmen.

Solche Ausnahmen haben aber ein Muster. Kulturdenkmale verfallen, weil behauptet wird, der wirtschaftliche Aufwand einer Sanierung sei dem Eigentümer nicht zuzumuten. So jüngst das Argument bei der rückwärtigen Scheune eines Haus, das zur Friedenstraße orientiert ist. Das Loch im Dach wurde immer größer, alle Welt sah dies vom Sportgelände aus. Meine Anfragen an Landesdenkmalamt und Stadtverwaltung endeten zwar mit der Bekundung des großen Bedauerns, würde die Scheuer fallen, weil zu marode, aber handeln wollte niemand. Keine Ersatzvornahme, der Hinweis auf Privateigentum, das nur schwerlich anzutasten sei, gehört zum Standard-Repertoire. Der Abbruch der Scheune geschah mit stadtbehördlichem Segen. Und bei Friedenstraße 12 gegenüber verhielt sich die Kommune als Eigentümerin auch nicht anders. Leider.

Das gehört zum Bild.

Das beliebte Lienzinger Motiv: Alte Schule (links), Peterskirche und Wohnhaus_2022). Foto: Günter Bächle

Doch zum Glück bietet Lienzingen auch andere, viele Beispiele des Tuns und Handelns. Exemplarisch dafür: Die erste Lienzinger Schule vor etwa 440 Jahren, heute Café Kirchenburg, kleiner gastronomischer Betrieb in der Kirchenburggasse. Zu befürchten war, dass dieses prägnante Gebäude verfällt, wenn die Stadt nicht als Retter auftritt. Doch die Retter wohnten gleich nebenan, sie ließen sich nicht abschrecken, kauften und sanierten das Kleinod. Der Gemeinderat stimmte der höchstmöglichen Förderung zu. Die Nachbarn aus dem schmucken, angrenzenden Fachwerkbau steckten gleichermaßen Herzblut, Arbeitskraft und Geld in das Objekt. Ein Engagement, das einen solchen historischen Ortskern trägt und vital hält. Das Café Kirchenburg hat sonntags geöffnet, ein Besuch lohnt sich und die Eigentümer lassen gerne auch in die Fotodokumentation der Sanierung blicken. Einfach fragen!

All dies wäre ohne das Geld von Bund und Land nicht möglich gewesen.

Im Frühjahr 2006 genehmigte das Land Baden-Württemberg endlich den Antrag der Stadt Mühlacker auf Aufnahme des Ortskerns von Lienzingen ins Förderprogramm mit zunächst 1,6 Millionen Euro als Rahmen. Beigetragen zu diesem Erfolg hatte der Enzkreis-Vertreter im Landtag, mein Fraktionskollege im Kreistag, Winfried Scheuermann. Eines Morgens brachte Scheuermann den letztlich für die Verteilung der Mittel zuständigen Ministerialbeamten nach Lienzingen, wiederum der sich bei unserem gemeinsamen Rundgang beeindruckt zeigte von der baulichen Substanz des Quartiers,  die unbedingt erhalten und gestärkt werden müsse.  

Dann lief der kleinen Gruppe  - Vertreter von Ministerium und Regierungspräsidium, Scheuermann und mir -  in ansonsten ruhiger Morgenstunde der damalige evangelische Pfarrer Karl Frank in die Hände. Das war dann noch einer, zumal mit Segen von oben, der einer Aufnahme ins Sanierungsprogramm das Wort redete.

Fachwerk-Parade Knittlinger Straße (Foto: Kommunalentwicklung LBBW)

Schon 2003 überlegte die Stadt, in welcher Reihenfolge für die noch nicht zum Zuge gekommenen Ortsteile Mittel aus dem Landessanierungsprogramm in Anspruch genommen werden sollten. Mühlhausen, Lomersheim oder Lienzingen? Die Fachleute der Kommunalentwicklung sprachen sich für Lienzingen aus mit seinen etwa 300 Haupt- und Nebengebäuden auf 70.000 Quadratmetern Fläche.  Da aber die Nachfrage in dieser Zeit in den vorhandenen Sanierungsgebieten Kernstadt, Dürrmenz und Großglattbach verhalten war,  bremste das Regierungspräsidium Karlsruhe bei Lienzingen. Nach Absagen 2004 und 2005 gab es im Frühjahr 2006 beim dritten, maßgeblich von Günter Bächle forcierten Anlauf, aber doch einen Erfolg, schreibt der Historiker Konrad Dussel im 2016 im Verlag Regionalkultur erschienenen Ortsbuch von Lienzingen (S. 269 f).

Grüne Räume zwischen Herzenbühlstraße und Scherbentalbach (Fotos: G. Bächle_2022)

Der von mir in diesem Zusammenhang gerne zitierte Reiseschriftsteller Franz Prinz von Sayn-Wittgenstein schrieb 1975:  Schöne Dörfer gibt es in Württemberg sehr viele: Lienzingen ist eine Perle unter ihnen.  2006 griff ich im Gemeinderat das Wort von der Perle auf, genauso wie jetzt diese Woche und damit 17 Jahre später bei der Würdigung des Sanierungsprogramms für den Ortskern nach seinem Ende im Frühjahr 2022. Die Perle glänzt. Doch es bleiben noch ein paar Flecken, die auch aufpoliert werden müssen. Mit ein Grund dafür, beim Land für 2023 – beginnend - ein neues Sanierungsgebiet, mit ähnlicher Abgrenzung wie das erste, zu beantragen. Ganz formal musste diese Woche der Gemeinderat die Satzung über das bisherige Sanierungsgebiet aufheben und die Bilanz absegnen. Beides geschah einstimmig. Die Stadt hat somit ihre Hausaufgaben erledigt, jetzt ist das Land am Zuge.

Grüne Lungen im Ortskern von Lienzingen

Eine Erfolgsgeschichte trotz langsamem Start, der aber dann doch an Tempo aufnahm. Ich hatte mich im Gemeinderat Anfang 2008 mit 16 zu 15 Stimmen durchgesetzt, dass zuerst die Kirchenburggasse und dann die Turn- und Festhalle saniert wird. Dass die Stadt nun die Gassen in Angriff nahm, ließ die Nachfrage nach dem Programm bei den Privaten anziehen. Im Sommer 2011 waren schon 34 Maßnahmen abgeschlossen (Dussel, S. 270 f).

Die Feuerwehr zog um in die Schelmenwaldstraße

So fiel die Bilanz diese Woche im Gemeinderat ausgesprochen positiv aus. Gerade bei einem verhältnismäßig kleinen Ort, sagte Sabine Morar, die das Programm in Lienzingen für die Kommunalentwicklung – als Sanierungsträger – betreut, sei die Nachfrage nach Mitteln sehr gut. Insgesamt flossen seit 2006 rund 4,7 Millionen Euro in den Lienzinger Ortskern, davon 60 Prozent vom Land und 40 Prozent von der Stadt. Von dieser Gesamtsumme gingen 2,4 Millionen Euro an Privatleute. Besonders erfreulich, so Sabine Morar. Das Neuordnungskonzept ließ sich weitgehend umsetzen. Das betrifft auch die städtischen Maßnahmen.

Der neue Dorfplatz vor der sanierten Kelter...
... und davor.

Das spart ein kleines Baugebiet auf der grünen Wiese – sagte Morar zurecht. Denn 62 Wohnungen sind im Ortskern geschaffen oder auf einen modernen Standard gebracht worden. Möglich geworden durch 60 Eigentümer, die für 50 Gebäude Sanierungsvereinbarungen mit der Stadt abschlossen. Das ist Innenentwicklung pur, auch aus Gründen des Klimaschutzes so gewollt. Mühlacker war die erste Kommune, die den Einbau von Wohnungen in leer stehenden Scheunen auch finanziell förderte. Lienzingens Ortskern wirkt inzwischen wie ein Magnet. Erfreuliches Zeichen ist, dass auch auswärtige junge Familien in die Jahre gekommene Wohngebäude kaufen, nach Lienzingen ziehen und ihre Anwesen herausputzen. Weitere Familien stehen in den Startlöchern und hoffen auf den baldigen Beginn von Ortskern-Förderprogramm  Lienzingen Numero zwo.

Den starken Beifall der Lienzinger fand die Umgestaltung der Fläche zwischen Kelter und Scherbentalbach zu einem (ersten) Dorfplatz, ein gern angenommener Treffpunkt im Flecken. Diesem musste ein städtisches Haus weichen, die Feuerwehrabteilung zog deshalb in die Schelmenwaldstraße um. Die Kelter wurde gleichzeitig saniert, die alte Turnhalle – ein Anbau – abgebrochen.

Was lief an öffentlichen Projekten? Eine Auswahl:

  • Sanierung des alten Rathauses in der Friedenstraße, nun genutzt als Museum (ständige Ausstellung von Christbaumständern) und (noch nicht fertiger) Etterdorfstube
  • Modernisierung der Mehrzweckhalle (über das Sonderprogramm IVP)
  • Herstellung und Gestaltung von Erschließungsanlagen (zum Beispiel Bädergasse, Kirchenburggasse und Spindelgasse)
  • Modernisierung und Instandsetzung von mehr als 50 Privatgebäuden zum Erhalt der historischen Ortsanlage des Etterdorfs und seiner Bausubstanz
  • Umnutzung von funktionslosen Nebengebäuden für Wohnzwecke (zum Beispiel Kirchenburggasse 24/3 und Spindelgasse 4)
  • Abbruch von Gebäuden zur Vorbereitung einer Neubebauung (zum Beispiel Friedenstraße 12).
  • Auch die kleinen Sachen machen neugierig, so der in seiner ganzen Länge wiederhergestellte Ortsrandweg entlang  des Scheunengürtels,  die Erforschung der Geschichte des Herzenhäusle und der historische  Ortsrundweg mit 26, bald 30 Stationen. Auch all dafür flossen Mittel aus dem  Sanierungstopf. Für die kleinen Freuden also.
Gemeindehalle profitierte auch vom Sanierungsgebiet: Hülle neu gemacht, Innensanierung noch nicht erledigt

Da trotz der erfolgreich abgeschlossenen Erneuerungsmaßnahme weiterhin ein großer Bedarf an städtebaulichen Erneuerungsmaßnahmen besteht, wurde bereits für dieses Jahr ein Neuantrag für ein weiteres Sanierungsgebiet im Ortskern von Lienzingen gestellt. Dieser Antrag liegt dem Regierungspräsidium und dem Ministerium für Landesentwicklung und Wohnen ebenfalls vor. Die Entscheidung über eine Programmaufnahme wird für Ende April 2023 erwartet. Mit der erneuten Aufnahme ins Landessanierungsprogramm könnte die Erneuerung und Erhaltung des historischen Ortskerns von Lienzingen weitgehend nahtlos fortgeführt werden.

Alles andere wäre auch niemandem zu vermitteln.

Nachzutragen bleibt, dass auch die früher selbstständige Gemeinde Lienzingen jeweils ihr Scherflein beitrug, wenn Häuser im Ortskern herausgeputzt wurden. Entscheidung im Einzelfall, getroffen vom Gemeinderat. In einer Zeit, in der es noch keine staatlichen Sanierungsgsprogramme gab. 

 

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