Das unscheinbare Herzenhäusle und sein nun gelüftetes Geheimnis

Das Rätsel gelöst, das letzte Kapitel geschrieben, die Dokumentation des Mittelalterarchäologen Tilmann Marstaller der Öffentlichkeit vorgestellt - am Ort des Objekts, das im Februar 2022 der Spitzhacke zum Opfer fiel, und auf dessen Spuren sich der Forscher begab. Es ist die überraschende Geschichte des unscheinbar wirkenden Taglöhnerhauses in Lienzingen. Laut seiner bauhistorischer Kurzuntersuchung steht nun endgültig fest: Das so genannte Herzenhäusle ist nicht erst in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut worden, wie manche in Lienzingen mutmaßten, sondern ging laut Anfang des Jahres vorgenommener dendrochronologischer Datierung aus einem 1828 erbauten Nebengebäude hervor - einem Heuhaus.

Bei der Vorstellung der Dokumentation zum Herzenhäusle mit Stadtarchivarin Marlis Lippik, Tilmann Marstaller (Zweiter von links) und Amtsleiter Konrad Teufel von der Stadt Mühlacker (rechts). Hinter dem Zaun stand bis Februar 2022 das Objekt der Forschung.

Für die darin dann anno1848 eingerichtete Hafnerwerkstatt bot sich das deutlich vom Ort abgerückte Gebäude mit der größten Grundstücksfläche aller Häuser des Dorfes an, denn der Brennofen des Töpfers hätte durch überspringendes Feuer in der dichten Bebauung höchste Brandgefahr bedeutet. Die Nutzung als Wohnhaus lässt sich von 1863 an belegen. Ein einstöckiges Bauwerk, das sich wegzuducken schien, zu Beginn des 20. Jahrhunderts modernisiert, nach Osten erweitert und neu eingedeckt, so Tilmann Marstaller. Wäre das Gebäude nicht in einem derart desolaten Bauzustand geraten, es hätte in seiner praktikablen Bauaufteilung mit geräumiger Stube, Küche und Nebenraum mit den Tiny-houses von heute konkurrieren können, schreibt der Bauforscher (Seite 9). 

Die Aufteilung - Vorgängerin des heutigen Tiny houses? (Quelle: Dokumentation Marstaller, S. 7)

Eine Dokumentation über ein unscheinbares, marodes Gebäude mit der Adresse Friedenstraße 26/1 oder 26a, jetzt vorgestellt am Platz, auf dem es bis im Frühjahr stand. Die Stadt Mühlacker, seit 2018 Eigentümerin, ließ es notgedrungen platt machen, gerade weil es so heruntergekommen war. Auf meine Bitte als Stadtrat hin machten Oberbürgermeister Schneider und Baubürgermeister Abicht jedoch vorher den Weg frei, um das Häusle  dokumentieren zu können.

Die Baujahre (Quelle: Dokumentation von T. Marstaller)

Zumal meine Suche nach Unterlagen über das Baujahr im Baurechtsamt der Stadt in einer Akte endete, mit Schriftstücken zu Friedenstraße 26, aber ohne ein Stück Papier zu 26/1.

Die Suche begann von Neuem, diesmal im Stadtarchiv Mühlacker. Als erfolgreiche Spurensucherin erwies sich wieder einmal Archivleiterin Marlis Lippik. Sie stieß in alten Listen der Feuerversicherung auf überraschende Belege, dass das Objekt zumindest seit 1863 bewohnt worden sein musste. Ergebnis: In dem Haus steckt mehr Geschichte als gedacht. Und jede neue Erkenntnis war ein Beitrag für den Blog wert.

Just die ersten Annahmen  unserer Recherche werden auf den 51 Seiten bestätigt, die Marstaller nun vorlegte. Der Bauforscher, großer Kenner der Historie des mittelalterlichen Ortskernes von Lienzingen, hatte um 2008 das Alter fast aller Gebäude im Ortskern bestimmt nach Proben, die er aus dem Holz des jeweiligen Objekts zog. Für Friedenstraße 26 (heute Haus Link) ermittelte er 1700 als Baujahr.

Lage des Gebäudes im Urkataster Lienzingen von 1835

Und 26/1? Fiel damals durchs Raster, weil es baufällig war, darin niemand wohnte. Doch diese Recherche ließ sich jetzt nachholen. Ein anderer Tilmann erfasste das Gebäude per 3D-Laserscanner: Tilmann Riegler von der Firma Strebewerk in Stuttgart, der auch die mittelalterliche Ortsanalyse von 2011 erarbeitet hatte, die 2012 zur Etterdorf-Erhaltungssatzung führte. Zwei ausgewiesene Lienzingen-Kenner waren am Werk. Marstaller holte die dendrochronologische Untersuchung nach, wertete die Scans und historische Quellen aus. 

So schälte sich nicht nur die unerwartete Geschichte des Häusles heraus, dessen letzte Bewohnerin Namensgeberin Marie Herz war, die 1968 starb (genau genommen lebte noch eine kurze Zeit danach eine italienische Familie in den Räumen), sondern auch viel Interessantes zum Leben und Alltag der Bewohner - einfache Leute mit all ihren Sorgen und Nöten. Das lässt sich an dem Auszug aus dem Ortsfamilienbuch Lienzingen (OFB Lie) ablesen, der im Anhang der Dokumentation zu finden ist (S. 48). Und Carolin Becker arbeitete im Mühlacker Tagblatt vom 9. Juli 2022 auf einer Seite besonders die Schicksale der Menschen auf - mit viel Wissen,  Empathie und der Liebe  zum Detail.

51 Seiten zum Herzenhäusle

Der älteste archivalische Beleg für ein Gebäude im Bereich des Herzenhäusles bildete das Urkataster von 1835, so Marstaller. Vermutlich handelt es sich bei dem dargestellten Umriss um das 1842 erstmals genannte Heuhaus des Albrecht Conradt Schray. Abzimmerung und Aufrichtung des Fachwerks des Hauses datiert Marstaller auf 1828 (S. 2 ff). 

Das Gebäude Friedenstraße 26/1 hat deutlich mehr zu bieten als Steine, Ziegel, Holz, Gerümpel. Becker: Es erzählt viel über die Geschichte eines Dorfes und letztlich einer ganzen Region.  Diese Zusammenstellung unterschiedlichster Fakten enthalte auch wertvolle Hinweise zu den Menschen, die im Gebäude lebten. Damit sind frühere Lienzinger dem Vergessen entrissen, die zu Lebzeiten nicht zur Haute Volee zählten, aber ihren Teil zur Entwicklung des Ortes beitrugen. Stehen bei der Historienforschung, auf welcher Ebene auch immer, häufig die vermeintlich Wichtigen und Wohlhabenden im Fokus, eröffnet sich nun der Blick auf die sozial Schwächeren.

Meine Meinung: Ein Abbruch wie hier kann zwar nicht immer vermieden werden, es ist aber wichtig, Daten für die Nachwelt zu erhalten – gerade, wenn es wie in diesem Fall um das Leben der einfachen Leute im Ort geht. Bauforscher Marstaller liegt auf der gleichen Linie: Der Denkmalwert des Herzenhäusle kann zwar nur als sehr gering bezeichnet werden. Dafür ist der kulturhistorische Wert für den Ort umso enormer.

Ohne die angeborene Neugier eines alten Zeitungsmannes, die detektivischen Gaben einer erfahrenen Stadtarchivarin, die Liebe eines Bauforschers zu altem Glomp: Das Herzenhäusle wäre weg, seine Bedeutung bliebe weiterhin unterschätzt, seine Geschichte im Dunkeln. Bei diesem Stück Heimatforschung unterstützte die Stadtverwaltung, schob den Abbruch noch um einige Wochen hinaus, schuf die Zeit, die ein solches Projekt haben muss und rechnete die Kosten von etwa 3000 Euro mit dem Land aus Sanierungsmitteln ab.

Lesenswerte Geschichte zu den Menschen in und ums Herzenhäusle im MT vom 9. Juli von Carolin Becker

Was zuvor geschah:

Abschied vom Herzenhäusle   

Die großen Geheimnisse des Lienzinger Herzahäusles  

Das kleine Haus der Marie Herz

Dank Scans das Herzenhäusle mit ins Büro genommen - Tilman Riegler und seine Werkzeuge: 3D-Scanner und Tachymeter  

Denk mal nach auch nach dem Fall:

Was ist ein Denkmal, was ist wertvoll für die Nachwelt, wo bleibt der amtlichen Denkmalschützer?  Letztere klammern sich an die seit Jahren an gleich lange Listen der Kulturdenkmale - laut Gesetz. Neue kommen nicht hinzu, weil dem Land eine bessere personelle Ausstattung seines Denkmalschutzes nicht in den Sinn kommt.

Dokumentation und der Becker'sche Artikel gehören manchem behördlichen Entscheidungsträger auf den Tisch gelegt, um zu zeigen, dass die obere und untere Denkmalpflege nicht bei stupiden Kategorisierungen nach Kulturdenkmal, Erhaltenswürdig und (Wertlos) enden darf und ihre Verantwortung auf die erstgenannte Kategorie eingrenzt. Kulturgeschichte ist eben viel mehr als ein Aktenvermerk – und fasziniert, wie man sieht, unabhängig von der behördlichen Einstufung eines Gebäudes nach fragwürdigen Kriterien! (kleine Anleihe bei Tilmann Marstaller, wenn's erlaubt ist)

Da fällt mir das Jahr 1978 ein. Der Ministerpräsident hieß Lothar Späth, der Innenminister Roman Herzog: Sie steckten viele Millionen in ein Sonderprogrammm Denkmalschutz, von dem auch die Häuser an der Knittlinger Straße in Lienzingen profitierten. Aber das ist eine andere Geschichte - eine Geschichte ohne Fortsetzung. Leider. Denn das Anfang Mai vom Land gestartete neue Sonderprogramm Wohnen im Kulturdenkmal soll die Entwicklung von Konzepten zur Schaffung von zusätzlichem Wohnraum in Kulturdenkmalen gefördert werden. Ausgestattet mit gerade einmal zwei Millionen Euro. Eine Lachnummer. 

Aber das ist wirklich eine andere Geschichte. Und für das Hexenhäusle wäre es eh zu spät gekommen.

Also nix mit Tiny-houses . . .

Hier die Dokumentation zum Herunterladen: Muehlacker-Lienzingen_Friedenstrasse_26-1_Herzenhaeusle__Doku_2022_2.pdf

Das war's. (Foto: Günter Bächle, Sommer 2021)

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