Marianne und ihre Lienzinger Dorfgeschichte: Hirsch, Kriegsende, Tabakfädeln, Eissee und die Familie

Vor dem Hirsch: Hans, Marianne und ihre Mutter

Zeitzeugin Marianne Mulfinger, geborene Geißler, 1928 im Hirsch geboren, erzählte am 25. Februar 2015 ihrem Neffen Hans Geißler und Martina Geißler unter anderem über Gottlob Friedrich Geißler, die Geschichte des Lokals, der Familie und dem Alltag in Lienzingen. Ein Projekt im Rahmen des 1250-Jahr-Jubiläums von Lienzingen 2016, dessen Texte, Fotos und digitale Gesprächsaufzeichnungen ein Schwerpunkt der von der Stadt im alten Rathaus geplanten Etterdorfstube sein sollten. Zuerst war das Rathaus 2016 noch nicht saniert wegen Verzögerung bei den Bauarbeiten, dann räumte die Stadt dem Christbaumständermuseum Vorrang ein. Im November 2019 eröffnet, litt die Einrichtung bald darauf, wie viele andere Museen auch, unter den Folgen der Covic-Pandemie. Wann nun die Stube eingerichtet sein wird, steht in den Sternen.  Doch die Aufzeichnungen über die Gespräche mit Marianne Mulfinger sind auch ortshistorisch interessant.  Deshalb werden sie nun in der digitalen Serie Lienzinger Geschichte(n) meines Blogs im Original veröffentlicht und sie so der Öffentlichkeit gesichert.

Dern Text verfassten Martina und Hans Geißler:

Marianne als Vierjährige mit ihrem Bruder vor dem Gasthaus Hirsch. Mutter und Vater schauen vom Fenster aus zu.

Marianne Geißler wurde als Tochter des Karl Geißler und der Rosa, geb. Sommer, am 14. Februar 1928 im Gasthaus Hirsch in Lienzingen geboren. Sie hatte noch einen älteren Bruder Hans Karl. Mariannes Großvater, Gottlob Friedrich Geißler, war schon Hirschwirt und hatte mit seiner Frau Marie Wilhelmine geb. Scheuerle aus Dürrmenz 5 Kinder. 

Dem zweitältesten Sohn Karl Geißler war es, vergönnt das Gymnasium in Dürrmenz zu besuchen, er musste jeden Tag dorthin laufen. Nur bei ganz schlechtem Wetter hat ihn der Knecht manchmal mit der Kutsche nach Dürrmenz gefahren. Nach der Schule lernte er Bankkaufmann in Pforzheim.  Karl Geißler reiste viel und hatte viele Bekannte nicht nur in Pforzheim, sondern darüber hinaus. 

Als erst der Vater Gottlob und dann die Mutter Marie starben, musste Karl nach Hause kommen und den Hirsch weiterführen, was er dann auch zusammen mit seiner späteren Frau Rosa aus Haberschlacht bis zu seinem Tode 1958 tat.

Gaststätte Hirsch

Mariannes Vater, Karl Geißler, um 1900

Die Kinder Hans Karl und Marianne wuchsen im Hirsch auf.

Durch Karls Geißlers Kontakte ging im Hirsch ein großes Publikum aus nah und fern ein und aus. Die Gäste übernachteten in den Gästezimmern und in einem heute noch existierenden Fremdenbuch kann man nachlesen, wer wann im Hirsch übernachtet hat. Das Fremdenbuch wurde von 1931 bis 1956 von Karl Geißler geführt und regelmäßig vom Bürgermeister abgezeichnet. Die meist männlichen Gäste (auch weibliche waren dabei) mussten Name, Personenstand, Beruf, Geburtstag, Geburtsort, Wohnort und Staatsangehörigkeit angeben. Eingetragen wurde selbstverständlich auch der An- und Abreisetag.

Einträge im Fremdenbuch

Die Übernachtungsgäste im Hirsch kamen oft von weither mit dem Zug und zu Fuß. Hier ein kleiner Auszug der angegebenen Berufe. Die Auflistung zeigt, was für Menschen im Hirsch ein- und ausgingen und damit auch durch Lienzingen kamen:

Vertreter, Beamter, Kaufmann, Ingenieur, Arbeiter,  Baumeister, Eichbeamter, Kellner, Hüttendirektor, Wanderlehrerin, Bürstenmacher, Haustochter, Chemiker, Bergmann, Agentin, Bühnenbildner, Graphiker, Veterinär und Adjutant, Inspektor, Bergmann, Tonfilm Vorführer, Student, Musiker,  Inspektor, Kraftfahrer,  Händler, Orgelbauer, Förster, Physiker, Monteur, Mechaniker, Bäcker, Arzt, Kartograph,  Fotograph, Kulturhausführer, Klaviertechniker, Rektor, Studienrat, Revisor, Klaviertechniker, Laborant, Forstmeister, Museumsdirektor ….Einer gab als Beruf Reisender an.

Der Hirsch, rechts am Fenster Karl Geißler

In Mariannes Jugend drehte sich also Vieles um das Geschehen im Hirsch. Man kann sich vorstellen, wie interessant die Eindrücke waren, die die Gäste hinterließen.

Anfang des 20. Jahrhunderts Karl in Wien

Marianne musste schon früh in der Gastwirtschaft helfen. Hinzu kam noch ein kleiner Teil Landwirtschaft, wo Getreide und Anderes zum Eigenverbrauch angebaut wurde. Oft war sie im Haus, während die Eltern und der Bruder auf dem Feld waren. Kam dann ein Gast, musste sie sich etwas einfallen lassen. Die Mutter kochte vor, so dass immer etwas da war. War dies Mal nicht der Fall, musste das Mädchen selbst etwas organisieren. So kam einmal ein Herr Schuler und kein Essen war da. Marianne lief schnell zum Laden zur Schroths Marie und holte etwas für ein Vesper, das sie dann servierte. Sie musste beim Einkaufen in den Läden im Ort immer abwechseln und erinnert sich an sechs Läden: Laden von Marie Schroth, Anna, Post, Konzi Beck, Benzenhöfer und Hermle.

Wenn im Hirsch jemand Wein verlangte, musste sie den Wein Vierteles weise vom Keller holen. Er war in Fässern im Keller. Dies waren meist betuchte Leute, denn der Normalbürger konnte sich den teuren Wein nicht leisten. Der Normalbürger trank Most.

Das Schnapstürle

Marianne Mulfinger erzählt auch vom Schnapstürle. Damals umschloss eine Sandsteinmauer das Anwesen der Familie Geißler. In der Hofmauer hinterm Haus war eine kleine Türe, in die man ungesehen hineinhuschen konnte. So kam man von hinten unbemerkt in den Hirsch und jeder kann sich denken, was mancher Lienzinger Bürger spät abends im Hirsch suchte.

Der Saal im Hirsch

Zur Gastwirtschaft gehörte auch ein großer Saal, der von Karl Geißler Ende der zwanziger Jahre im 1. Stock angebaut wurde. Dieser erstreckte sich über die gesamte Hauslänge entlang der Herzenbühlgasse. Dort wurden z.B. Jaggesellschaften, Holzverkäufe und  Kirwen ausgerichtet.         

Der Saal war bis zum Bau der Festhalle 1960 auch er Ort, wo Festlichkeiten des Ortes stattfanden. Dies waren z.B. Weihnachtsfeiern der Schule, der Vereine, wie Gesangverein und Turnverein und Hochzeiten. Lange Wege waren nötig, um das Essen von der Küche unten nach oben in den Saal zu tragen.  Marianne erzählt: „Da sind wir geschläppelt!!!“ Im Saal konnten bis zu    80   Gäste Platz finden, bei Filmvorführungen in den 50er Jahren bedeutend mehr. Oft stand Rosa Geißler bei Veranstaltungen im Hof und schaute sorgenvoll nach oben. Sie machte sich Sorgen wegen der Belastung des Saales durch die vielen Menschen und manchmal wackelte es bedenklich.

Dabei wurde auf der im Saal befindlichen Bühne oft Theater gespielt, gesungen und geturnt.

Gerne schlichen sich Marianne und ihr Bruder in den Saal und lauschten interessiert den Proben für die schwäbischen Theaterstücke, bis die Eltern sie wieder suchten. Auf der Bühne waren Kulissen und ein Klavier. Oft kam die Musikkapelle von Lienzingen und es wurde getanzt.

Die Bühne bei Feiern im Saal

Der Saal konnte im Winter nur schwer und mit großem Aufwand beheizt werden. Dafür wurde ein großer Kanonenofen auf dem Dachboden genutzt, der schon früh angefeuert werden musste und manchmal sogar glühte. Oft lief an den Fenstern das Wasser hinunter, auch wegen der vielen Menschen. Mit dem Bau der Festhalle in Lienzingen hörte die Nutzung des Saales auf.

Landwirtschaft und Tabakanbau

Gäste im Hirsch-Saal: Wer ist wer?

Mariannes Vater hatte bald aus Zeitgründen Äcker und Wiesen verpachtet, um sich auf die Gastwirtschaft zu konzentrieren, außerdem war er noch Rechner bei der Spar- und Darlehenskasse. Doch der Sohn Hans wollte Landwirt werden. So bewirtschaftete man die Flächen wieder selber, als der Sohn Hans vom Krieg heimkam.

Mit 14 Jahren war Marianne alleine für die Bewirtschaftung des Gartens hinter der Scheune zuständig, da die Mutter keine Zeit mehr dafür hatte. So musste sie alles lernen, bekam aber Hilfe von einem Nachbarn, die sie anwies.

Beim Tabakfädeln im Hof (Marianne im Vordergrund, zirka 1940)

Die Familie Geißler hat nach dem Krieg Tabak angebaut, wie viele andere Familien am Ort auch. Die geernteten Blätter wurden daheim „eingefädelt“. Das Nähen mit der großen Tabaknadel wurde daheim teilweise in den Wohnzimmern gemacht. Dabei besuchten sich die Familien gegenseitig und halfen einander. Marianne erinnert sich gerne daran, wenn dann nach getaner Arbeit in den Zimmern gesungen wurde und es „Gsälsbrot“ und Most gab. Der Tabak wurde in den großen Dachböden der Fachwerkhäuser zum Trocknen aufgehängt.

Kriegsende

Eindrucksvoll schildert sie die Erlebnisse nach Kriegsende, als die Franzosen in den Ort kamen.  

Die Bewohner errichteten mit zwei gefällten Bäumen eine Sperre. Der Bruder von Karl Geißler, Richard Geißler, ging den Franzosen mit einer weißen Fahne entgegen.

Marianne 1942 bei ihrer Konfirmation

Kurz zuvor waren im Hirsch einquartierte deutsche Soldaten geflüchtet und hatten ihre Waffen liegen lassen. Rosa Geißler, die Mutter von Marianne, rannte ihnen hinterher und gab ihnen ihre Waffen. Sie wollte nicht, dass die Franzosen die Waffen finden. Als die Panzer einfuhren, versteckte sich die 17 jährige Marianne Geißler schnell im Keller.  Dabei hatte sie eine Kerze.  Als sie Stimmen hörte, blies sie diese schnell aus und versteckte sich hinter den Fässern. Es waren Franzosen, die die Kellertreppe herunterkamen. Erleichtert hörte sie dann auch die Stimme ihres Vaters, der hinterherkam und sich mit den Franzosen unterhielt, er sprach Französisch. Die Soldaten leuchteten mit der Taschenlampe herum, haben sie aber nicht entdeckt.

Einen Tag blieb sie unten.

Im Hirsch war dann auch ein Offizier aus dem Elsass untergebracht, der für Ordnung sorgte und so war die Gefahr für die junge Frau gebannt. Dieser Offizier riet der Familie sogar ihren Schmuck in den Sandeimern auf dem Dachboden zu verstecken, welche ursprünglich zum Löschen möglicher Brandbomben bereitgestellt waren.

Eissee und Eiskeller

Marianne Mulfinger hat von Erinnerungen an den Eissee und die Eiskeller erzählt.

Familie Geißler auf dem Feld

Ab einer bestimmten Eisstärke wurde aus dem See geeist. Das Eis wurde abgeschlagen und auf einen Karren geladen. Der Bruder von Marianne, Hans Karl Geißler, zog den Karren mit dem Pferd zum Eiskeller. Das Eis wurde in den Eiskellern gelagert. Im Sommer holten die Geißlers immer samstags einen Sack voll Eis und damit wurde der Eischrank gefüllt. Unten musste das Schmelzwasser immer wieder abgelassen werden. Der Bäcker Kontzi hat sonntags auch Eis bekommen und daraus Speiseeis gemacht. So haben Marianne und ihr Bruder jeden Sonntag ein leckeres Eis gegessen.

Karl Geißler am  Pferd auf dem Acker

Damals gab es schon lange keine Brauerei mehr in Lienzingen. Der Eiskeller wurde einst vom Bierbrauer Johann Schneider gebaut. In den sogenannten Bierhäusern lebten die Töchter des Johann Schneider. Sein jüngster Sohn Dr. Otto Schneider verließ bereits als Kind Lienzingen, hielt aber immer Kontakt.  Er war ein Freund von Hirschwirt Karl Geißler und kam regelmäßig mit seiner Familie zum Essen in den Hirsch, wenn er auf Besuch war. Dann brachte er immer Geschenke mit, einmal bekam Marianne ein Hüpfseil.  Sie berichtet eindrucksvoll vom Erscheinen des Dr. Otto Schneider mit seiner Ehefrau. „Wenn sie reinkamen, die Frau mit ihrem großen Hut, dann ist man fast unter den Tisch hinunter vor Ehrfurcht!“.   

 

Marianne Geißler heiratete 1958 Hermann Mulfinger und zog nach Asperg. Sie hat drei Söhne, Frank, Peter und Jörg Mulfinger. Sie verfolgte interessiert das Jubiläumsjahr 1250 Jahre Lienzingen.

Bilder und Texte: Für die Reihe Lienzinger Zeitzeugen interviewt am 25. Januar 2015 von Martina und Hans Geißler (ihr Neffe).

Fotos aus dem Familienarchiv Geißler mit freundlicher Genehmigung

Rosa Geißler zirka 1957

Bei der Mohnernte

Marianne mit Lina Ehrenreich und deren Tochter Waldtraud etwa 1957

Gottlob Friedrich Geißler (2. v. re.) in den 1890er-Jahren.
Mariannes Bruder Hans auf der heutigen Friedensstraße in Lienzingen

 

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