Infolgedessen herrscht des Öfteren übler Geruch in der Lehrer Küchen - Dem Schultheiß stank's - Schülerabtritt-Streit nach 35 Jahren beigelegt

Anrüchiges als Stoff für einen langwierigen Streit zwischen Behörden: die Schülerabtritte. Er entwickelte sich zur (fast) unendlichen Geschichte. Denn die 1870 verschärften, vor allem der Gesundheit der jungen Menschen dienenden Vorschriften durch die königliche Regierung in Stuttgart  entsprachen dem gewachsenen Interesse des Staates an guter Bildung für gesunde Kinder – und das ging über die reinen Rahmenbedingungen für den Unterricht in den Volksschulen hinaus wie zum Beispiel der Klassenteiler.

1912 verschickte Ansichtskarte mit der Lienzinger Schule. Vorderseite. Heute Kirchenburggasse 15, aus der Sammlung Walter Appenzeller, Keltern

Da erwies sich plötzlich die angeblich nicht zumutbare Toilette im Schulgebäude als kritischer Punkt. Das lokale Fallbeispiel aus der Akte StAL FL 20-18_Bü 503 des Landesarchives Baden-Württemberg sowie der des Stadtarchivs Mühlacker Li A 79/745, eingebettet in eine Landesbeschreibung von 1916 unter anderem über das Volksschulwesen in Württemberg. Denn die Gemeinde Lienzingen trafen die Folgen erstmals 1889, ausgerechnet an dem erst 1867 errichteten Schulgebäude (heute Kirchenburggasse 15).

Der Konflikt zwischen Kommune und Staat um das, was heutzutage in der politischen Debatte mit der Frage umschrieben wird: Wie hoch darf der Standard sein? Und wer bezahlt ihn – der ihn vorgegeben, demnach bestellt hat, oder die, denen er verordnet wurde?

Hand-Skizze zum Baugesuch der Gemeinde Lienzingen betreffend die Erstellung eines Schülerabtrittschuppen auf Parzelle Nummer 16 hinter dem Schulgebäude Nummer 77und 78. Anerkannt: Lienzingen, 13.Juli 1925, für die Gemeinde Schultheiß Brodbeck, seit 1920 in Lienzingen im Amt (alle Dokumente und Pläne zum Bauantrag für den WC-Schuppen: Stadtarchiv Mühlacker, Bauakte, Li A 79/45)

Aufschluss über den gerade losgetretenen Streit ergibt sich aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung in Verwaltungssachen vom 6. April 1889. Demnach sollten die Schüler-Toiletten vergrößert oder womöglich außerhalb des Hauses verlegt werden. Doch die Kommune sträubte sich heftig dagegen. Kein Argument war ihr zu schade oder zu wundersam, um die Forderung abzubiegen. Die 170 bis 180 Kinder könnten doch in der Pause heim aufs Klo – sie taten dies offensichtlich teilweise auch. Es wird wohl schon seinen Grund gehabt haben, warum die vorhandenen Abtritte kaum genutzt wurden. Erst 1925 war es soweit – 36 Jahre nach der ersten Beanstandung. Es entstand der Schülerabtrittschuppen auf Parzelle Nummer 16 hinter dem Schulgebäude Nummer 77 und 78, so steht es in der Baugenehmigung, geplant vom Mühlacker Ortsbaumeister Aeckerle. Eine Konstruktion aus Bretterwänden, mit Ziegeln eingedeckt, links acht abgeteilte Plätze für Mädchen, rechts drei Schüsselplätze und ein Pissoir für die Jungen.

Ein Beispiel, wie Fürsorge der Schulbehörden für die Mädchen und Jungen zum kommunalpolitischen Zankapfel im Königreich Württemberg werden konnte.

Lageplan zu dem Baugesuch von 1925. Rote Fläche die WC-Anlage für Schüler und Schülerinnen (STAM, Bauakte Li A 79/45).

Die erste Beanstandung des WC im Schulgebäude gab es 1886. Das Protokoll im Original-Ton, das mit dem Hinweis beginnt, die Schülerabtritte entsprächen nicht den in der Verfügung vom 8. Dezember 1870 gemachten Anforderungen:

Der Gemeinderat hat diesen Receß (=Bericht) dem K[öniglichen] Ortschulinspektorat hier mitgeteilt und dasselbe um Äußerung ersucht, ob nach seiner Ansicht die Erledigung des Recesses in der angeordneten Weise möglich seie & bemerkt, daß der Platz hinter dem Schulhause sehr klein sei, die Vergrößerung der Abtritte oder Verlegung derselben ausserhalb des Schulhauses nicht wohl möglich seie. Das K. Ortschulinspektorat hat nun dem Gemeinderat hierauf mitgeteilt, daß der Raum an der Ostseite des Schulhauses nur 15 M[eter] Länge und 6 M[eter] Breite habe und nach Rücksprache mit den Lehrern und unter Zustimmung derselben die Bitte gestellt, es möchten die in § 23 der Recesse bezeichneten baulichen Verhältnisse vorerst in statu quo belassen werden. Die Lehrer haben beigefügt, daß die meisten Schulkinder die bezeichneten Gelasse nur ausnahmsweise benützen, da sie während der zweimaligen täglichen Interstitien (=Pausen) Zeit genug haben, sich nach Hause zu begeben.

Der Gemeinderat fügt dem noch bei, daß der freie Platz hinter dem Schulhause schon auch aus dem Grunde erhalten werden sollte, weil beim Ausbruch eines Brandes in der Umgebung des Schulhauses die Feuerspritze notwendig auf diesem Platze aufgestellt werden muß, und beschließt, an das K. Oberamt und das K. Oberamtsphysikat (=Oberamtsarzt) die Bitte zu stellen, es möchten aus den vorstehend geltend gemachten Gründen die hiesigen Schülerabtritte unverändert belassen werden.

Die Baugenehmigung

Die Lienzinger Räte beharrten stur auf ihrem Nein. Doch die Beanstandung brachten sie dadurch nicht vom Tisch. Denn bei der Oberamtsvisitation 1902 nahm sie auf der Mängelliste den ersten Platz ein. Freilich, die Themenliste der Beanstandungen war bunt. Das belegt der Aktenvermerk des Landkreis-Vorgängers, des Oberamts  Maulbronn, vom 28. Mai 1903, weitergereicht an die Gemeinde Lienzingen: Eingegangene Bäume an der Straße von Schmie nach Lienzingen, der schadhafte Rathausgiebel – und der Zustand des Schülerabtritts. All dies sei zu beanstanden. Ein Auszug aus den Rezessen (ortsrechtliche Regelungen, Berichte) des Kontrollbesuchs der seinerzeitigen Kommunalaufsicht belegt die Kritik: Der im Erdgeschoss des Schulhauses angebrachte Schülerabtritt ist in jeder Richtung ungenügend. Es ist darauf hinzuwirken, dass außerhalb des Schulhauses ein neuer Schülerabtritt errichtet wird.  Unterschrieben hatte Wilhelm Gauger, Oberamtmann von 1897 bis 1905. Der musste über die Erledigung der Beanstandungen wachen.


Lienzinger Geschichte(n), ein weiterer Teil der Schulgeschichte in dieser Blog-Serie. Der Streit um einen Schülerabtritt, recherchiert mit Hilfe der Bauakten aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg (Staatsarchiv Ludwigsburg) und dem Stadtarchiv Mühlacker, dazu einem dicken Wälzer zum 25-Jahr-Thronjubiläum des Königs Wilhelm II. von Württemberg

Als der Ortsvorsteher den acht anwesenden der insgesamt neun Mitglieder des Gemeinderates den Bericht am 23. Juni 1903 vorlegte, sollte sich das Ortsschulinspektorat zur Sache äußern, doch dieses lehnte ab, denn dazu sei es nicht in der Lage. Der Rat zog sich in seinem Beschluss auf die Ergebnisse der Beratungen im Jahr 1889 zurück und stellte lapidar fest: Die damals gegebene Äußerung sei heute noch zutreffend und es hätten sich die Raumverhältnisse beim Schulhause seither noch nicht wesentlich verändert. Nur durch den Abbruch eines Schweinestalls im Schulhof sei unbedeutend mehr Raum gewonnen worden.  Heute noch sei der Schulhof sehr klein und es sollte dieser Raum den Kindern erhalten bleiben. Die Kinderzahl in den beiden Schulen habe sich seit dem Jahre 1889 so verringert, dass der Abteilungsunterricht heuer und für die Zukunft in der zweiten Schule weggefallen sei. In den kommenden Jahren werde sich die Schülerzahl noch mehr verringern, zumal ein Zuzug von auswärts nicht zu erwarten sei.

Das Baugesuch

Die Abtritte für beide Schulen wurden erst in den verflossenen Jahren mit einem ziemlich bedeutenden Kostenaufwand renoviert und es sind Klagen wegen der Abtritte, die ja nicht im Hause sich befinden, sondern hinter demselben angebaut sind, noch nicht zur Kenntniß des Gemeinderats gekommen. Der Gemeinderat bat deshalb wiederholt, die Schülerabtritte aus dem vorstehend und im Jahre 1889 geltend gemachten Gründen unverändert zu belassen, steht in dem von Ratsschreiber Link unterzeichneten Protokoll.

Die Ortsschulbehörde wurde vom K[öniglichen] Oberamt (25. Juni 1903) zur Abgabe einer Äußerung eines bei Gelegenheit der Oberamtsvisitation 1902 gemachten Rezesses aufgefordert, welcher sich auch auf die Schülerabtritte bezieht. Der Wortlaut:   

Der im Erdgeschoß des Schulhauses angebrachte Schülerabtritt ist in jeder Richtung ungenügend. Es ist darauf hinzuwirken, dass außerhalb des Schulhauses ein neuer Schülerabtritt errichtet wird.

Nachdem der leitende Vorsitzende der Ortschulbehörde sich bei diesem Thema auf den Inhalt eines Protokollauszugs des Gemeinderats vom Jahr 1889 zum selben Punkt bezog, bat er den Mitvorsitzenden um ein Gutachten zu diesen Streitfragen. Doch dieser machte kurzen Prozess: Er schloss sich der Meinung des Gemeinderats an. Nun galt: Gemeinsam verzögern, verschieben, verweigern.

Nicht nur das: Die beiden Herrn Lehrer erklären, dass sie angesichts der seit 1889 kaum veränderten Raumverhältnisse, der verminderten Schülerzahl, angesichts der vor nicht langer Zeit geschaffenen u[nd] mit erheblichen Kosten verbundenen Renovation der Abtritte einer Hinausschiebung der betreffenden Maß[regeln ?] bzw.. der Neuherstellung der Schülerabtritte eines Gutachtens zu vorliegenden Fragen nicht entgegen sein wollen. Die gewählten Mitglieder schlossen sich der Erklärung des Gemeinderats an. Pfarrer Knapp, Schulth[eiß] Link, Schlegel [?], Kugler, Stehle, Rommel, Sch…[?]  Lienzingen 9. Juli 1903. Die Richtigkeit des Auszugs für die Aufsichtsbehörden beurkundete Pfarrer Albert Gotthilf Knapp.

Dienstweg eines Drei-Zeilers an den Evangelischen Schulrat

Er erledigte das leidige Thema und ließ bauen: Bürgermeister Karl Brodbeck (Foto: Samlg. Kuno Brodbeck, Stadtarchiv Mühlacker

Hartnäckigkeit auf beiden Seiten. Die Gemeinde sperrte sich gegen ein separates Klo-Haus hinter der Schule, der Staat pochte via Oberamt darauf, dass dieses gebaut wird.  

Wieder war Zeit ins Land gegangen. Sechs Jahre später, am 22. Januar 1909, tagten gemeinsam der Vorstand des Gemeinderates und acht Mitglieder des Gremiums sowie weitere acht Mitglieder des Bürgerausschusses. Laut Protokoll (Seiten 91 bis 93), Punkt b, wurde das Problem nochmals und eindringlicher geschildert. Die Aborte für die Kinder, sowohl der für die Knaben, wie der für die Mädchen seien zu klein, sie hätten nicht genügend Raum. Außerdem befänden sie sich direkt unter den Küchenfenstern der Lehrerwohnungen. Infolgedessen herrscht des öfteren übler Geruch in den Küchen. Es sollte hier Abhilfe geschaffen und der Abort, wenn irgend möglich, aus dem Schulhaus hinaus verlegt werden. 

Doch das beeindruckte die Gremien der Gemeinde immer noch nicht. Sie sprachen sich zwar dafür aus, die Gemeindevisitationsrezesse zu gleicher Zeit zu erledigen, doch für die Erbauung von Schülerabtritten liege, nachdem die Schülerzahl anhaltend zurückgehe, kein dringendes Bedürfnis vor. Die Gemeinde werde mit der Straßenbewalzung und den vielen Defekten im Schulhaus, ohnehin sehr in Anspruch genommen. Drei Tage später bat Lienzingens Schultheiß Adolf  Fallscheer in einem Brief ans Königliche Oberamt in Schulsachen um Terminaufschub. Fallscheer war neben Pfarrer Paul Mildenberger auch Vorsitzender der Ortsschulbehörde, die diesen Kurs offenbar mittrug. Erst Fallscheer-Nachfolger Karl Brodbeck räumte das Problem aus dem Weg – 16 Jahre später.

Selbst als sich die politischen Verhältnissen in Württemberg 1918 veränderten, König Wilhelm II. abdankte und die Republik ausgerufen wurde - die Ermahnungen aus Stuttgart ließen nicht nach. Denn die Verwaltungsstrukturen blieben weitgehend unverändert. Dazu gehörte auch der Evangelische Oberschulrat (vormals Konsistorium).

Der Evangelische Oberschulrat Reinöl hatte das Thema wieder aufgegriffen. Er schrieb am 10. September 1925 dem Gemeinderat und Ortsschulrat Lienzingen einen Drei-Zeiler, rechtlich ein Erlass (Nummer 14232): Die örtlichen Behörden wollen veranlasst werden, sich mit der Besserung der immer wieder beklagten Verhältnisse der Schulaborte zu befassen und einen Beschluss vorzulegen. Der Dienstweg des kurzen Briefes führte über das Gemeinsame Oberamt in Schulsachen nach Maulbronn – Oberamtmann Hermann Röger und Schulrat Weinbrenner unterschrieben den Zettel über die Weitergabe an den eigentlichen Adressaten, den seit 1920 in Lienzingen amtierenden Schultheißen Karl Brodbeck.

Im rückwärtigen Bereich des früheren Schulhauses befinden sich heute Garagen. Es war der Platz für den Kloschuppen von 1925/26 (Foto: Günter Bächle, Dezember 2022, fotografiert vom Rathaus aus)

Das Oberamt konnte fast zwei Wochen später Vollzug melden: Die örtlichen Behörden in Lienzingen haben berichtet, dass die Arbeiten zum neuen Schulabort längst vergeben seien. Die Handwerker seien gerade noch anderweitig beschäftigt. Die Erstellung des neuen Schulaborts soll dieses Jahr noch erfolgen.

Tatsächlich gab der Lienzinger Gemeinderat am 27. April 1924 seinen Widerstand auf. Elf der 18 Mitglieder waren in der Sitzung anwesend. Laut Gemeinderatsprotokoll in Verwaltungssachen (Seite 445) beschloss das Gremium unter anderem: Bezüglich Punkt 1: Dem Neubau des Schulaborts wird, sobald die finanziellen Verhältniss der Gemeinde besser sind, näher getreten. 

Der Gemeinderat vergab am 26. September 1924 die Arbeiten. Der Vorsitzende des Ortsschulrates bat in einem Brief vom 17. September 1925 aufgrund von Rückfragen aus Maulbronn noch um etwas Geduld. Nach Vollendung eines anderen größeren Baues würden die Arbeiten aufgenommen. 

Vollzugsmeldung des Oberamtes dann am 12. Juni 1926 an den Evangelischen Oberschulrat in Stuttgart, ansonsten zu den Akten beim Oberamt Maulbronn: Der Abort ist nun mit einem Aufwand von 3041 Mark erstellt und seit März 1926 in Betrieb. Drei Tage zuvor hatte Lienzingens Bürgermeister Karl Brodbeck die übergeordnete Behörde in der Klosterstadt darüber informiert.

Hermann Röger, von 1921 bis 1938 Oberamtmann, dann Landrat in Maulbronn. Er musste darüber wachen, dass die Gemeinde Lienzingen ein neues Schul-WC baut. (Foto: Sammlung Stadtarchiv Maulbronn)

War der Abort letztlich nur ein Streit ums Geld?  Oder saß die Ursache für den kommunalen Widerstand tiefer? War es sozusagen ein Vorläufer der heutigen Debatten um das Konnexitätsprinzip  nach dem Motto: Wer bestellt, der bezahlt auch? Hilfreich ist auch hier ein Griff ins Bücherregal. Denn zehn Jahre zuvor, 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, erschien bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart ein dicker Wälzer mit rotem Halbleder-Einband. 992 Seiten stark, zwei Kilogramm schwer, herausgegeben vom Juristen Prof. Dr. Victor Bruns. Der Titel:  Württemberg unter der Regierung König Wilhelms II - Seiner Majestät König Wilhelm II von Württemberg in tiefster Ehrfurcht gewidmet. Zum 25-Jahr-Thronjubiläum des in der Bevölkerung beliebten Monarchen war es eine auch jetzt noch höchst aufschlussreiche Dokumentation, Statusbericht über alle Lebensbereiche in einer Zeit der Veränderung. Eine umfassende Landesbeschreibung für die Jahre 1891 bis 1916.

Auf den Seiten 483 bis 501 gliedert sich der Beitrag über die Volksschulen in vier Kapitel: Die Schulen – Die Lehrer – Die Schulleitung – Der Erfolg. Der Autor: Oberregierungsrat Ernst Schütz.

Anno 1916 gab es demnach in Württemberg über 400.000 Kinder im schulpflichtigen Alter. Von ihnen besuchten annähernd 92 Prozent die Volksschulen, sieben Prozent höhere Schulen und ein Prozent Privatschulen. Die Aufgabe der Volksschule sei bei all den vielen Änderungen im Wesentlichen dieselbe geblieben. Ihr Zweck ist – so lautet unverändert Artikel 1 des Volksschulgesetzes – religiös-sittliche Bildung und Unterweisung der Jugend in den für das bürgerliche Leben nötigen allgemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten. Dass eine Einrichtung, die für mehr als neun Zehntel des Volkes eine Bildungsstätte, nicht bloß eine Unterrichts-, sondern zumal bei den Mängeln der Familienerziehung in vielen Häusern, in ganz besonderem Maß eine Erziehungsstätte sein solle, eine sorgsame Pflege und unermüdlicher Förderung wert sei, bedürfe keiner Begründung, machte Schütz deutlich.

Dagegen seien im Laufe der Jahrzehnte die Unterrichtsfächer vermehrt worden. Habe das grundlegende Gesetz von 1836 nur Religions- und Sittenlehre, Lesen, Schreiben, Rechnen, deutsche Sprache und Singen aufgeführt, so seien hierzu schon in den fünfziger und sechziger Jahren die so genannten Realien, in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Turnen und der Handarbeitsunterricht, auch das Zeichnen und Anfänge der Raumlehre hinzugekommen.

Erschienen im Jahr 1916 bei der Deutschen Verlagsanstalt

Württemberg hatte nicht wie fast alle anderen deutschen Bundesstaaten eine achtjährige Schulpflicht. Diese begann bei jedem Kind in dem siebten und endigte in der Regel mit dem 14. Lebensjahr. Wurde dieser Grundsatz früher so ausgelegt, dass die Kinder ein- und auszutreten hatten in dem Kalenderjahr, wo sie sieben oder 14 Jahre alt wurden, so ist jetzt bestimmt worden: Eintritt und Austritt erfolgen auf den 1. Mai und Ende April nach dem vollendeten sechsten und 13. Lebensjahr.

So ganz und gar fremd ist heutzutage nicht, was der Autor 1916 zur Finanzierung schrieb:

Die Errichtung und Unterhaltung der Schulen, der sachliche Aufwand auf die Gebäude und ihre gesamte Ausstattung, ein nach der Größe der Gemeinde gestaffelter Beitrag zu dem Gehalt des ständigen und das Tagegeld des unständigen Lehrers sind Sache der Gemeinde.

Was kostete nun ein Lehrer die Kommune?

Ein Beispiel findet sich im Maulbronn Heimatbuch

Insgesamt summieren sich die Ausgaben für den Schulmeister in Geld und Sachleistungen auf 270 fl. pro Jahr (nach heutiger Kaufkraft 5589 Euro, Quelle Bundesbank).

Andreas Felchle geht ins Detail: 1838 und in den Jahren danach erhielt der Maulbronner Lehrer nur 15 fl. pro Jahr in Geld.  (Der Feldschütz bekam 60 fl, ein Nachtwächter 30 fl pro Jahr!), Ansprüche auf Gestellung von Wein (im Wert von 24 fl. p.a.), Roggen (ca. 6 fl), Dinkel (32 fl.), Gartengemüß (6 fl.) und Holz (84 fl.) sowie ein Organistensalär (31 fl.). Nicht zuletzt musste eine Wohnung zur Verfügung gestellt werden.

Autor Felchle sieht in der kommunalen Zuständigkeit für das (Volks-)Schulwesen einer der Hauptgründe für das die Gemeindegeschichte bis ins 21. Jahrhundert hinein begleitende Finanzproblem. Der Schulmeister, zwar vom Staat (oft aus dem Berufszweig der Theologen) gestellt, musste von der Gemeinde bezahlt und untergebracht werden (Maulbronn Heimatbuch, Band II, 2012, Stadtverwaltung Maulbronn, S. 22).

Dagegen verteidigte Schütz diese Regelung in einem Schachtelsatz höchst ungewöhnlicher Länge: Gegenüber der Forderung, die Kosten der Schule auf die Staatskasse zu nehmen,  entsprechend der staatlich festgesetzten Schulpflicht und dem Interesse des Staates an guter Schulbildung aller Bürger, zugleich mit Rücksicht auf die sehr verschiedene Leistungsfähigkeit der Gemeinden, ist Seiten der Regierung, neben dem idealen Gesichtspunkt, dass in erster Linie die Gemeinden als  Zusammenfassung der Familie für die Erziehung und die Unterweisung einzutreten habe, hauptsächlich die finanzielle Mehrbelastung, die den Staat treffen würde, geltend gemacht werden, zumal da eine entsprechende finanzielle Entlastung der Gemeinden der Mehrbelastung des Staates, kaum  gegenüber stehen würde.

Eine Denkschrift habe außerdem nachgewiesen, dass die Schulkosten in steigendem Maße auf staatliche Mittel übernommen worden seien.  Für 1911 habe der Aufwand der Gemeinden über 14,3 Millionen Mark betragen, 9,5 Millionen als Aufwand des Staates mit steigender Tendenz (1914: elf Millionen Mark).

Schultheiß Adolf Fallscheer, der Vorgänger von Karl Brodbeck (Foto: Stadtarchiv Mühlacker)

Auch wenn sie uns beim Lesen der Geschichten komisch, manchmal belustigend, manchmal grotesk vorkommen: Die kontroversen Debatten in der Lienzinger Kommunalpolitik über Aborte, Vorhänge, Lehrerwohnungen und Schulmöbel hatten vor allem finanzielle Ursachen. Stuttgart forderte, die Gemeinden sollten umsetzen. Schütz: Hohe Aufwendungen haben die Gemeinden – die finanziell schwer belasteten unter entsprechender Hilfe des Staates - auf die Schulhäuser gemacht. In etwa die Hälfte der Gemeinden steckten demnach in den Jahren von 1906 bis 1916 mehr als 40 Millionen Mark in Schulgebäude. Und wenn auch noch manches dürftige, den heutigen gesundheitlichen Anschauungen nicht mehr genügende Schulhaus der Gemeinde und der Aufsichtsbehörde Not bereitet, so sind anderseits jährlich viele schöne neue Schulgebäude und Lehrerwohnungen entstanden. Als sehr wohltätig sei auch eine Verfügung von 1910 über die für die Volksschulen notwendigen Geräte, Lehr- und Lernmittel empfunden worden.

Trend nach unten beim Klassenteiler

Tief einschneidend war – wie Schütz schilderte - die Bestimmung des Gesetzes von 1909, wonach die in einer Klasse zulässige Höchstzahl von Schülern, die zuvor noch 90, unter Umständen bis zu 130 betrug, nicht über 60, bei sogenanntem Abteilungsunterricht nicht über 80 betragen dürfe, ferner dass im Allgemeinen bei jeder Steigerung der Schülerzahl um 70 die Zahl der Lehrer um eine zu vermehren sei. Der Autor machte deutlich, dass das die richtige Richtung war, bedauerte gleichzeitig immer die noch zu hohen Teiler. Die Umsetzung niedrigerer Klassenteiler brauche voraussichtlich noch eine Reihe von Jahren, doch gerade dieser Fortschritt sei in Gedanken an die Lehrer, die Schüler und die Schularbeit freudig begrüßt worden. Die Folge: Ein Bedarf an mehr Schulraum. Und hier waren die Kommunen wieder besonders gefordert und finanziell strapaziert. Auch Lienzingen. Denn wenige Jahre nach dem Abort-Häuschen am Schulgebäude wurde der Ruf nach einer ganz neuen Schule immer lauter.

König Wilhelm II. und seine Gattin Charlotte

Gemeindekollegien lehnten 1901 den Antrag des Lehrers ab, Schul- und Mesner-Dienst zu trennen 

Der Schulmeister lebte im Dorf, pendelte nicht kilometerweit zum Unterrichtsort. Um das Bild abzurunden, noch ein Aspekt, den Schütz aufbereitete. In Altwürttemberg wie in den neuen Landesteilen war der Dienst des Schullehrers eng verbunden mit gewissen Kirchendiensten. Von diesen wurde 1899 die Mesnerei endgültig vom Schuldienst abgetrennt, nachdem schon einige Jahrzehnte früher die niedrigen Mesner-Dienste dem Lehrer abgenommen worden waren, wie der Autor schrieb. Der Organisten-, Kantoren- und Chordirigentendienst blieb bei der Schule. Die Lehrer seien auch nach dem Gesetz von 1899 und 1907 verpflichtet gewesen, diesen kirchenmusikalischen Dienst, für den sie mit wenigen Ausnahmen im Seminar ausgebildet worden seien, zu übernehmen, aber sie würden dafür auch eine besondere Vergütung erhalten. Doch Lienzingen wich von dieser Regelung ab. Die Gemeindekollegien lehnten 1901 den Antrag des Lehrers ab, Schul- und Mesner-Dienst zu trennen. Dies galt bis 1905, als der Lehrer seine Stelle verließ (Quelle: Wißmann, Friedrich: Lienzingen. 1970, Walter-Verlag Ludwigsburg. S. 263).

Schützens Hymne auf diese Schulart muss auch aus der Zeit heraus verstanden werden: Es sei unendlich viel großes, Bewunderungswürdiges geleistet worden, und daran habe ein gerüttelt Teil auch die Volksschule, die ältere, die neuere und die neueste. Dann schlugen die Kriegsjahre, in denen das Buch erschien, durch. Draußen im Feld tun die früheren Volksschüler, die auch dort neun Zehntel des Ganzen ausmachen werden, mit Verständnis ihre Pflicht, und daheim steht das Heer derer, die zugleich anstelle der Einberufenen arbeiten. Es ist ergreifend, zu sehen und zu hören was von der Großstadt, bis ins fernste Dorf auch in der Schule und durch sie geschieht in Sammlungen, in Handarbeiten, in Zeichnungen für die Kriegsanleihen (…) Im Feld seien mehr als 500 württembergische Volksschullehrer in den Diensten des Vaterlandes gefallen.

Zurück zur Toilettenfrage, die mehr als 35 Jahre lang ungelöst erschien. Wie die Klo-Frage letztlich geregelt wurde, müsse offenbleiben, schrieb der Historiker Konrad Dussel im Lienzinger Ortsbuch von 2016 (S. 228).  Die Pläne für den 5,40 mal 5,64 Meter große Schülerabtrittsschuppen befinden sich jedenfalls im Fundus des Stadtarchivs Mühlacker (STAM, Li A 79/45). Für die Genehmigung vom 25. Juli 1925 bezahlte die Gemeinde zwölf Mark. Die Nachbaranhörung hatte keinen Einspruch erbracht, bekundeten Friederike Kontzi und Christian Huber doch ihre Zustimmung. Im Baugesuch vom 26. Juni 1925 wurde Maurermeister Metzger als verantwortlicher Handwerker genannt. 

Bürgermeister Adolf Fallscheer hatte dieses leidige Thema 1907 von seinem Vorgänger Adolf Link geerbt, der seit 1880 an der Spitze der Verwaltung des Ortes stand. Auf Fallscheer folgte 1920 Karl Brodbeck, der dann baute, was der Staat verlangte, wahrscheinlich, um die Sache endlich vom Schreibtisch zu bekommen (Konrad Dussel, Bürgermeister 1800 bis 1975, Ortsbuch Lienzingen, Verlag Regionalkultur, 2016, S. 144). 

Lienzingen 1910, Ortsplan. Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg

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