Farbenprächtige Lienzinger Pietà

Die Lienzinger Pietà in ihren Anfangszeiten. Farben von Hannah Backes aufgrund der von ihr am Torso noch gefundenen Reste rekonstruiert (Quelle: Präsentation der Ergebnisse bei der VHS-Veranstaltung am 28. April 2022 in der historischen Kelter in Mühlacker)

So prächtig dürfte sie ausgesehen haben, die Pietà aus dem Chor der Frauenkirche, rekonstruiert aus den Farbenresten des Originals. Das Geheimnis lüftete gestern in der historischen Kelter in Mühlacker Hannah Backes. Sie schrieb ihre Masterarbeit im Fach Konservierung und Restaurierung von Gemälden und gefassten Skulpturen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart über die geheimnisvolle Lienzingerin.

Hannah Backes, aufgewachsen in der Nähe von Trier, wechselt jetzt beruflich an die Documenta in Kassel. Sozusagen zwischen Umzugskartons und -terminen lieferte sie im Heimatmuseums Mühlacker komprimiert die in ihrer Meisterarbeit dargestellten Forschungsergebnisse ab - innerhalb der sechsteiligen Veranstaltungsserie der Volkshochschule mit diesmal deutlich höherer Besucherzahl als beim ersten Termin vor einer Woche.

Kunsthistorische Aufarbeitung und kunsttechnologische Untersuchung eines spätgotischen Skulpturen-Fragments nennt sich das Projekt. Pietà steht für Frömmigkeit und  Mitleid, unsere Herrin vom Mitleid. Auch Vesperbild genannt, ist es in der bildenden Kunst die Darstellung Marias als Mater Dolorosa (Schmerzensmutter) mit dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus. Das wohl bekannteste Beispiel schuf Michelangelo. Doch die Pietà im Petersdom ist aus Marmor gefertigt.

Die Pietà aus der Frauenkirche, seit 1977 im Museum in der Kelter in Mühlacker, ist kopflos, die Darstellung trotzdem klar: Maria trägt ihren toten Sohn Jesus auf dem Schoß. Der Künstler?  Unbekannt! Die Maße der Figur aus Lindenholz: 155,9 Zentimeter hoch, 84,2 Zentimeter breit, 51,8 Zentimeter tief. Der Kopf wurde wohl mit einem Beil abgetrennt. Wann und von wem? Ein weiteres Rätsel.

Hannah Backes in der Kelter, im Hintergrund die Offene Werkstatt (Fotos: Günter Bächle)
Pressbrokat von Hannah Backes auf Grund der Farbspuren rekonstruierter Pressbrokat.

Hannah Backes auf Spurensuche. Sie lässt in ihrer Präsentation ihre Zuhörer teilhaben an ihrem Hand-Werk, an den einzelnen Schritten, die da heißen: Betrachten und Dokumentieren, Proben entnehmen, Material analysieren, den Arbeitsprozess der Handwerker und den heutigen Zustand der Skulptur begreifen. Wo spielte sich die einstige Herstellung ab? In der durch Zisterzienser des Klosters Maulbronn geprägten Kulturlandschaft des 16. Jahrhunderts (Thema kommenden Donnerstag, 19 Uhr). Das inmitten des Friedhofes stehende Gotteshaus war Wallfahrtsort, blieb in der Reformation weitgehend heil, überlebte die vom Herzog ausgegebene Order, die Feldkirchen abzubrechen, nur durch den glücklichen Umstand, gleichzeitig Friedhofskirche zu sein.

Die Lienzinger Pietà im Original ...

Die geschundene Maria – passend zum Namen der Kirche unserer lieben Frau – wurde zwischen 1460 und 1500 geschnitzt aus einem Block Lindenholz. Hannah Backes beschreibt die Details, kartiert die fünf Hiebspuren, lokalisiert Einsätze unter anderem von einer Maulbronner Madonna, präsentiert Ergebnisse der Untersuchung der lebensgroßen Statue im Computertomografen des Fraunhofer Instituts in Fürth. Beil und Klöpfel, Hohl- und Stecheisen, Geißfuß, Schnitzmesser, Raspel, Feile, Nägel – Handwerkszeug, das vor einem halben Jahrtausend genauso eingesetzt wurde wie heutzutage. Einen Einblick verschafft Bildhauer Thomas Hildenbrand in der, im Erdgeschoss der Kelter aufgebauten Offenen Werksatt. Er schnitzt an einem Duplikat, das in der Frauenkirche aufgestellt wird. Drei Monate Zeit gab er sich für diese Replik, ein Drittel der Arbeit sei schon getan, sagte er gestern.

Die Diagnose der jungen Wissenschaftlerin Backes zum Zustand der Skulptur: Das Holz leidet unter Schädlingsbefall, das Kunstwerk ist instabil, ein Bruch zieht sich durch Marias Oberkörper, die Oberkörperhälfte ist falsch angesetzt. Erkennbar noch in Resten, so Hannah Backes, sind die unterste Schicht – aus Leim – und die oberste aus einer Wachs-Harz-Mischung.

Ihr Fazit: Die Madonna entstand aus einem Stück Lindenholz minderer Qualität, zeigt trotzdem eine qualitätsvolle Schnitzarbeit, die sichtbaren Fassungsreste stammen aus der Zeit der Herstellung. Ursprünglich war das Schnitzwerk gefasst, also bemalt, vergoldet oder mit Pressbrokat bedeckt – mit Hilfe eines Models und Zinnfolie gefertigt und auf die Pietà gebracht. Was davon fehlt, wird im 19. und 20. Jahrhundert aus dem Zeitgeist heraus entfernt. Im ursprünglichen Zustand war die Pietà gefasst: Sie war bemalt, vergoldet oder mit Pressbrokat bedeckt. Auf großes Interesse stieß das von der Wissenschaftlerin rekonstruierte und in der Kelter gezeigte Pressbrokat.

... die entstehende Replik für die Frauenkirche in Lienzingen, ein Projekt des Historisch-Archäologischen Vereines in Mühlacker.

Erscheinen diese und weitere Ergebnisse des Forschungsprojekts als Buch? Zuerst muss Hannah Backes ihrer Magisterarbeit noch den Feinschliff verpassen. In einem Gespräch sagt sie, dass die Arbeit in einiger Zeit über die Staatliche Akademie der Bildenden Künste (abk) bezogen werden kann. 

Vermutungen, Antworten? Einiges spreche dafür, dass die Skulptur im Rheinland entstanden war.

Am Rande der Veranstaltung kann die Rede auch auf das Kloster Pairis im Elsass und auf Johann IX. (1521-1547) letzter Abt des Klosters Maulbronn. Er war Lienzinger. Der 1534 in Württemberg angeordneten Auflösung der Klöster widersetzte er sich, flüchtete zunächst über Speyer nach Lützel, übersiedelte 1537 ganz offiziell mit seinen Mönchen in das elsässische Kloster Pairis bei Colmar, einer Filiale der Maulbronner Zisterzienser. 1521 gehörte er dem Landtag zu Ensisheim im Elsass an. 1547 starb Johann im schweizerischen Einsiedeln. Sein Geburtsdatum ist nicht exakt bekannt. In Pairis wiederum entstand im 15. oder 17. Jahrhundert eine Skulpturengruppe mit einer Pietà. Eine Nachbildung derer aus Lienzingen?

Der Rätsel gibt es noch viele. Wir sind gespannt!

Infos:

Die „Offene Werkstatt“ ist dienstags bis donnerstags von 13.30 bis 17 Uhr geöffnet. Wie aus einem massiven Lindenholzblock eine Pietà entsteht, kann hautnah miterlebt werden.

Auskünfte unter Telefon 07041/876325 Heimatmuseum Mühlacker oder E-Mail: museum@stadt-muehlacker.de. Anmeldungen zu den Veranstaltungen auch per E-Mail an vhs@stadt-muehlacker.de.

 

 

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