Die Pietà, der unterschätzte Schatz aus der Frauenkirche - Bald in Paris zu sehen?

Vergessen, unterschätzt, nicht beachtet, nicht einmal einen Hinweis erschien sie wert zu sein: die etwa einen Meter und sechzig Zentimeter hohe Skulptur aus der Frauenkirche in Lienzingen. Als aus dem Gotteshaus inmitten des Lienzinger Friedhofs 1977 das Altarkruzifix gestohlen wurde - das dem in der Maulbronner Klosterkirche ähnlich sah - und bis heute verschollen ist, ließ die Stadtverwaltung dieses Holz-Kunstwerk sicherheitshalber ins Heimatmuseum nach Mühlacker transportieren.

Die Pietà im Mittelpunkt der offenen Werkstatt in der historischen Kelter in Mühlacker. Erster Vortragsabend mit knapp zwei Dutzend Besucher - es könnten mehr werden. Links Martina-Terp-Schunter, die Museumsleiterin (Foto: Günter Bächle).

Vorher stand sie in der Sakristei, in der bis zum Bau der Leichenhalle die Särge mit den Toten vor der Beerdigung aufgebahrt wurden. Das war also nicht gerade der Umschlagplatz für Besucher der ehemaligen Wallfahrtskirche des Klosters Maulbronn. Und so fristete die Pietà im wahrsten Sinne des Wortes ein Schattendasein. Nicht viel anders erging es ihr im Museum in der historischen Kelter in Mühlacker: In einer Vitrine im Obergeschoss, ohne Beschriftung. 

Doch dann entdeckten Mitglieder des Historisch-Archäologischen Vereines um Wolfgang Rieger und Hans Peter Walther den unterschätzten Schatz. Seitdem steht er im Mittelpunkt kunsthistorischer, fast schon kriminalistischer Spurensuche. Ist die Pietà aus der Frauenkirche, eine Skulptur mit Maria, die ihren am Kreuz gestorbenen Sohn Jesus in den Armen hält, wenn auch kopflos bald als Leihgabe im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe und im Centre Pompidou in Paris zu bestaunen? Gespräche laufen jedenfalls.

Jedenfalls beeindruckt ein Hinweis des HAV besonders: Die Pietà stehe seit der Einweihung der Liebfrauenkirche  ums Jahr 1486 in eben dieser.  Wer schlug dem jetzigen Torso einst den Kopf ab? Bilderstürmer in der Reformation? Österreichische Truppen, die 1796 in dem Gotteshaus ihr Quartier aufschlugen und das Gestühl verbrannten?

Als ergreifendes Denkmal spätmittelalterlichen volkstümlichen Glaubenslebens bezeichnet Adolf Schmahl in seinem Kunstbrevier Neckarschwaben die Frauenkirche. Er zitiert aus einem Schreiben des Lienzinger Ortsvorstehers vom 10.April 1769, dass sie eine Wallfahrtskirche war und ein wunderthätig Bild von der Heiligen Maria besaß. Der Autor beschreibt viele Details des Bauwerkes, erwähnt aber mit keiner Silbe eine Maria-Figur aus Holz ohne Kopf (Adolf Schahl, Kunstbrevier Neckarschwaben. 1966. Adolf Bonz Verlagsbuchhandlung, S. 270 ff).

Der Altar ohne das (gestohlene) Kruzifix

Die Pietà? Der Lienzinger Pfarrer Paul Mildenberger (1908 bis 1914), der vor dem Ersten Weltkrieg dem Verein zur Erhaltung der Frauenkirche und des Friedhofs vorstand, legte seinen Vortrag über die Geschichte der Liebfrauenkirche anno1911 in Heftform vor. Er schwärmt darin zwar von der alten Kapelle Unserer lieben Frauen, beschreibt sie detailreich, führt liebevoll ihre künstlerischen Werte an, doch  an keiner Stelle bringt er einen ausdrücklichen Hinweis auf eine kopflose Marienstatue aus Lindenholz. Es sei denn, diese wäre mit diesem kurzen Satz gemeint, wofür manches spricht: Eine arg verstümmelte in Holz geschnitzte Madonna mit dem Leichnam Jesu ist noch vorhanden. Andreas Butz widmet der beschädigten Figur im Ortsbuch eine Passage, vermutet, dass es sich um ein Götzenbild handelte, das in der Reformationszeit bei den Protestanten Anstoß erregte (Andreas Butz in: Lienzingen, Altes Haufendorf, moderne Gemeinde, 2016. Verlag Regionalkultur, S. 34 f).

Nichtsdestotrotz: Lienzinger Kultur für Mühlacker. Doch den Lienzingern dürfte in der Mehrheit dieses Kunstwerk eher unbekannt gewesen sein. 

Noch sind Fragen offen. Die Geschichte bleibt spannend. Dafür steht der HAV nicht mehr allein mit dem Projekt. Die Leiterin des Heimatmuseums, Dr. Martina Terp-Schunter, und somit die Stadt mischt kräftig mit, der Verwaltungsausschuss des Gemeinderats genehmigte im Juni 2021 die notwendigen Gelder (trotzdem findet sich bis jetzt kein Hinweis in der Rubrik Aktuelles der städtischen Homepage auf Vortragsreihe und Projekt).

Die nahezu lebensgroße Lindenholzskulptur der Pietà wird wissenschaftlich aufgearbeitet, konservatorisch gesichert und in Form einer Replik wieder an ihrem originalen Platz in der Frauenkirche für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Exakt an welcher Stelle und wie in der im Stadteigentum stehenden Kirche ist noch nicht ganz geklärt.

Dafür veranstaltet die Volkshochschule Mühlacker in der Kelter eine sechsteilige Veranstaltungsreihe, die am Donnerstag begonnen hat. Doch für das Thema Von der Idee zum Projekt hätten sich mehr Menschen interessieren können. Dazu hat der Bildhauer Thomas Hildenbrand in der Kelter eine offene Werkstatt eingerichtet, in der er die Figur rekonstruiert. Zuschauer sind willkommen.

Dem Rätsel auf der Spur. Kunststudentin Hannah Backes schreibt über die Replik und die Herkunft der Pietà ihre Masterarbeit. Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchung an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart sollen kommenden Donnerstag vorgestellt werden - Materialien, Spuren des Herstellungsverfahrens und der aktuelle Zustand der Skulptur wurden ausführlich unter die Lupe genommen. An den weiteren Abenden dreht es sich um Computertomographie zur Analyse von Kunst- und Kulturgütern. Die Lienzinger Holzfigur war aus Größengründen im Fraunhofer-Institut in Fürth durchleuchtet worden. Die Pietà musste in die Röhre.  Der Computertomograph brachte einen massiven Holzwurmbefall ans Tageslicht.

Feldkirche, die Lienzinger stadteigene Liebfrauenkirche

Quellen zur Wallfahrt und Marienverehrung in der Liebfrauenkirche in Lienzingen legt Dr. des. Andreas Butz vom Landeskirchliches Archiv Stuttgart offen. Butz schrieb den frühmittelalterlichen Teil des 2016 erschienen Ortsbuchs von Lienzingen, einen Aufsatz zur Frauenkirche Lienzingen findet sich im Jahrbuch Nummer 16 des Enzkreises.

Das Projekt: Projekt-Piet-Gemeinderateingabe.pdf

Das Programm: 22_01_Pieta_Rahmenprogramm_6_S_flyer_DIN_lang_hoch.pdf

Der HAV führt ein Tagebuch über die Umsetzung der Idee im Web. Die „Offene Werkstatt“ ist dienstags bis donnerstags von 13.30 bis 17 Uhr geöffnet. Wie aus einem massiven Lindenholzblock eine Pietà entsteht, kann hautnah miterlebt werden.

Auskünfte unter Telefon 07041/876325 Heimatmuseum Mühlacker oder E-Mail: museum@stadt-muehlacker.de. Anmeldungen zu den Veranstaltungen auch per E-Mail an vhs@stadt-muehlacker.de.

 

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