Zeitzeuge Ulrich Bäuerle auf dem grünen Sofa - Letztes noch lebendes Mitglied jener Ratsriege, die 1972/75 für ein selbständiges Lienzingen kämpfte, aber verlor und dann streikte

Das 1250-Jahr-Jubiläum von Lienzingen liegt zwar schon fünf Jahr zurück, doch eine Aufgabe aus dieser Zeit ist noch nicht erledigt: Die Einrichtung der Etterdorfstube im alten Rathaus. Sie soll die Dauerausstellung mit Christbaumständern durch Ortsgeschichte und so mit einer lokalen Note ergänzen. Dann kommen auch die Zeitzeugen-Interviews zur Geltung, die teilweise schon 2016 von Martina Geißler, Bernd Obermeier und Reiner Schmollinger mit betagten Lienzingern geführt wurden und seitdem darauf warten, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden.

Zeitzeugen unter sich: Ulrich Bäuerle, Reiner Schmollinger und Günter Bächle (von links).

Zuerst konnte der Zeitplan für die Rathaussanierung nicht eingehalten werden, dann erforderte der Aufbau der Dauerausstellung die ganze Zeit und Kraft, schließlich kam Corona, zudem der Wechsel in der Leitung des Stadtmuseums Mühlacker, zu dem die Einrichtung im alten Rathaus Lienzingen gehört. Denn mit der Fortsetzung der Zeitzeugen-Reihe, die 2016 begonnen wurde, soll auch deutlich gemacht werden, dass nun die Aufgabe Etterdorfstube angepackt wird. Da sind wir uns mit Museumsleiterin Dr. Martina Terp-Schunter völlig einig.

Immerhin: Der Name steht.

Alles digitalisiert: Historische Aufnahmen vom Ort und seinen Menschen, der bei der Gartenschau 2015 vorgestellte Lienzingen-Film von Roland Straub, Hörstationen mit den derzeit zehn Interviews unter dem Arbeitstitel „Alte Lienzinger erzählen von Früher“, dazu Transkriptionen der Interviews jeweils in einem Ordner zum Nachblättern. Der Bildschirm ist längst montiert, aber nur mit Aufnahmen über die Sanierung des Ende November 2019 wieder eröffneten Gebäudes aus dem Jahr 1719 gefüttert.

Eigentlich sollten schon vor zwei Jahren die beiden einzigen, noch lebenden Gemeinderäte der bis 1975 selbstständigen Gemeinde Lienzingen interviewt werden: Ulrich Bäuerle (1971 bis 1975) und Günter Schempf (1965 bis 1970). 1970 musste Schempf sein Mandat abgeben wegen seines Umzuges nach Maulbronn, wo er heute noch lebt. Er ist gesundheitlich angeschlagen und konnte deshalb den Termin nicht wahrnehmen. Das Gespräch soll nachgeholt werden.

So nahm in der Etterdorfstube nur Ulrich Bäuerle auf dem grünen Sofa Platz, der ehemals selbstständige Elektromeister. Er gehörte zur letzten Lienzinger Ratsriege: Sie kämpfte damals für die weitere Selbstständigkeit des seinerzeit 1750 Einwohner zählenden Ortes. In einer Bürgerabstimmung votierten bei einer hohen Beteiligung 96 Prozent für den Kurs von Rat und Bürgermeister. Wir hätten als selbstständige Gemeinde, die zudem schuldenfrei war, genauso überleben können wie Ötisheim. 

Klare Ansage an den Ortseingängen 1974/75 (Foto: Rainer Appich)

Doch vor dem Staatsgerichtshof unterlag die Kommune im Mai 1975 mit ihrer Klage gegen die Zwangseingemeindung durch Landtagsbeschluss, der Gemeinderat erklärte daraufhin den kollektiven Rücktritt, nicht ohne vorher Bürgermeister Richard Allmendinger zum Ehrenbürger zu ernennen. Der Schultes blieb bis zum Verlust der Unabhängigkeit am 5. Juli 1975 bei den Ratssitzungen allein, erledigte mit Beschluss nur noch das unbedingt Notwendige.

Das Regierungspräsidium ordnete vier Ratsmitglieder – darunter auch Bäuerle – nach Mühlacker ab als Lienzinger Vertretung bis zur Neuwahl im September 1975. Doch sie setzten den Streik fort. Damit waren nach der Wahl vom September Gabriele Hoffmann (heute Meeh) und ich die ersten Lienzinger im Mühlacker Stadtparlament.  So entwickelte sich eine Plauderei unter drei Zeitzeugen. Letztlich sei dann doch alles schnell gegangen, der Übergang auf Mühlacker, sagt Bäuerle. Wir wollten aber nicht nach Mühlacker. Daran gab es nie einen Zweifel, auch wenn der Bürgermeister sagte, er wolle einer Eingemeindung nicht im Wege stehen.

In manchem bin ich mir mit Bäuerle einig. So, dass Richard Allmendinger ein guter Schultes war, der die Gemeinde mit sparsamer Personalbesetzung verwaltete und sie nach vorne brachte - mit fünf Leuten im Rathaus einschließlich dem Amtsboten. Kein Bauamt, weder ein tiefes noch ein hohes. Trotzdem wurde gebaut - Gemeindehalle, Schule, Kindergarten, Kanalisation... Die Gemeinde hatte Freiberufler an der Hand, die sie für solche Aufgaben beauftragte. Ein Architekt aus Mühlacker, ein anderer aus Schmie, ein Bauingenieur in Enzberg zum Beispiel. Angeblich geht das heute nicht mehr, sagen sie bei uns im Rathaus. Oberster Baukontrolleur war denn auch der Bürgermeister selbst. Und wenn er eine Rechnung ganz oder in Teilen für nicht berechtigt hielt, ging er dem Streit auch nicht aus dem Weg. 

Von der ersten demokratischen Wahl nach Kriegsende, die im Januar 1946 stattfand, und der Zwangseingemeindung von Lienzingen nach Mühlacker im Juli 1975, lebte die kommunale Selbstverwaltung des Dorfes vom ehrenamtlichen Engagement von insgesamt 43 Ratsmitgliedern in 29 Jahren. Mit Ausnahme der Jahre 1962 bis 1964 reine Männerrunden. Zuerst acht, dann zehn Räte jeweils plus Bürgermeister. Gut 30 gehörten dem Gremium nur eine Wahlperiode an. Da galt noch das vom Landtag 1974 aufgehobene rollierende System: Alle drei Jahre stand die Hälfte des Gremiums zur Disposition, die Amtszeit des einzelnen Rates ging somit über sechs Jahre.

Gewicht hatten im Gremium die Landwirte, denn diesem Berufsstand gehörte rund ein Dutzend der Räte in drei Jahrzehnten an. Die blockierten den Versuch von Allmendinger, Industrie in Lienzingen anzusiedeln, erinnert sich Bäuerle. 1971 habe er zu den Jüngeren gehört, die neu in das Ortsparlament eingezogen seien. Wenn ihr Jungen schon eher hättet mitsprechen können, hätten wir ein richtiges Industriegebiet bekommen. Er ist überzeugt: Ohne Eingemeindung wäre das Industriegebiet sicherlich gekommen.

Briefmarke zum 1250-Jahr-Jubiläum 2016

Früher sei alles viel persönlicher gewesen, das Dorf ländlicher, sagt der 84-Jährige. Wenn wir etwas wollten, gingen wir eben aufs Rathaus zum Schultes. Und der Bürgermeister, von 1947 bis 1975 im Amt, sei den Menschen näher gewesen. Er war immer spätestens um 8 im Rathaus, manchmal schaute er auch bei mir in der Werkstatt vorher rein. Bäuerles Elektrogeschäft befand sioch schräg gegenüber in dem Fachwerkhaus Friedenstraße 7 (heute Rieger und Maisel).

Ja, und dann war das noch mit der Friedenstraße. Um Doppelnamen in Lienzingen und anderen Teilen der Stadt Mühlacker zu vermeiden, beschloss der nun zuständige Mühlacker Gemeinderat die neuen Bezeichnungen - ohne auch nur einen einzigen Lienzinger Vertreter. Eines empfanden wir als Affront - aus der Mühlackerstraße wurde nun Friedenstraße. Bäuerle, Schmollinger und ich sind uns bei dem Gespräch in der Etterdorfstube in dieser Bewertung einig. Da wollte man uns ärgern, sagt Bäuerle. Ich versuchte in meinen ersten Wochen im Gemeinderat eine Änderung zu erreichen, ging aber mit dem Antrag unter. Ein sozialdemokratischer Kollege bezeichnete den Vorstoß gar als Lohkäs.

Lienzinger Fahnen zum Ortsjubiläum 2016. (Fotos: Günter Bächle)

Zurück zum Lienzinger Gemeinderat in der Nachkriegszeit. Einsamer Stimmenkönig, über alle 29 Jahre hinweg nie wieder von einem Kandidaten erreicht: Erwin Bonnet, Landwirt und Ortsobmann der Bauern, 1947 mit 704 Stimmen auf der Liste DVP, CDU und Landwirte erstmals gewählt – in den folgenden Wahlen erzielte er dieses Spitzenresultat nicht annähernd mehr, Vize-Stimmenkönig in all den fast 30 Jahren: Ulrich Bäuerle, der 1971 auf Anhieb 514 Stimmen holte. Er wird jedenfalls als Lienzinger Zeitzeuge zu den digitalen Schätzen des Fundus in der Etterdorfstube gehören. Rund sechs Gigabit jedenfalls stecken in der Datei.

Wir wollen diese Serie fortsetzen.

 

 

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