Doch keine Angst

Ein Volk voller Angsthasen mit einer Neigung zur Depression? Fühlen wir uns wirklich schlechter, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Ist unser Leben heute komplizierter? Roland Paulsen bejaht die Fragen in seinem Buch Die große Angst. Untermauert dies mit Fakten und Fällen, liegt damit nicht so schief wie man das auf den ersten Blick vermutet. Der knapp 40-jährige Professor für Soziologie in der Universität Lund in Schweden lebt in Stockholm, ist vielfach ausgezeichneter Autor der größten schwedischen Tageszeitung. Sein mehr als 400-seitiges Buch, erschienen im Verlag Mosaik, hat Tiefgang und Schlagseite in einem, wie der Titel bereits vermuten lässt. Der Leser fragt sich, ob wir wirklich alle miteinander ängstlich sind wie der Autor meint feststellen zu müssen. Wo bleibt die Fröhlichkeit? Wo bleibt der Humor? Wo rangiert das Glück? Stattdessen Ängste und Sorgen, Gedanken als Krankheit, Entzauberungen, die Welt und das Ich als Risiko, um nur einige Kapitel anzuführen.

Doch keine Angst: Der Soziologe bietet nicht nur Diagnose, sondern auch Therapie, entwickelt gar Gedanken jenseits der Therapie. Paulsen beschäftigt sich mit der Frage, wie kompliziert das Leben geworden ist. Er macht dies fest an Personen, anonymisiert sie, ohne dass die Fälle an Eindringlichkeit verlieren.

Im Jahr 2017 meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), weltweit hätten Depressionen die körperlichen Erkrankungen von der Spitze der häufigsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen verdrängt. In zehn Jahren war die Zahl der Menschen, die an Depression litten, laut WHO-Statistik um fast 20 Prozent gestiegen. Angststörungen seien mittlerweile sogar noch weiter verbreitet als Depressionen. Die Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung ist also höchst dringlich. Die Antworten sind freilich nicht einfach zu geben, der Einblick in das Innere des Menschen fällt schwer. Ein lesenswertes und informatives Buch, das nicht nur nachdenklich macht, sondern auch Wegweiser ist für den Abschied von der großen Angst.

Ein politisches Buch, zufällig passend zum laufenden Bundestagswahlkampf. Und für folgende Wahlkämpfe.

Der Autor rät, Sorgen als das anzunehmen, was sie sind: eine angemessene Reaktion auf eine unangenehme Situation. Ein Mensch, der nicht an morgen denkt, ist ein Mensch, der sich auch keine Sorgen macht. Der Professor führt als Beispiel das buddhistische Mantra an, auf das zu achten, was hier und jetzt passiert als effektive Praxis, um die Sorgen auszuschalten. Auch Jesus mahnte: Macht euch keine Sorgen, denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dieses bedürft, Trinken, Essen und Kleidung. Doch der moderne Mensch sucht nach Risiken, macht sich damit auch unglücklich.

Nachdem das Risiko lange sein Dasein im Verborgenen gefristet habe, sei es letztlich zur Waffe geworden, mit der Politiker Wahlen gewannen. Paulsen gelangt zum Ergebnis, bisher habe noch niemand eine Wahl mit dem Versprechen gewonnen, die Erderwärmung zu bekämpfen – dagegen seien mehrere Wahlen mit dem Versprechen gewonnen worden, härter gegen angeblich gewalttätig und sexuell abweichende Gruppen von Einwanderern vorzugehen. Er rät, mit der Politik des Risikos zu brechen, abwärts gerichtete Kontrafakten gegen aufwärtsgerichtete zu tauschen, die Sorgen mit der Sehnsucht nach etwas Besserem herauszufordern.

Doch dass Klimapolitik und in diesem Zusammenhang stehende notwendige, auch umstrittene Maßnahmen das Parteiengefüge in allen demokratischen Staaten durch die Grünen aufbrach, lässt der Autor unbeachtet. Indessen verlangt er streng, aufzuhören mit dem Lügen. Weder Wettrüsten noch internationaler Terrorismus oder Erderwärmung hätten eine zwingende Funktion für die Gesellschaft. Er rät zu Verwundbarkeit statt Risikominimierung. Nicht das Entweder-Oder zählt bei Paulsen, sondern eine Politik der Abstufungen. Ein kluger Ratschlag, auch wenn er selbst darauf verweist, die Möglichkeit bestehe, dass die Sorgen bleiben, egal, was wir tun. Weder Sorgen noch Seelenfrieden lässt er als Entscheidungsgrundlagen gelten, sondern nur Prinzipien, auf denen unsere Politik basieren sollte.

Als Individuen beschäftigen wir uns mehr mit uns selbst. Familien oder Dorfgemeinschaften, Religionen oder Klassen, Geschlecht oder Beruf rücken mehr in den Hintergrund, schreibt der Soziologe. Es war die stärkere Einbindung in eine irgendwie zusammengesetzte Gesellschaft, in ein Kollektiv. Stattdessen haben wir einen Arbeitsmarkt, ein Wohlfahrtssystem, ein Ausbildungs- und ein Rechtssystem bekommen, in denen das Individuum auf eigene Verantwortung agieren muss, so der Autor. Ergo: Rein formal betrachtet hat das Individuum es in der Hand, über Erfolge und Misserfolg zu entscheiden. Doch das ist pure Theorie. Statt Halt in einer Gemeinschaft zu finden, drohen einem persönlich Risiken. Ein kollektives Risiko ist auch ein geteiltes Risiko, macht der Stockholmer Autor aus. Wenn eine Familie zusammensteht, hilft das im Großen und Ganzen. Wenn!

Sein Fazit lässt einen allerdings etwas ratlos zurück. Zu handeln heiße, eine Katastrophe zu riskieren. Nicht zu handeln heiße auch, eine Katastrophe zu riskieren. Ob wir nun das Risiko eingehen oder es vermeiden, die Gefahr eine Katastrophe bleibe. Doch nicht alle Katastrophen seien Zukunftsmusik. In diesem Buch beschreibt er die Katastrophe der Risikoaversion. Seine Überzeugung: Sie findet gerade statt. Diese Risikoscheue.

Info: Paulsen, Roland: Die große Angst. Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor, 416 Seiten, 13,5 x 21,5 cm,Verlag Mosaik, 20 Euro.

 

Die Leseprobe - der Autor zu seinem Buch:

Die Frage Was, wenn? ist ein Gedankenspiel. Was, wenn? hat
uns bis auf den Mond gebracht und uns die Welt der Partikel er-
schlossen. Was, wenn? hat aber auch zu Genozid und wirtschaft-
lichen Katastrophen geführt.

Während ich dies hier schreibe, beherrschen folgende Was,
wenn?-Fragen weltweit den Alltag: Was, wenn zu wenig getan
wird, um die COVID-19-Pandemie aufzuhalten? Was, wenn
zu viel getan wird? Was, wenn die Maßnahmen zu einer Wirt-
schaftskrise führen? Was, wenn durch die daraus resultierende
Arbeitslosigkeit und Armut noch mehr Menschen sterben? Was,
wenn die Impfung nicht reicht? Was, wenn wir von nun an mit
regelmäßigen Corona-Ausbrüchen rechnen müssen?

Während sich die Fragen wie von selbst stellen, sind die Ant-
worten schwerer zu finden, obwohl sich die führenden Exper-
tinnen und Experten der Welt mit ihnen befassen. Was passiert
also, wenn sich eine Einzelperson mit ähnlichen Was, wenn?-
Problemen konfrontiert sieht?

Damit beschäftige ich mich in diesem Buch, mit der Frage,
wie kompliziert das Leben geworden ist. Wer selbst noch keine
längere Phase der Depression durchgemacht hat oder an einer
Angststörung leidet, hat höchstwahrscheinlich nahe Verwandte,
auf die das zutrifft. Vielen von uns geht es schlecht, sogar so
schlecht, dass dieses Gefühl Teil des Alltags geworden ist.

(...) Auch wenn es zum Leben dazugehört, sich schlecht zu fühlen,
scheint es ein immer größer werdender Teil des Lebens zu sein.
Es handelt sich nicht länger um ein Sozialkonstrukt, nicht länger
darum, wie es uns geht oder wie wir über unser Wohlbefinden
sprechen. Alle verfügbaren Statistiken kommen zum selben Er-
gebnis: Wir fühlen uns schlechter denn je.


Dieses Buch will zeigen, warum Sorgen und Ängste so lebens-
bestimmend geworden sind. Es illustriert die Entwicklung von
der Urzeit bis zum heutigen Tag, wo die Menschen wie gebannt
sind von der Zukunft, von Ursache und Wirkung, von Risiken
und Katastrophen, von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen –
eine zunehmende Entzauberung der Welt, wobei die Beeinträch-
tigung der geistigen Gesundheit nur eines von vielen Symptomen
ist.


In den vergangenen vier Jahren bin ich tief in Statistiken ein-
getaucht und habe eine Übersicht über das menschliche Leid
zusammengetragen. Zudem habe ich mit vielen Menschen über
ihre Probleme gesprochen. Ich wollte über konkrete Personen,
über konkrete Probleme schreiben, jenseits von Statistiken und
Diagnosen.

Einer dieser Menschen ist Patrick, der sich so sehr
in seinen Gedanken verlor, dass er seine Frau und Kinder nicht mehr

wahrnahm; Samira, die nach ihrer Scheidung fast vierzig
Ayahuasca-Trips gemacht und dabei Gott getroffen hat; Helena,
die in nur einem Jahr auf vier unterschiedliche Krebsarten unter-
sucht wurde, ohne dass sie tatsächlich krank war; und Daniel,
der viele Jahre lang mit dem Zwangsgedanken lebte, pädophil
zu sein.

Viele von ihnen sind extreme Beispiele, und dennoch un-
terscheiden sie sich gar nicht so sehr von denjenigen unter
uns, die sich mit weit »normaleren« Alltagsproblemen durchs
Leben schlagen. Die Fixierung auf Katastrophenszenarien bei
Angststörungen, das Pendeln zwischen Obsession und Zwang
bei Zwangsstörungen, die sich selbst erfüllende Angst vor einer
Panikattacke bei Panikstörungen sind nur unterschiedliche Aus-
prägungen derselben zugrunde liegenden Angstmuster. Alle zu-
sammen stehen sie für eine historische Entwicklung, die zu die-
sem Zeitpunkt geradewegs in die falsche Richtung steuert – eine
Ausrichtung, die sich aber jederzeit ändern könnte.
Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch gefallen wird, aber mehr
noch wünsche ich Ihnen die heilsame Erkenntnis, dass wir alle
dasselbe einsame Leiden in uns tragen.

 

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