Grenzen der Einsicht

Akteneinsicht wird zu einem für viele Gemeinderäte schwer zu handhabenden Kontrollrecht, von dem sie nur zurückhaltend Gebrauch machen. Denn sie sollten über verwaltungsrechtliche Kenntnisse verfügen, um dem Aktenverlauf überhaupt folgen zu können. Dabei ist es im Kommunalrecht das einzige Kontrollinstitut  der Selbstunterrichtung der Gemeinderäte. Zu dieser Wertung gelangte Dr. Claudia-Simone Rohde, inzwischen Ministerialrätin und Leiterin des Personalreferates Z 6 im Hessischen Innenministerium. Und zwar in ihrer juristische Doktorarbeit über den Gemeinderat als Kontrollorgan am Beispiel von Baden-Württemberg (Verlag Dr. Kovar, Hamburg, 2003, 214 Seiten, ISBN 978-3-8300-0943-6). Auch wenn sie ihre Dissertation schon 2002 vorlegte, ist der Inhalt immer noch höchst aktuell, wie derzeit zwei solcher Ausschüsse zur Akteneinsicht zeigen: Jener zu den Ursachen der Kostenexplosion beim Bau der Hauptfeuerwache in Mühlacker vom Gemeinderat und zur Praxis der Vergabe der Buslinien im westlichen Enzkreis beim Kreistag.

Mehr als 200 Aktenordner über den Bau der Feuerwache im großen Ratssaal

Sie trifft den Kern, wenn sie beklagt, dass in der Verfassungswirklichkeit der Gemeinden (lässt sich auch auf Landkreise übertragen) zunehmend eine Entmachtung der ehrenamtlichen Gemeinderäte zugunsten der hauptamtlichen Verwaltung stattfinde. Dies lasse sich mit dem Informationsvorsprung und der Fachkenntnis der Verwaltung, den unzulänglichen Informationen sowie mit fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Gemeinderäte erklären. Erfolgreiche Kontrolle setzt jedoch ausreichende Informationen voraus. Hierin besteht bei den jetzigen kommunalverfassungsrechtlichen Regelungen ein erheblicher Mangel.

Die Juristin untersuchte schwerpunktmäßig das Akteneinsichtsrecht der Gemeinderäte und unterbreitet Vorschläge, wie dieses Recht in den Händen der ehrenamtlichen Gemeinderäte wirksam zum Einsatz kommen kann.

Wie steht es so schön in der Gemeindeordnung Baden-Württemberg?

1. Der Gemeinderat ist die Vertretung der Bürger und das Hauptorgan der Gemeinde. 

2. Er legt die Grundsätze für die Verwaltung der Gemeinde fest und entscheidet über alle Angelegenheiten der Gemeinde, soweit nicht der Bürgermeister kraft Gesetzes zuständig ist oder ihm der Gemeinderat bestimmte Angelegenheiten überträgt. 

3. Der Gemeinderat überwacht die Ausführung seiner Beschlüsse und sorgt beim Auftreten von Missständen in der Gemeindeverwaltung für deren Beseitigung durch den Bürgermeister.

Lenkungsorgan nennt sich das, formal richtig ist: Hauptorgan der Kommune. Weder Gemeinderat noch Kreistag sind Parlamente, sondern Teil der Verwaltung. Also ein Teil der Exekutive, auch wenn Gemeinderäte und Kreisräte grundsätzlich parlamentsähnliche Züge aufweisen, weil etwa ihre Mitglieder vom Volk gewählt werden oder sie die Befugnis haben, in Form von Satzungen Recht zu setzen.

Doch wie üben Feierabend-Politiker ihre Kontrolle aus? Die Gemeindeordnung sichert dem einzelnen Mitglied ein Fragerecht zu, einer Fraktion das Recht auf Information über einen bestimmten Punkt. Zudem kann eine Fraktion die Aufnahme eines Themas (und Antrags) in die Tagesordnung spätestens der übernächsten Sitzung erzwingen. Das schärfste Instrument ist gleichzeitig ein Minderheitenrecht: Mindestens ein Viertel der Gemeinderäte kann die Einsicht in Akten durchsetzen – hier bedarf es keiner Mehrheit im Gremium. Die Gemeindeordnung lässt offen, ob nun das gesamte Gremien die Ordner durchblättert oder ein vom Gemeinderat oder Kreistag eingesetzter Ausschuss, in dem die Antragsteller auf jeden Fall vertreten sein müssen. Aus praktischen Gründen ist es meist ein kleiner Ausschuss, der diese Kärrnerarbeit  auf sich nimmt.

Was gerne verwechselt wird: Der Ausschuss zur Akteneinsicht ist kein Untersuchungsausschuss, bei dem zum Beispiel Zeugen vorgeladen werden. Er macht sich lediglich, aber immerhin ein Bild der von ihm angeschauten Schriftstücke, fasst die Ergebnisse in einem Bericht an den Gemeinderat zusammen (entweder der Ausschuss verständigt sich auf einen gemeinsamen Bericht oder die einzelnen Mitglieder liefern jeweils eigene Text mit den jeweiligen Erkenntnissen der Einsichtnahme). Dieser Kontrollauftrag wird gerne, besonders von den Betroffenen in den Verwaltungen, als Misstrauensbekundung ihnen gegenüber empfunden. Das sehe ich nicht so: Der Ausschuss ist zunächst eine neutrale Angelegenheit – er kann ent-, aber auch belasten.

Der Gemeinderat debattiert den Bericht oder die Berichte zunächst nichtöffentlich. Er (und nicht der OB, BM oder Landrat) entscheidet, ob die Erkenntnisse des Ausschusses anschließend ganz, teilweise oder gar nicht öffentlich gemacht werden. Dem Gemeinderat oder Kreistag bleibt es vorbehalten, welche Folgerungen das jeweilige Gremium aus den Resultaten des Aktenwälzens zieht. Im Mittelpunkt sollte stehen, was für die Zukunft in den Abläufen der Verwaltung oder in der Kommunikation zwischen Verwaltung und Gemeinderat/Kreistag verbessert werden kann. Ein nachhaltig wirkender Lernprozess. Folgerungen bei erkennbaren Fehlern können aber auch schon einmal in einer Rüge enden (wie zum Beispiel bei der Akteneinsicht Bijouterie-Sanierung beziehungsweise -Bebauung in Dürrmenz).

Akteneinsicht – da gibt es sotte ond sotte, um es schwäbisch zu sagen. 2018 setzte der Gemeinderat auf Antrag der CDU einen Ausschuss ein, um die Aktenlage zum Neubau der Hauptfeuerwache Mühlacker zu sichten. Vorgestern tagte er zum dritten Mal. Dazwischen liegen zeitliche Abstände, die der Sache nicht guttun. Der Fehler war, das sechsköpfige Gremium zuerst als Untersuchungsausschuss misszuverstehen.

Nachgerade ein Musterbeispiel im Sinne der Kontrolle ist der aktuelle Buslinien-Ausschuss beim Enzkreis. Kurz vor Weihnachten auf Antrag von CDU, Grünen und FDP gebildet, konstituierte er sich am 8. Februar 2012 unter Vorsitz des Landrats, legte den Terminplan fest. Anschließend trafen sich die sechs Mitglieder – von jeder Fraktion einer - viermal ohne Mitarbeiter der Verwaltung im Landratsamt oder digital. Allein das summierte sich auf knapp 14 Stunden. Ein erheblicher Zeitaufwand kam hinzu, denn die 3500 Aktenseiten mussten durchgeschaut werden. Da lobe ich mir die Kreisverwaltung:  Zwei Mitarbeiter scannten zwei Tage lang die Akten ein, speicherten sie in einer Cloud, wir erhielten einen Zugangscode und konnten am heimischen Schreibtisch (oder sonst wo) die Dateien durchschauen – tagsüber, abends, nachts. Ich blätterte sie von der ersten bis zur letzten Seite durch. Stundenlang!  Schätzungsweise 20, eher mehr. Inzwischen liegt der Abschlussbericht beim Landrat und soll im Juni dem Kreistag präsentiert werden. Die Akteneinsichtnehmer sind sich über Fraktionsgrenzen hinweg einig, dass auch die Öffentlichkeit einen Anspruch hat, die Ergebnisse zu erfahren. Nebenbei: Wir haben gut zusammengearbeitet.

Von der anderen Seite betrachtet

Allerdings verdeutlicht der genannte Zeitaufwand für die Ausschussarbeit auch die Grenzen, denn die Akteneinsicht geschieht im Ehrenamt. Noch deutlicher wurden die Grenzen vorgestern, als der Ausschuss des Gemeinderats Mühlacker für die Akten über den Bau der Feuerwache im großen Ratssaal vor einer Front mit mehr als 200 Aktenordner stand.  Machte mächtig Eindruck, schreckte im ersten Moment aber auch ab. Und genau genommen kapitulierte jede/r. Das machte die Grenzen einer solchen Kontrolle durch den Gemeinderat - und damit Ehrenamtlicher - deutlich (zum Glück sitzen noch ein paar Rentner im Rat). Es bleibt Einsichtnahme nach dem Prinzip Auswahl. Die CDU meldete an, welche Teilbereiche sie noch unter die Lupe nehmen will und forderte die überschaubare Zahl von Akten an, die anderen Fraktionen verfahren ebenso. Ob wenigstens Teile davon digitalisiert zugänglich gemacht werden, muss sich zeigen. Ein Teil wird es auf jeden Fall nur auf Papier geben — also pilgern wir ins Rathaus, um uns zu bestimmten Zeitspannen schlau zu machen.

Auf dass es auch hier möglichst bald einen Abschlussbericht gibt. 

Claudia-Simone Rohdes Promotionsarbeit listet auf, wer quasi von Amts wegen zu kontrollieren hat.  Die Kommunalaufsicht bei Landratsamt oder (bei Landkreisen, Stadtkreisen und Großen Kreisstädten) Regierungspräsidium, die Gemeindeprüfungsanstalt (GPA) Baden-Württemberg (sie kontrolliert im Nachhinein, meist einige Jahre später, aber dann mehrere Jahre auf einen Schlag - angefordert werden kann die GPA von einer Kommune auch zur Sonderprüfung) und schließlich in Kommunen mit mehr als 20.000 Einwohnern sowie Stadt- und Landkreise das hauseigene Rechnungsprüfungsamt. Wir in Mühlacker haben es in den vergangenen Jahren um jeweils eine halbe Stelle aufgestockt. Mit insgesamt einer vollen und zwei halben Stellen sicherlich in bescheidener Größe.

Der Gesetzgeber hat dem Rechnungsprüfungsamt (RPA) bewusst eine Sonderstellung zugewiesen. Es ist bei der Erfüllung der ihm zugewiesenen Prüfungsaufgaben unabhängig und an Weisungen nicht gebunden, untersteht im Übrigen dem Bürgermeister (oder OB beziehungsweise Landrat) unmittelbar. Seine Unabhängigkeit wird auch durch eine weitere Regelung deutlich: Die Leitung des Rechnungsprüfungsamts kann einem Bediensteten nur durch Beschluss des Gemeinderats und nur dann entzogen werden, wenn die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Aufgaben nicht mehr gewährleistet ist. Der Beschluss muss mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen aller Mitglieder des Gemeinderats gefasst werden und ist der Rechtsaufsichtsbehörde vorzulegen.

Die örtliche Prüfung ist als Eigenkontrolle des Rates beziehungsweise Kreistages, darüber hinaus als Unterstützung der Verwaltungsführung, zu verstehen. Sie übt eine Kontrollfunktion im Auftrag des Rates beziehungsweise Kreistages aus. So sieht es die KGSt -  die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement. Statt Personalreserve zu sein muss der Gemeinderat da RPA stärker einsetzen, vor allem wenn die Zahl der Aktenordner die Möglichkeiten der Ehrenamtlichen sprengt. Claudia-Simone Rohde empfiehlt hier dem Landtag, in der Gemeindeordnung die Möglichkeit zu schaffen, dass auch eine Minderheit – analog zum Antrag auf Akteneinsicht – das RPA mit weiteren Aufgaben betrauen kann (S. 191 ff).

Das neue Steuerungsmodell, das von Verwaltung und Gemeinderat ein vollständig gewandeltes Rollenverständnis verlange, sieht die Juristin kritisch. Es schlägt sich auch im neuen Haushaltsrecht (Doppik) nieder. Der Gemeinderat solle Inhalte vorgeben, die die Verwaltung dann eigenverantwortlich umsetzt. Enzkreis-Landrat Bastian Rosenau nannte dies kürzlich so: Der Kreistag gebe das Was vor, die Verwaltung bestimme das Wie. Rohde sieht diese Entwicklung kritisch: Die Verantwortungsbereiche innerhalb der Gemeinde würden sich verschieben und dadurch nehme die Einflussnahme durch den Bürgermeister auf die zu treffenden Entscheidungen zu. Rohde: Die Bedeutung des Gemeinderats nimmt hingegen ab.

Als die Dissertation (Universität Heidelberg) 2002 veröffentlicht wurde, war das neue Steuerungsmodell mehr oder minder nur Theorie. Erst Jahre später folgte die Umsetzung in die Praxis. Im Nachhinein zeigt sich, dass Rohde fast schon prophetische Gaben bei diesem Thema besaß. Denn exakt so kam es. Allein des neue Haushaltsrecht mit seinen so genannten Produkten sorgt zwar für ein dickes Etatbuch, geht aber bei weitem den Haushaltspositionen nicht so sehr auf den Grund wie zuvor die Kameralistik. Der Gemeinderat erfährt nicht mehr auf einen Blick alles.

Das Fazit für mich: Gemeinderat und Kreistag sind viel stärker gefordert, den Instrumentenkasten der Kontrolle zu nutzen. Es wäre Aufgabe des Landtags, die Kommunalverfassung so zu ändern, dass die Laienvertretung auch externen Sachverstand bei der Akteneinsicht einschalten darf und kann, um die hauptamtliche Verwaltung wirksamer kontrollieren zu können. Akteneinsicht ist das einzige Kontrollinstrument, bei dem sich die Ratsmitglieder selbst vom Verwaltungshandeln überzeugen können - bei allen anderen Kontrollrechten, müssen sie glauben, was ihnen die Verwaltung vorsetzt. Rohde nennt dies Fremdunterrichtung (S. 149 f).

 

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Kommentare

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Norbert Weimper am :

(Kommentar entfernt)

Günter Bächle am :

Meine Mail an OB und LR:

Guten Tag miteinander,

seit dem Wochenende beschäftigt mich eine Frage aufgrund der Grafik in der Allgemeinverfügung. Weshalb wird die Öffentlichkeit bei einem Wert von etwa 400 nicht informiert und sensibilisiert?

Vorhin meldete sich ein Bürger:

Zur vergleichsweise hohen Corona-Inzidenz in Mühlacker stellt sich (bereits seit geraumer Zeit!) die Frage: Wo liegen die Ursachen und Hotspots? Haben Sie dazu Informationen, bzw. können Sie als Gemeinderat dazu Informationen bekommen?

Kann es sein, dass bei einer solchen Gefährdung der Gesundheit von Menschen alles in der Zuständigkeit der laufenden Verwaltung ist und der unteren staatlichen Verwaltungsbehörde? Ist das Hauptorgan der Stadt beziehungsweise des Kreises eigentlich außen vor, liegen die Zuständigkeiten ausschließlich bei der Verwaltung?

Herzliche Grüße
Günter Bächle
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