Neubau, Umbau, Umzug? Lienzinger Rathaus-Debatte drehte sich mehr als zehn Jahre im Kreis

Nach der Sanierung: Das Lienzinger Rathaus als Museum (2020, Foto: G. Bächle)

Neubau, Umbau, Umzug? Fast ein Jahrzehnt lang tauchte der Punkt immer wieder auf den Tagesordnungen des Lienzinger Gemeinderats auf. Kontrovers diskutierten seit 1961 die Bürgervertreter die Frage: Wie viel Rathaus braucht die knapp 1600 Einwohner zählende Kommune? Ein klarer Kurs war nicht zu erkennen. Mit Ausnahme bei Richard Allmendinger, Chef der sechsköpfigen Verwaltung des Dorfes. Aber der beklagte schon in der Gemeinderatssitzung am 28. April 1948 unter § 8, Büromöbel für die Kanzlei des Rathauses, gerade fünf Monate im Amt: Die Einrichtung der Rathauskanzlei sei im Gegensatz zu anderen Behördenbüros sehr primitiv und die zweckmäßige Unterbringung der Akten mache oft Schwierigkeiten, was sich auf ein fortschrittliches Arbeiten benachteiligend auswirke.

Die Nürtinger Firma Linder habe angeboten, zwei Reihenschränke zu liefern - eine Art Tauschgeschäft, denn die Hälfte der Kosten bezahlte die Gemeinde in Form von Schnittholz aus Tanne. Mit der Bereitstellung des Holzes wird der Bürgermeister beauftragt, beschlossen die Räte. Preise werden zwar nicht genannt, aber zumindest ein Teil der anderen Hälfte, in Reichsmark zu bezahlen, entnahm die Gemeinde einer Stiftung des Mühlacker Fabrikanten Friedrich Münch (Stadtarchiv Mühlacker, STAM, Li B 323, S. 86). Bald darauf war eine neue Treppe notwendig. Der örtliche Zimmermann Kälber wollte sie für 650 Mark einbauen. Weil aber für das in den ersten Überlegungen als notwendig erachtete Podest der Platz fehlte, legte der Gemeinderat in seiner Sitzung am 2. Oktober 1950 fest, darauf zu verzichten. Der Schultes solle mit Kälber über eine Reduzierung der Kosten verhandeln (STAM, Li B 324, S. 44).


Lienzinger Geschichte(n) oder: Als Richard Allmendinger noch im Lienzinger Rathaus regierte. Den Verwaltungssitz zu renovieren oder ein neues Domizil für die sechsköpfige Verwaltungsmannschaft zu bauen? Der Gemeinderat widersprach sich bei diesem Thema mit seinen Beschlüssen, wie die Sitzungsprotokolle verraten. Ein Streifzug für diese Blog-Serie


Bürgermeister Richard Allmendinger witterte seine Chance, als zu Beginn des Jahres 1961 der damalige Eigentümer des Wohnhauses zwischen Hauptstraße, Schmiebach und Wetteweg - heute Friedenstraße 26, mit der Bushaltestelle davor - sein Anwesen verkaufen wollte, um für seine wachsende Familie neu und größer zu bauen. So interessierte sich die Gemeinde für den Erwerb.

Etterdorfstube mit Sofa: Roland Straub und der Autor bei der Museumseröffnung im November 2019

Das Anwesen Lehr würde sich sehr gut für die Erstellung eines Rathauses eignen, steht in den Aufzeichnungen über die Gemeinderatssitzung vom 3. März 1961. Die Kommune lockte Lehr mit einem sechs Ar großen Bauplatz am Mühlweg. Doch die Familie entschied sich für ein Areal in der Brühl-Siedlung, zumal die Gemeinde die Verhandlungen einen Monat später wegen der von ihr nicht akzeptierten Kaufs- und Tauchbedingungen der Familie abbrach (Stadtarchiv Mühlacker=STAM, Li B 326, S. 81 und 85).

Das Rathaus Lienzingen 2010 vor seiner Sanierung

Dazu passt die Geschichte über Rathauspläne im Ortsbuch von Lienzingen. Beengt, geradezu archaisch nannte Autor und Historiker Konrad Dussel 2016 im zum 1250-Jahr-Jubiläum erschienenen Band die räumlichen Verhältnisse im 1719 errichteten Fachwerkgebäude an der Friedenstraße 10. Im Jahr 1967 lehnte der Gemeinderat mit knapper Mehrheit die Verlegung der Kanzleiräume der Verwaltung ins Erdgeschoss der neuen Schule ab. Damit brach wieder eine Diskussion auf: Ob das alte Rathaus nur renoviert oder auch erweitert werden sollte. Der Gemeinderat überraschte mit immer neuen (Kehrt-)Wendungen in seinen Beschlüssen.

Zu einem großen Schlagabtausch kam es am 19. November 1968. Räume und Einrichtungen seien recht primitiv, sagte Bürgermeister Richard Allmendinger, im Ortsparlament. Man sei als Verwaltung trotzdem zurückgestanden zugunsten der großen Aufgaben der Gemeinde, die auf ihre Erfüllung harrten. Dass aber die Zustände auf dem Rathaus nicht mehr länger so bleiben könnten und etwas geschehen müsse, werde wohl nicht bestritten werden können, notierte der Schultes in der Niederschrift über die Sitzung. Nachdem der Kommune das Anwesen von Erich Link (vormals Lehr) zum Kauf angeboten worden sei, müsse sich der Gemeinderat zwischen einem Neubau auf dem neun Ar und 14 Quadratmeter großen Areal an der Hauptstraße (heute Friedenstraße 26) und der Renovierung der historischen Immobilie Friedenstraße 10 entscheiden.

Umgezogen 2015: Verwaltungsaußenstelle vom Rathaus in die Grundschule

Das Grundstück Link liege für ein Rathaus denkbar zentral, doch sei mit 55.000 Mark zu teuer. Andererseits büße der Mühlacker Getränkehändler Link als Eigentümer dabei schon 5000 Mark ein, denn um diesen Betrag liege das Angebot unter der Summe, die Link einst bezahlt habe, so der Schultes weiter. Zudem interessiere sich wohl ein Pforzheimer Fabrikant für die Liegenschaft, um darauf ein Mehrfamilienhaus zu errichten. Neubau ja, aber auf dem freien Platz östlich der neuen Schule, forderten die Gemeinderäte Fritz Geißler und Werner Metzger. Wiederum Emil Hafner hielt von der ganzen Linie nichts. Man habe bisher so viel gebaut, jetzt solle man die Einwohnerschaft in Ruhe lassen, zumal Ortsstraßen und Feldwege in schlechtem Zustand seien. Der Platz Link sei teuer, zudem wegen des dort vorbeiziehenden Riesenverkehrs nicht zu empfehlen. Ratsmitglied Richard Zink sah auf dem zum Kauf angebotenen Platz an der Hauptstraße kein Rathaus, sondern andere, nicht vorausschaubare Möglichkeiten. Dagegen hätte sich Wilhelm Tochtermann, zwei Tagesordnungspunkt zuvor zum neuen ersten stellvertretenden Bürgermeister gewählt, unter gewissen Voraussetzungen dort ein Rathaus gut vorstellen können, das aktuelle Verwaltungsgebäude lasse sich zu Wohnungen umbauen. Dass ein Teil des Untergeschosses des Rathauses jemand anders gehöre, brachte Albert Straub in die Debatte ein: Der Kaufpreis sei nicht immer entscheidend. Es gebe keinen Platz, der mehr wert sei, als das Link`sche Anwesen. Letztlich folgte der Gemeinderat mit Mehrheit dem Antrag des Verwaltungschefs, die Verhandlungen mit Link fortzusetzen und sich gleichzeitig von Architekt Link aus Schmie einen Kostenvoranschlag für die Sanierung des Rathauses ausarbeiten zu lassen (STAM Li B 327, S. 239 f).

Die Westseite des Rathauses 2015 ...
... und nach der Sanierung 2019

Auf 58.000 Euro kalkulierte der Architekt die Sanierung und den Umbau des Rathauses. Aus dem Sitzungssaal sollten drei Zimmer werden, die Einteilung des Obergeschosses werde zweckmäßiger. Vorgesehen seien in seinen Plänen zudem eine Elektroheizung sowie ein Zwischenpodest im Treppenaufgang. Der Bürgermeister sagte bei der Präsentation in der Ratssitzung am 17. Januar 1969, nach dem Umbau und der Renovierung des Gebäudes in der geplanten Form habe er für den Rest seiner Amtszeit keine Wünsche mehr in punkto Dienstsitz, wenngleich die Verwirklichung der Baumaßnahme nicht als ideal bezeichnet werden könne. Doch nun wollten die Gemeinderäte auch die Kosten eines eventuellen neuen Rathauses berechnet haben und erweiterten den Auftrag des Architekten entsprechend. Nur Hafner stimmte dagegen (STAM Li B 327, S. 251).

Der Zick-Zack-Kurs ging munter weiter. Am 14. März 1969 bewilligte der Gemeinderat mit acht gegen drei Stimmen nun doch den vorübergehenden Umzug der Kanzlei ins Erdgeschoss der neuen Schule in der Friedrich-Münch-Straße/Ecke Dr. Otto-Schneider-Straße. Dem Beschluss vorausgegangen war eine kontroverse Diskussion, weil der Bürgermeister 40.000 Mark in den Haushaltsplan 1969 für den Rathausumbau eingestellt hatte. Richard Zink setzte sich mit seinem Antrag durch, auf einen Neubau zu verzichten und stattdessen in das Schulgebäude umzuziehen. Das sei allemal günstiger und die 40.000 Mark im Etat könnten gestrichen werden. Die Verlegung sei zudem vorübergehend. Offen blieb, wie die endgültige Lösung aussehen sollte (STAM Li B 327, S. 265).

Grüße aus Lienzingen (ohne Datum): Oben rechts das Rathaus

Das alles passte nicht zu der Ratsentscheidung zwei Wochen zuvor. Aus seltsamen, leicht anrüchigen Verquickungen tauchte das Thema in der Gemeinderatssitzung am 27. Februar 1969 auf, und zwar im nicht öffentlichen Teil. Allmendinger berichtete, Jagdpächterin Berta Münch habe ihm mitgeteilt, ihr sei zu Ohren gekommen, die Gemeinde habe anscheinend vor, die Gemeindejagd an den Mühlacker Fabrikanten Albert Schuler zu verpachten, der sehr interessiert daran sei. Die Jagd gehörte seit 1933 der Familie Münch. In der Unterredung habe sie durchblicken lassen, dass im Falle des Rathausneubaus die Gemeinde mit einem Betrag von ihr rechnen könne.

Im früheren Ratssaal werden nun Christbaumständer gezeigt

Die Behandlung dieser Frage erfordere natürlich, zunächst in nicht öffentlicher Sitzung zu beraten, weil private Interessen berührt seien, meinte der Bürgermeister. Er entsinne sich, dass der Bevollmächtigte der Frau Münch, Dr. Beck, vor noch nicht allzu langer Zeit ein ähnliches Anbieten ihm vorgetragen habe. Man könne die Entscheidung über den eventuellen Umbau des Rathauses insoweit so lange zurückstellen, so seine überraschende Kehrtwende. Gemeinderat Hafner plädierte wiederum für den Umbau des Rathauses und meinte, im Saal brauche man keine Einzelzimmer einbauen. Das sei eine unbillige Forderung des Notars, denn für vertrauliche Gespräche stehe das frühere Gemeindepfleger-Zimmer zur Verfügung - ein schönes Zimmer. Sollte sich der Gemeinderat zu einem Rathausneubau entschließen, gebe es Aufruhr und Revolution. Das Protokoll verzeichnet dann: Im Verlauf der weiteren Aussprache wird deutlich, dass sich die übrigen Gemeindevertreter nicht von den Äußerungen des Kollegen Hafner beeindrucken lassen, denn ihrer Meinung war einmütig für Fortsetzung der Verhandlungen im Sinne des Vortrags des Bürgermeisters. Mit 9 zu 1 Stimmen entschied das Gremium, die Verhandlungen mit Frau Münch bezüglich Jagdverpachtung und eventuellem Beitrag für einen Rathausneubau fortzusetzen (STAM Li B 327, S. 261 f).

Der Historiker Professor Dr. Konrad Dussel bei seinem Vortrag zum 1250-Jahr-Jubiläum von Lienzingen 2016

Doch der Neubau blieb nur auf dem Papier, denn die aufziehende Gemeindereform sorgte für Unsicherheiten. Am 16. Mai 1969 votierten die Räte gegen einen Neu- und für einen Umbau (Konrad Dussel, "Lienzingen, altes Haufendorf, moderne Gemeinde", 2016. Verlag Regionalkultur, S. 232). Das Hauptargument dafür: Die Landesregierung legte ein Gesetz zur Stärkung der Verwaltungskraft kleinerer Gemeinden vor, sorgte damit für Ungewissheit über die Zukunft der Kommunen auch in Lienzingen. Drohte der Anschluss an Mühlacker? Also stimmte der Gemeinderat für die Umbaupläne von Architekt Link aus Schmie. Kosten: 30.000 Mark, die im Etat 1969 finanziert waren (STAM, Li B 326, S. 276). Dass die Arbeiten bis Dezember 1970 erledigt waren, ergibt sich aus dem Beschluss der Räte zwei Wochen vor Weihnachten, der Reinigungsfrau für den erhöhte Arbeitsaufwand  während des Umbaus einmalig 100 Mark Sonderbelohnung zu bewilligen  (STAM, Li B 327, S. 69). Nach der Eingemeindung 1975 blieb das Rathaus rund 40 Jahre Filiale der Mühlacker Verwaltung, zudem hatte die Ortsbücherei seit Sommer 1976 im früheren Sitzungssaal ihr Domizil. Vorher war sie in der Grundschule untergebracht.

Die Verwaltungsaußenstelle in der Grundschule Lienzingen

Später setzte die Stadt Mühlacker die Umzugspläne in das Erdgeschoss der Grundschule doch noch um, sie verlegte 2015/16 Verwaltungsaußenstelle und Kinderbücherei vom Rathaus dorthin. Gleichzeitig begann die Modernisierung des Fachwerkrathauses und die Einrichtung des Museums mit der Christbaumständerausstellung sowie einer Etterdorfstube für insgesamt knapp eine Million Euro. 60 Prozent der Mittel flossen aus dem Sanierungsprogramm des Landes Baden-Württemberg. Vorher von der Stadtverwaltung ventilierte Pläne, das Stadtteil-Rathaus zu verkaufen, stießen nicht nur bei mir auf Widerstand. Durchboxen gegen die örtlichen Stadträte wollten Verwaltungsspitze und die Nicht-Lienzinger im Stadtparlament solche Pläne dann doch nicht. Zum Glück. So entstand eines: ein Schmuckstück.

Nicht ohne (Kosten-)Überraschungen. Nach dem Einrüsten im August 2016 und der Begutachtung der bestehenden Fachwerkfassaden, sowie dem Abschlagen und Freilegung des Putzes der Fachwerkfassade am Westgiebel zeigte sich, dass die Schäden an der Fassade so gravierend sind, dass weder die Kosten- noch die Terminplanung gehalten werden konnten. 60 Prozent der Riegel waren lose. Die kalkulierten 250.000 Euro reichten bei weitem nicht.

Genau genommen hat das Rathaus zwei Eigentümer. Der überwiegende Teil gehört der Kommune, ein Teil des Kellers befindet sich in privaten Händen. Anno 1922 verpflichtete sich die Gemeinde vertraglich, bei Reparaturen die vollen Kosten zu übernehmen, auch für den privaten Teil, fand Bürgermeister Allmendinger nach längerer Recherche im August 1950 heraus (STAM, Li B 322, S. 35). Neun Jahre später eröffnete sich die Chance, die gesamte Immobilie in kommunales Eigentum zu bringen. Friederike Messerschmidt in Wiesbaden verkaufte 1959 auch ihren Anteil am Rathaus – ein Viertel an seinem Balkenkeller, der westliche Teil, wie es im Protokoll der Ratssitzung vom 14. August 1959 heißt. Doch der Gemeinderat beschloss, auf das Vorkaufsrecht nach dem Artikel 228 des Württembergischen Ausführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zu verzichten (STAM, Li B 324, S. 283).

Schadensbilder: Praesentation_Rathaus_Lienzingen.pdf

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