Liebfrauenkirche in Lienzingen - herausragendes Beispiel für die Bedeutung der Wallfahrt im Nordschwarzwald

Frauenkirche Lienzingen (alle Fotos: Günter Bächle)

Am südlichen Ortsrand von Lienzingen steht in erhöhter Lage eine ehemalige Wallfahrtskirche, die seit dem späten 15. Jahrhundert existiert und der Ausdruck der spätmittelalterlichen Marienverehrung im Raum Pforzheim ist. Die ältesten Bauteile befinden sich im westlichen Bereich des Langhauses. Dieses wurde dem Stil des Westportals nach zu urteilen, möglicherweise bereits im Zeitraum von 1400 bis 1420 errichtet. Johann Riescher von Ladenburg, der von 1476 bis 1482 Abt des Klosters Maulbronn war, ließ die Kirche ausbauen, sodass sie ihre heutige Gestalt erhielt. Zunächst wurde von 1476 bis 1478 das Langhaus nach Osten erweitert. Offenbar bildete diese Osterweiterung des Langhauses zunächst auch den Abschluss der Kirche, sodass die Ostwand des Langhauses nun zugleich als Chorbereich genutzt wurde.

Denn im südöstlichen Bereich des Langhauses wurde hierzu wohl 1481 eine Sakramentsnische mit Kielbogen, Handwerkszeichen und möglicherweise dem Wappen des Stifters eingebaut. Liturgisch ist dies ein Hinweis auf die zeitweilige Verwendung dieses Bereiches als Chor. Zudem ist in diesem Bereich ein leicht erhöhter Steinboden eingebaut worden, was ebenfalls auf eine herausgehobene liturgische Bedeutung dieses Raumes hindeuten kann. Nach einer späteren Erweiterung der Kirche scheint dieser Bereich als Aufbewahrungsort genutzt worden zu sein. Ein besonderes Ereignis in der Geschichte der Kirche war die Ausstellung eines Ablassbriefes am 14. August 1483, wodurch möglicherweise auch größere Einnahmen für die Kirche erzielt werden konnten.

Inhalt des Ablassbriefes war das Versprechen auf Verkürzung der Sündenstrafen für die Teilnahme an der hiesigen Marienwallfahrt, also der Teilnahme an Kirchweih und allen Marienfesten in der Lienzinger Liebfrauenkirche. Kurz darauf, in den Jahren 1485 bis etwa 1490 wurde schließlich der Chor mit der Sakristei angefügt. Die überproportionale Ausführung des Chores, dessen Dach heute jenes des Langhauses deutlich übersteigt, verdeutlicht nicht nur die herausragenden Moden der Chorarchitektur am Ende des 15. Jahrhunderts im Pforzheimer Raum. Sie unterstreicht auch die wohl nicht geringen finanziellen Mittel, welche der bis dahin wohl eher schlicht gestalteten Kirche, nun – womöglich durch die Wallfahrt – zur Verfügung standen.

Maria mit dem Kind

Im Zuge dieser Baumaßnahme der späten 1480er Jahre wurde unter das gezimmerte Dachwerk ein Maschennetzgewölbe eingezogen, das zu den eindrucksvollsten gotischen Gewölben im Nordschwarzwald gezählt werden kann. In den Schnittpunkten der Rippen finden sich sechs Schlusssteine mit außergewöhnlich detailreich gestalteten figürlichen Darstellungen. Von Westen nach Osten sind dies der heilige Wolfgang mit Axt und Kirchenmodell, der heilige Leonhard mit Kette, Hufeisen und Buch, Jakobus der Ältere mit einem aufgeschlagenen Buch, die heilige Margaretha mit einem festgebundenen Drachen, Anna mit Maria und Jesuskind (Anna Selbdritt) und zuletzt Maria mit Kind. Östlich des letzten Schlusssteins mit Maria befinden sich noch drei Wappensteine, wovon das mittlere auf das Kloster Maulbronn verweist.

Noch bevor der Chor Ende des 15. Jahrhunderts angebaut wurde, erhielt die Wallfahrtskirche zwischen 1476 und 1481 im Langhaus eine verzierte Holztonnendecke, die zu den besterhaltenen gotischen Holzarbeiten der Region gehört. Obwohl die Ausführung äußerst schlicht ist, bewirkt die Deckenform sowie die Ausführung den Eindruck einer Atmosphäre schaffenden

Von Südosten her

Gesamtkomposition des Innenraums. Bis heute haben sich Reste der Verzierung erhalten, auf der Drachen, Blüten und Girlanden zu erkennen sind. In der Mitte der Decke wurde in gotischen Buchstaben 1482 ein sechszeiliges Gebet angebracht. Die halbe Acht war im späten Mittelalter ein Symbol für die Zahl 4.

O maria ein muter der barmhertzikayt

behüt uns vor allem hertzenlayt

und an unserem letzsten ausganck

Thu uns mit deiner gna(d) ein bystant

wider lutzifer und wider die besen find

und behüt vns vor der helle pin

 

An der Südwand des Langhauses finden sich einige künstlerische Zeugnisse des 15. Jahrhunderts. Die steinerne Kanzel aus dem Jahr 1482 stammt vermutlich aus der Hand der Bauschule des Chores und wurde in einem Zuge mit der Baumaßnahme des Chores angefertigt. Beeindruckend sind vor allem die Fischblasenmuster des Geländers.

Östlich des Chores haben sich zudem zwei Wandmalereien erhalten, die im 19. Jahrhundert stark verändert und übermalt wurden. Ihre Ursprünge sind in der Zeit um 1490 bis 1500 zu suchen. Links befindet sich eine Madonna mit Kind, die auf einer Mondsichel steht. Dieses große Wandgemälde ist sicherlich in Zusammenhang mit dem Patrozinium „zur Jungfrau Maria“ zu sehen. Rechts befindet sich eine Darstellung der heiligen Barbara mit dem Turm. Ihr Erhaltungsgrad ist unglücklicherweise sehr gering und wurde durch die frühen Restaurierungsmaßnahmen nicht unbedingt verbessert.

Während des pfälzischen Erbfolgekrieges wurden große Teile der Altäre 1693 zerstört. Weitere Beschädigungen wurden im Zuge einer größeren Reparatur in den Jahren 1696 und 1697 durchgeführt, wobei auch das Dach in Teilen erneuert wurde. Auch die napoleonischen Koalitionskriege gingen an der Liebfrauenkirche nicht spurlos vorbei. 1794 wurden österreichische Soldaten einquartiert, die in der Kirche ein Munitionsdepot einrichteten. Zwei Jahre später zogen diese ab und zerstörten das Chorgestühl sowie die Reste der mittelalterlichen Altäre. Hiervon hat sich lediglich eine stark beschädigte Pieta erhalten. Eine letzte bauliche Veränderung brachte ein starkes Gewitter im Jahr 1930, infolge dessen der Dachreiter wieder errichtet wurde.

Die Liebfrauenkirche in Lienzingen ist ein herausragendes Beispiel für die Bedeutung der Wallfahrt im Nordschwarzwald. Ihre Baugeschichte, angefangen mit einer schlichten Langhausarchitektur bis hin zur außergewöhnlichen Chorerweiterung, illustriert die Rolle der Wallfahrt für künstlerische und architektonische Aufträge in sakralen Gebäuden im Spätmittelalter. Erst die Wallfahrt brachte der Kirche das nötige Geld zur Erweiterung ein. Dieses Geld wiederum ermöglichte künstlerische Glanzleistungen, die in Details wie der Dachverzierung, der Kanzel oder den Schlusssteinen im Chor zum Ausdruck kommen.

(Ein Beitrag als Versucherle auf die im J.S.Klotz-Verlagshaus erscheinenden Ortsführer von Lienzingen)

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