Herr P. und der Zittermann

Die Diagnose ist eindeutig und „Herr P.“, wie Jürgen Mette die Krankheit nennt, ist von sofort an Teil seines Lebens. Er schreibt auf 190 Seiten von der unheimlichen Begegnung mit P. Von dem  unerwünschten Gast, der sich Zugang erschlichen habe zum Steuerungssystem für Gehirn und Muskeln. Aber zum Prozessor hat er keinen Zugang. Trotzdem: P. übernimmt klammheimlich die Regie über mein Leben, so der Theologe ganz offen in seinem Buch Alles außer Mikado

P. werde wohl lange bleiben. P. steht  für ein Gespenst: Morbus Parkinson ist eine chronische neurologische Erkrankung, die zunehmend früher auftritt. Bis jetzt nicht heilbar, bleibt sie wirklich lange. Bis zum Ende. Das kann depressiv machen.

Jürgen Mette

Autor und Pfarrer, zudem gelernter Zimmermann: Jürgen Mette kommt auch aus dem Mediengeschäft. Er war geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien. Der jetzt 68-Jährige schreibt und predigt so, dass er verstanden wird. Reich an Sprachbildern ist die Schilderung seines Lebens mit Parkinson, die 2013 erschien und inzwischen schon in der siebten Auflage noch immer neue Leser findet. Wie mich. Meine  frühere Gemeinderatskollegin und Erfinderin der Lienzinger Weihnachtsgaden, Ursula Stierle,drückte den Band mir kürzlich in die Hand mit der Bemerkung: Das wollte ich Dir schon lange geben…  

Auch wenn der Autor bei Herrn P. bleibt und dies durchhält von der ersten bis zur letzten Seite, nennt er ihn einen Fremden, ja einen Mietnomaden, der sich in seinem Kopf gratis eingemietet hat, Durcheinander im Bewegungsapparat anrichtet und so tut als sei er der Eigentümer. P. ich hasse dich! Und ich werde dich täglich verachten. 

Der Theologe, der sich auch schon mal augenzwinkernd Zittermann nennt,  nimmt den Leser in seinem Buch mit auf eine Reise durch die Höhen und Tiefen und gibt bewegende Einsichten darüber weiter, was nach seiner Meinung im Leben wirklich trägt und zählt. 

Die Reise beginnt vor gut zehn Jahren bei Dreharbeiten auf der Wartburg in Eisenach für eine zwölfteilige Gesprächsreihe mit Jürgen Mette als Moderator. Die erste Hälfte ist im Kasten. Warum zittere ich eigentlich, fragt er sich. Er ahnt, dass es nicht an Wärme in der Burg mangelt. Dass seine linke Hand zittert, ist nicht mehr zu verbergen. Meine Muskeln machen sich selbstständig.  Galgenhumor schwingt mit: Wer braucht die zusätzliche Fähigkeit, am ganzen Leib zu zittern? Es gebe keinen Schalter im Hirn, um das abzustellen. 

Tremor? Nie gehört!

Tremor, das Zittern. Dopamin, einer der wichtigsten Botenstoffe, das im Gehirn produziert wird, fällt aus, muss durch Medikamente nachgeliefert werden. Doch das Original ist weitaus besser als die Aushilfslösung. Folge:  Blockaden entstehen, der Mensch hat seinen Bewegungsapparat nicht immer  im Griff. Die Diagnose 2009 bei Jürgen Mette: Parkinson.  Der Diagnose ist nicht befreiend, sondern belastet. In der Phase der Schwermut erweise sich Musik als Heilmittel, besonders die Passionen und Oratorien von Johann Sebastian Bach. P. verstehe von Musik nichts, rein gar nichts.

Erfahrungen mit P. niederschreiben als  Ermutigungsbuch, das ist ihm gelungen, auch durch eine ganz unerwartete Einlage. Die besonders Auseinandersetzung der Geschichte von Hiob, Nachdenkliches dazu in vier Kapiteln zur Frage: Weshalb gerade ich? Er wolle gar nicht überzeugen. Aber er wolle bezeugen, dass die Krise das Klima ist, in dem der Glaube keimen, wachsen und Früchte bringen kann. Obwohl die Krankheit den Alltag von Jürgen Mette immer mehr prägt, verliert er seinen Lebensmut nicht: Ich glaube, dass ich trotz Parkinson vielleicht die beste Zeit meines Lebens vor mir habe. Nach der Diagnose der Trost: Johannes Paul II versah sein Amt als Papst trotz der Belastungen durch Parkinson Gott ergeben bis zum sterblichen Ende. 

Mettes Erfahrungen sind nicht nett. Die Stimme wird leise und brüchig, er zittert jeder Predigt entgegen: Gelingt es oder gelingt es nicht? Zaghafter, zerbrechlicher, nicht mehr so formvollendet, nennt er den für ihn neuen Zustand. Handschriftliche Notizen sind plötzlich unleserlich, das Riechvermögen geht weitgehend verloren. Der Bewegungsapparat gehorcht nicht immer. Er fühlt sich beobachtet, wenn er sein Gewicht schwankend ausbalancieren muss, dann das typische Schlurfen beim Gehen, der Verlust an Kraft. Ein tägliches Auf und Ab. Plötzlich schlottern die Knie, obwohl er doch locker erzählen wollte - nichts ist dann mit locker.

Er schämt sich, geniert sich. Hektik und Zeitdruck befördern die Tremor-Symptome. Deshalb gilt, sich selbst zu ermahnen, sich mehr Zeit zu lassen, dem Terminkalender Luft zu geben. P. macht einen zum Pillenschlucker,  um den Krankheitsverlauf wenigstens  zu bremsen.

Eine Krankheit mit Variationen, Krankheitsverläufe sind verschieden. Tremor, der Zitterer, oder Rigor, der Muskelstarre. Akinese, das mit dem maskenhaften Gesicht. Und dann Freezing als Folge: Der Mensch steht wie eingefroren auf der Stelle und kann sich für einen Moment nicht bewegen. Jürgen Mette lernte, solch Ungemach auch von der heiteren Seite zu nehmen. Es werde sich dann schon jemand finden, der ihn auftaue, schreibt er. Und dann verliert sich die Vollautomatik des Körpers: Wir geben den Armen keine Befehle, beim Laufen zu schlenkern. Das läuft automatisch ab. Nicht so bei P.: Dazu braucht es einer gesonderten Anweisung aus dem Gehirn. Genauso wie die Selbstermahnung zu großen Schritten statt des Schlurfens, das zur Gewohnheit zu werden droht. Mit den Armen nicht mehr automatisch zu schlenkern, ist für Fachleute ein erster Hinweis auf Parkinson.

Jürgen Mette ging offen mit seiner Krankheit um. Auch in seinem höchst lesenswerten Buch. Es war an der Zeit, so seine frühzeitige Erkenntnis, die Wahrheit zu sagen: Ich habe Parkinson.

Ich auch. Aber die Variante Rigor.  Meinem Orthopäden fiel es auf, als ich wegen Rückenschmerzen in seine Sprechstunde kam. Muskelsteifheit ist häufig mit Rückenschmerzen oder auch mit ziehenden Schmerzen im Schulter-Arm-Bereich verbunden. Waren Sie schon einmal beim Neurologen? Nein! Also überwies er mich an seinen Kollegen vom anderen Fach in Bretten. Dabei gab es Vorboten. Nicht nur meine Chefredakteurin, sondern auch Kollegen in Gremien, fragten: Ist alles in Ordnung? Meine Bewegungen seien erkennbar langsamer geworden. Im Brustton der Überzeugung meine stereotype Antwort: Alles in Ordnung! 

Doch ich begann, mich selbst zu beobachten, merkte, wie ich öfters Treppen merkbar langsamer hoch stieg. Ausgerechnet in dieser Zeit hatte ich begonnen, mit dem Zug statt wie zuvor 44 Jahre lang mit dem eigenen Auto zur  Redaktion nach Ludwigsburg zu fahren. Weil die firmeneigenen Parkplätze wegen der Sanierung des Parkhauses weggefallen waren. Der Weg vom Bahnhof zur Körnerstraße fühlte sich länger an, der vom Bahnsteig in Mühlacker zum Parkplatz am Lienzinger Tor ebenfalls. 

Nach dem Kreisfeuerwehrverbandstag Enzkreis in Kämpfelbach - selbst gestellte Pflicht für einen Fraktionsvorsitzenden im Kreistag wie mich - stürzte ich an einem April-Abend 2014 beim Verlassen der Gemeindehalle höchst unglücklich. Dabei war es noch hell. Der damaligen Sternenfelser Bürgermeisterin Sigrid Hornauer bin ich heute noch für die Hilfe beim Aufstehen dankbar. Blutige Hand, blutende Nase, zum Glück blieb die Brille heil. Vergeblich schaute ich mich nach dem Stolperstein um – es war keiner da. Tage danach ein Sturz in der Bahnunterführung in Bietigheim.

Das Gute: Seit der Parkinson-Behandlung bin ich sturzlos. 

Meine eigene Handschrift konnte ich kaum noch lesen, so dass ich meine Notizen bei beruflichen Terminen sicherheitshalber ins Tablett tippe – ich hatte allerdings schon immer eine Sauklaue. 

Der Geist ist topfit, sagte ich mir und arbeitete nach der Diagnose, versehen mit Therapieterminen, weiter mit vollem Tempo. Nichtsdestotrotz: Hemden zuzuknöpfen fiel immer schwerer und nervte fast jedes Mal. Heute noch weitaus mehr. Knapp in der Zeit zu sein, lässt Herrn P. einen Punktsieg davon tragen. Beim Ankleiden ebenso. Also lieber T-Shirt tragen. Manchmal ein Zittern im linken Bein in einer Sitzung –  Diskussionsbeiträge waren schon runder. Leiser und monotoner die Sprache. Ich denke, ich spräche laut genug – dann offenbar nicht, wenn jemand, selbst in der Familie, mir extra sein Ohr zuwendet oder näher kommt, um besser zu hören. Also doch lauter, aber nur nicht schreien. Typisch auch ein verlangsamtes oder aber auch überhastetes Sprechtempo, bei dem die Pausen und Übergänge zwischen einzelnen Worten undeutlich und verwaschen sind.  Blockaden aus Angst vor Blockaden. Hier arbeite ich noch an mir.

Ach ja, wenn ich müde bin, stehe ich schräg, verfalle einem Rechtsdrall, was keineswegs politisch zu verstehen ist. Dagegen hilft: Den Körper in die Gerade schieben, aufrecht stehen, das Kinn leicht nach oben und die beiden Schulterblätter gegeneinander drücken. Doch nicht immer denke ich daran und - zugegeben - fällt es mir auch manchmal schwer. Als ich kürzlich nach einer frühabendlichen Sitzung des Aufsichtsrats der Regionalen Kliniken Holding (RKH) müde vor dem Ludwigsburger Forum so schäps an jüngeren Mitarbeiterinnen der Holding vorbei schob, schämte ich mich. Mann ist dann auch noch eitel, obwohl diese dies wahrscheinlich nicht wahrgenommen haben. Der Glotz-Effekt ist seltener als man selbst denkt. Ich erinnere mich selbst daran, dass andere Parkinson-Erkrankte weitaus körperlich schlechter dran sind. Zu dieser wichtigen Erkennntnis verhalfen mir 2018 insgesamt 16 Tage in der Spezialklinik in Wolfach. 

Den Herr P. werde ich zwar nicht mehr los, kann ihn aber in seine Schranken verweisen, so auch durch eine Ladung vieler bunter Smarties – nein, nicht den echten, sondern in Form keineswegs so gut schmeckender Pillen. In vier Raten täglich, zu festgeschriebenen Zeiten, für die ich einen Wecker im Handy programmierte. Doch manchmal schlägt der Alarm und ich habe dieses vierteilige Arzneidöschen nicht bei mir. Ein Augenblickserfolg für P.  Und das muss nicht sein.

Jürgen Mette beschreibt es im Kapitel 21: Einsichten und Aussichten. Wenn ihn eine Anfrage erreiche, falle seine Antwort immer dreifach aus: - Gern, - So Gott will, - Falls Herr Parkinson nichts dagegen hat. Und, füge ich hinzu, wenn es nicht zu heiß ist.

Nach zwei Tagen 190 Seiten Jürgen Mette. 190 Seiten mit den gesammelten Erfahrungen, die teilweise an meine eigenen erinnere. Ein Buch zur Ermutigung. Eine Einschränkung: Parki als Kürzel. Erinnert mich dann doch zu sehr an einen Parka. Und damit an ein Kleidungsstück. Und das ist P. wirklich nicht.

Das Buch:

Jürgen Mette, Alles außer Mikado, ISBN Nr. 816762 · Gebunden, 192 Seiten · 01/2013 · Gerth Medien

 

 

 

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