Wohnungsnot und Zwangseinweisung: Otto Schneider tobte und Hilde Geißler räumte das letzte Zimmer frei

Sieben Bände: Lienzinger Ratsprotokolle von 1925 bis 1975. Ein halbes Jahrhundert Geschichte, verwahrt im Stadtarchiv Mühlacker. Aus diesem Fundus entsteht die Blog-Serie Lienzinger Geschichte(n). Ein Schwerpunkt in den Jahren nach 1945 die Wohnungsnot sowie die Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen. (Foto: Günter Bächle)

Wohnungsmangel: Das Problem Nummer 1 in der Nachkriegszeit. Ein Problem, mit dem sich Richard Allmendinger, seit November 1947 Bürgermeister der 1000-Einwohner-Gemeinde Lienzingen, allein gelassen fühlte. Nicht nur musste vielen erst einmal ein Dach überm Kopf zugewiesen werden. Selbst der kleinste Gebrauchsgegenstand war bewirtschaftet, wurde amtlich zugeteilt. Ausschüsse für diese Aufgabe bildete der Gemeinderat. Doch weil die Arbeit unpopulär war, fanden sich nach kurzer Zeit im Rat keine Mitarbeiter mehr, die Zuweisungen vornahmen. Sie blieben letztlich am Schultes hängen, erinnerte er sich in dem Kapitel, das er zum 1970 erschienenen ersten Ortsbuch von Lienzingen - jenem mit dem kräftig roten Einband - schrieb.


Lienzinger Geschichte(n): Ein neues Kapitel, aber in drei Teilen, in der Blog-Serie über die Zeit, als noch Bürgermeister Richard Allmendinger im Rathaus regierte.  Wohnraumnot. Gemeinderäte, die sich um die unpopuläre Zuweisung von Wohnraum drückten, obwohl immer mehr Flüchtlinge kamen. Von einer Wohnbaracke und schnellen Baugenehmigungen.


Flüchtlinge mussten aufgenommen werden, die Zuweisungen schienen kein Ende zu nehmen. Jeder nur verfügbare Raum sei mit Menschen aus Ost- oder Südosteuropa belegt gewesen. Ungute Verhältnisse seien dadurch entstanden. Das Zusammenleben auf engstem Raum habe Belastungen mit sich gebracht, die nur schwerlich zu beseitigen gewesen seien, erinnerte sich der Bürgermeister (in: Friedrich Wißmann, Ortsbuch Lienzingen, 1970, Walter-Verlag, S. 324).

Durchgangslager Friedland 1953: Zwischenstation für Vertriebene und Flüchtlinge (Foto: bpa)

Durchschnittlich 18 Prozent der Einwohner im Land Württemberg-Baden, das aus dem Norden Württembergs und Badens bestand, sowie im Kreis Vaihingen waren Flüchtlinge und Heimatvertriebene, wie die Volkszählung 1950 ergab, auf die sich in seinem Beitrag zum zweiten Ortsbuch der Historiker Konrad Dussel stützte. Doch Lienzingen hatte 24 Prozent - 241 von 1000 brachte just diese Volkszählung als Ergebnis. Tatsächlich lag der Anteil noch höher.  Dussel wertete die Namenslisten aus. Das Resultat: 135 Familien mit insgesamt 367 Personen. Somit betrug der Anteil von Flüchtlingen und Vertriebenen im Dorf mindestens 30 Prozent (Konrad Dussel, Lienzingen - Altes Haufendorf, moderne Gemeinde, 2016, Verlag Regionalkultur, S. 193 ff).

  • Otto Schneider: Grundstücke gegen Zwangszuweisung oder Wer begütert war, hatte es leichter

Dass Zwangsbewirtschaftung und -zuweisung von Wohnraum seltsame Blüten treiben konnte, zeigte sich im Dezember 1948. Auf Anordnung des Staatsbeauftragten für das Flüchtlingswesen musste der Landkreis Vaihingen an der Enz zusätzliche Familien aufnehmen. Bei der anschließenden Verteilung auf die einzelnen Kreisgemeinden berücksichtigte das Landratsamt zunächst, wo sich schon Angehörige oder Verwandte der weiteren Flüchtlinge befanden. Also wurden sie dieser Kommune zugewiesen. Lienzingen musste vier Personen unterbringen. Bürgermeister Allmendinger stand unter riesigem Druck: Kein einziger Raum war mehr frei. Deshalb ordnete er die zwangsweise Unterbringung der Flüchtlinge in zwei Räumen des Hauses von Dr. Otto Schneider an.

Doch der prominente und begüterte Lienzinger tobte und wehrte sich heftig. Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 16. Dezember 1948 liest sich die weitere Geschichte so:  Daraufhin führte Dr. Schneider bei allen möglichen übergeordneten Stellen Beschwerde. Als letzterer einsah, dass seine Beschwerdeführung sich als grundsätzlich haltlos erwies, bot er der Gemeinde eines seiner Grundstücke als Schenkung an. Vorausgesetzt, sie verzichte auf die Beschlagnahme seines Wohn- und Schlafzimmers. Nun geriet der Bürgermeister in einen Gewissenskonflikt. Einerseits wollte er nicht den Eindruck entstehen lassen, da werde nur deshalb jemand anders und besser behandelt, weil er vermögend ist, andererseits lockte bei dem Pragmatiker doch zu sehr die Aussicht auf künftiges Bauland für die Gemeinde, dessen Bedarf ebenfalls dringend war. Das Problem: Kein Zimmer war frei! Oder doch?  Man müsse sich schon überlegen, sagte er in der Sitzung, ob das Anerbieten des Dr. Schneider nicht doch der bessere Weg wäre für die Gemeinde. Deshalb sei es notwendig, ein geeignetes Zimmer ausfindig zu machen, aber des werde sehr schwierig sein.

  • Gemeinderäte Bonnet und Häcker fanden Ersatzunterkunft für vier zugewiesene Flüchtlinge

Der Gemeinderat vertagte das Thema auf den folgenden Tag. In der Zwischenzeit bemühten sich die Gemeinderäte Erwin Bonnet und Fritz Häcker, eine Ersatzunterkunft für diese Flüchtlinge zu finden. Und das gelang auch. Hilde Geißler - sie wohnte im Obergeschoss des heutigen Nachtwächters - machte ein Zimmer frei. Gleichzeitig erklärte sich Schneider bereit, seine Grundstücke beim Schafhaus und in den Hayengärten an die Gemeinde kaufweise abzutreten, zusätzlich zu der von ihm beabsichtigten Schenkung eines seiner Grundstücke. Also beschloss der Gemeinderat am 17. Dezember 1948, auf die Beschlagnahme des von Schneider selbst bewohnten Zimmers zu verzichten, machte aber zur Bedingung ein Entgegenkommen in der Grundstücksangelegenheit. Der Freikauf Schneiders gelang! Ein leicht anrüchiger Tausch, zumal es in den Protokollen der folgenden Ratssitzungen keine Hinweise gibt, dass Otto Schneider ein Grundstück der Gemeinde tatsächlich schenkte. Nach seinem Tod 1952 verkauften seine Erben fast ihren gesamten Immobilien- und Landbesitz in Lienzingen der  Kommune, die einen Tel weiterveräußerte und dabei einen Gewinn von mehr als 18.000 Mark machte - sehr zum Ärger der Erben (STAM, Li B 323, S. 131 ff).

  • Fünf Familien wollten bauen, doch staatlicher Zuschuss reichte nicht mal für zwei Häuser

Von einer wesentlichen Linderung der Wohnungsnot könne nicht gesprochen werden, sagte das Ortsoberhaupt am 5. Februar 1950 den Bürgervertretern. Er schlug vor, die gesamte Einwohnerschaft zur Zeichnung von Bausteinen aufzufordern und mit diesen Geldern ein Zweifamilienhaus zu errichten. Die künftigen Mieter sollten bei diesem Projekt Arbeitseinsätze leisten (STAM, Li B 324, S. 9). Wie die erhoffte staatliche Unterstützung konkret ausfiel, machte Allmendinger in der Sitzung am 31. März 1950 zur Enttäuschung aller deutlich. Nach einem Erlass des Landratsamtes Vaihingen könne Lienzingen mit 4700 Mark für private Bauherren rechnen. Fünf Familien in der Gemeinde warteten auf einen Zuschuss. Die Verteilung sei äußerst schwierig, denn das Geld reiche kaum für zwei Bauten - der Rat empfahl, die Betroffenen einzuladen und mit ihnen zusammen eine tragbare Lösung zu veranlassen (STAM, Li B 324, S. 18).

Der Wegfall der Zwangsbewirtschaftung zeichnete sich im Frühjahr 1950 ab. Doch der Wohnraummangel endete damit nicht. Die Wohnungsnot bedeutet für den Bürgermeister nach wie vor eine große Belastung, die wohl am meisten unliebsame Folgen mit sich bringt, schreibt Allmendinger in das Protokoll der Ratssitzung vom 19. Dezember 1950. Sobald auch nur die geringste Hoffnung aufs Freiwerden einer Wohnung besteht, laufen sämtliche Wohnungssuchende aufs Rathaus. Man weiß bald nicht, welcher Fall der dringendste ist und man kommt bald in die größten Schwierigkeiten. Er nannte konkret fünf Familien, die auf eine ausreichende Unterkunft hofften. Die noch neue Baugemeinschaft der Neubürger brachte wohl auch nicht den erwünschten Erfolg, sie sei finanziell noch schwach, könne gerade ein Wohnhaus errichten, dies aber auch nur mit Unterstützung der Gemeinde. Diese wiederum wurde auch mit anderen Fordeungen konfrontiert - Allmendinger nannte den Wunsch nach dem Bau einer Kleinkinderschule (STAM, Li B 324, S. 53).

  • Ausschuss brachte nichts, musste aber gebildet werden
Der Gemeinderat stimmte zu: Gedenkkreuz von Rudolf und Emma Carda 1953 an der Außenwand der Lienzinger Frauenkirche angebracht. Es soll an die alte Heimat Südmähren erinnern (Foto: Günter Bächle)

Das Gemeinderat, im Dezember 1947 gewählt, setzte drei, jeweils dreiköpfige Ausschüsse ein: je einen für Wohnungsangelegenheiten, Schuhverteilung sowie einen für Spinnstoffe und Möbelverteilung – allesamt Folgen der Zwangsbewirtschaftung. Doch Allmendinger hatte sich davon mehr versprochen. Nur unter Druck blieben die Gremien. Denn das Landratsamt Vaihingen ordnete an, der Gemeinderat müsse auf jeden Fall einen Wohnungsausschuss bilden. Nachdem das Ortsparlament dies am 5. April 1951 abgelehnt hatte, weil bei den Sitzungen nichts herausgekommen sei und der Bürgermeister alles habe selbst machen müssen, holte das Gremium dies am 1. Juni nach. Es berief zu Mitgliedern Maurer Adolf Mamber, Bundesbahnsekretär Emil Hafner, Hans Vallon, Pauline Bopp und Maurer Franz Zach (STAM, Li B 324, S. 82).

  • Bis Februar 1951 entstanden 18 Wohnungen

Mangelverwaltung pur. Der Bürgermeister hatte eine Herkulesaufgabe zu bewältigen. Bei der Sitzung am 15. Februar 1951, als er die am 28. Januar 1951 gewählten neuen Gemeinderäte verpflichtete und die ausgeschiedenen verabschiedete, zog er eine erste Zwischenbilanz. Bis dato entstanden 18 Wohnungen, einschließlich derjenigen, die die Kommune selbst errichtete, sagte Allmendinger (STAM, Li B 324, S. 58 f). Letzteres war ein Zwei-Familien-Haus an der Brühlstraße 190 (heute Nummer 14) und die Aufstockung des früheren Armenhauses in der Hauptstraße 66 (heute Friedenstraße 24). Zudem errichtete die Kommune eine Holzbaracke für Flüchtlingsfamilien bei der heutigen Gärtnerei Mannhardt.

Immer wieder folgten neue Aufgaben. So hatte das Ministerium für Heimatvertriebene den Landkreisen 2000 Flüchtlinge zur Entlastung der Durchgangslager zugewiesen, der Kreis Vaihingen musste davon 100 unterbringen, von denen wiederum Lienzingen zwei. Selbst deren Unterbringung dürfte sehr schwierig sein, protokollierte der Bürgermeister über die Ratssitzung vom 13. April 1953, da der Ort bereits bis zur Unerträglichkeit Flüchtlinge aufgenommen habe. Man beanspruche gerade schon das letzte beschlagnahmte Zimmer (STAM, Li B 324, S.163). Unter anderem im Rathaussaal lebten 1948 zwei Flüchtlingsfamilien. (Althap und Schwarz). Ihre Umquartierung in Wohnräume war bisher nicht möglich, steht in der Niederschrift über die Ratssitzung am 14. Januar 1948. Die Räte beschlossen, vom Januar 1948 an 10 Mark monatlicher Miete zu verlangen. Im Sommer des selben Jahres war der Saal wieder frei (STAM, Li B 323, S. 58).

  • Zunächst Zwei-Wege-Strategie, dann nur noch ein Weg

Gemeinderat und Bürgermeister machten die Zwei-Wege- zur Ein-Weg-Strategie. Jedenfalls stand für die Kommune nach all diesen Erfahrungen schon zu Beginn der fünfziger Jahre fest: Eigene Mietshäuser zu bauen, war aus finanziellen Gründen klare Grenzen gesetzt (vom Ärger ganz abgesehen). Zunächst eine Strategie der zwei Wege entwickelten Bürgermeister und seine Gemeinderäte: Als Kommune selbst bauen, gleichzeitig aber die privaten Häuslesbauer zu unterstützen. Schließlich blieb nach 1952 der zweite der noch einzige Weg: Bauland ausweisen und helfen, die Menschen in Wohneigentum zu bringen.

Bürgermeister Richard Allmendinger mit Frau Elsa bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde im Mai 1975. Damit wurden auch seine Verdienste für die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge gewürdigt (Foto: STAM, W Barth MT).

Überraschend erklärte der Bürgermeister in der Ratssitzung vom 27. Oktober 1954 die Wohnungsnot für beendet - kein ernster Wohnungsfall warte mehr auf die Erledigung. Allmendinger dachte nun an die Refinanzierung. Die Gemeinde habe beträchtliche Gelder in Erschließung von Baugelände, in den Bau neuer Straße, in Kanalisation, Wasserleitungsnetz und Wohnungen gesteckt, ohne die Bauenden an den Kosten zu beteiligen.  Konkret beschloss das Gremium, für die neuen Wasserleitungen eine einmalige Gebühr zu verlangen, für Straßen und Gehweg ein Drittel der Kosten umzulegen. Die Regelung sollte angewandt werden für alle Bauten nach dem 1. Januar 1955 (STAM, Li B 324, 241 f).

Hierzu gesonderte Blog-Beiträge zu

Weg 1: Die Gemeinde Lienzingen baute selbst. Ein Haus, stockte ein Gemeindehaus auf und stellte dann noch eine Holzbaracke  auf eine Fläche in der Nähe der Pumpstation in der Wette

Weg 2: Die Gemeinde setzt sich für Häuslesbauer ein - sowohl durch die Bereitstellung von Bauplätzen und finanziellen Hilfen.

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