„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“

"Außer Corona gibt es auch noch Friede und Freude in Gottes freier Natur."

Nach der Krise wird es nicht mehr so sein wie vor der Krise. Ein beliebter Satz, immer wieder aufpoliert. Die Worte fallen einem ein bei der weltweiten Inflation des  Corona-Virus. Wir kennen sie. Sie wiederholen sich. Die Menschen hörten diese Ankündigung  auch in der weltweiten Finanzkrise 2008/2009.

Als sich zeigte, dass den Zeitungen die Abonnenten wegbrechen und keine packende Gegenstrategie zu erkennen war, begann auch der Verleger der Tageszeitung damit seinerzeit seine Rede in der Betriebsversammlung. Quasi als ummäntelte  Aufforderung, sich rechtzeitig an den Abbau von Wohlstand zu gewöhnen. Deregulierung, Kürzungen bei den Tarifverträgen, Stellenabau - die Begründung für Sozialabbau. Die Botschaft: Nach der Krise werden viele weniger erhalten. Schon fällt der Satz in der aktuellen Corona-Krise. Vorbereitung auf Einschnitte, die dann doch nicht kommen?

Stimmt: Schon verändert sich manches. Vielfältig. Zum Glück, nicht unbedingt zum Schlechteren. Das Vertrauen in die Bundesregierung, in die Kanzlerin, in die CDU, in Spahn, ja selbst in Söder wächst sprunghaft. Die Verkünder der Merkeldämmerung sind stumm geworden. Ist ja durchaus berechtigt: Politiker, die handeln und nicht lange diskutieren, wenn schwere Zeiten am Horizont aufziehen, schätzt der Wähler. Merkel könnte 2021 wieder antreten. Wäre mir ganz lieb, denn sie schafft Vertrauen, beruhigt, nimmt Stress weg. Der Merkel-Effekt ist ein Vertrauenseffekt.

Kehrtwende

Einen solchen erleben auch die Tageszeitungen. Nicht mehr das Geschimpfe von der Lügen-Presse, der sture Glauben an die Meldungen in den sozialen Medien, die sich als Fake-News erweisen,  bestimmen das Bild - in einer Krisenzeit suchen die Menschen nach Verlässlichkeit, wollen Vertrauen. Selbst Trump wird immer häufiger eingeholt von den Realitäten, die seine eigenen Wahrheiten als Lügen entlarven.

Von der Krise profitieren auch die Tageszeitungen. Corona-Pandemie steigert das Bedürfnis nach vertrauenswürdigen Informationen, meldet der Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV). Schließlich geht es um einen selbst. In der vergangenen Woche (16.-22.03.) haben demnach mehr als zwei Drittel (67,1 Prozent) der deutschsprachigen Bevölkerung  von  16 Jahren an auf die Informationsangebote der Zeitungen im Web zugegriffen. Ende Januar lag die wöchentliche Reichweite noch bei 50,1 Prozent, das bedeutet ein Plus von 34 Prozent, zeigt eine aktuelle ZMG-Auswertung der AGOF daily digital facts.

Gerade regionale Nachrichten und Informationen zur Situation in der Heimat erweisen sich für die Menschen im Moment essenziell. Das dokumentieren auch die erheblich gestiegenen Zugriffe auf die Webseiten der regionalen Abonnementzeitungen. Sie sind das am stärksten nachgefragte digitale Zeitungsangebot und erreichten in der vergangenen Woche 57,3 Prozent der Bevölkerung. Das entspricht 39,4 Millionen Nutzern und einem Zuwachs von 52,8 Prozent seit Januar. - Update 20. Mai 2020

Mein Herz als gelernter und überzeugter  Lokaljournalist schlägt bei diesen Werten höher: Die Menschen wollen seriöse, glaubwürdige Information und Orientierung. Auch die Jungen. Eine Pseudo-Welt hilft nicht.

Nach der Krise wird es nicht mehr so sein wie vor der Krise. Wir lernen für uns neue Techniken, die unser Leben erleichtern können. Der Trend zu digitalen Zeitungen wird sich verstärken genauso wie der Einsatz von Telefonkonferenzen auch durch kommunale Entscheidungsträger. Keine Fahrzeiten, kein langes Warten, sparsamer mit der Zeit. Was in Wirtschaft und großer Politik gang und gäbe ist, entdecken jetzt auch die lokalen Verwaltungen, Parteien, Fraktionen, die bisher glaubten, auf solchen Schnickschnack verzichten zu können. Heutzutage notgedrungen eingesetzt, um das kommunalpolitische Leben nicht völlig zum Erliegen zu bringen, weil alle Sitzungstermine gestrichen worden sind, werden die Vorteile allmählich deutlich. Das wird nachwirken, wird Alltag.

Meine erste TeKo jüngst bei der Kreis-CDU, am nächsten Montagnachmittag konferieren von verschiedenen Orten aus der Landrat und die Vorsitzenden der Kreistagsfraktionen in einem virtuellen Raum. Via App auf dem I-Pad. Die Zeit der elektronischen Alternativen. Ein Kollege aus Keltern schrieb gestern: Im Gemeinderat hatten wir diese Woche eine Online-Fraktionssitzung über WhatsApp - wäre vielleicht auch etwas für die Kreistagsfraktion, falls das ganze länger geht.

Der Landtag muss die Gemeinde- und Landkreis-Ordnung  nach der Krise den dabei erlebten Erfahrungen anpassen, zum Beispiel auch elektronische Abstimmungen nicht nur zu Randthemen zulassen und ausbauen. Heute schon ginge mehr, wenn Verwaltungen und Räte nicht lange die alten Strukturen gepflegt hätten nach dem Motto: Das haben wir schon immer so gemacht. Man muss nur wollen und die neue Wege auch erproben - derzeit wird sanft nachgeholfen durch die Absagewelle von Sitzungen. Die Corona-Pandemie sei eine noch nie dagewesene Herausforderung für das Gemeinwesen und erfordere ein flexibles Handeln der Verwaltung und des Gemeinderats, sagt Bürgermeister Matthias Leyn (CDU). Unaufschiebbare Entscheidungen müssten getroffen werden, damit die Gemeinde handlungsfähig bleibe. Der Verwaltungschef von Schömberg im Kreis Calw sagte eine reale Gemeinderatssitzung ab und verlegte sie ins Netz. Die zu verhandelnden Gegenstände der Tagesordnung werden im Rahmen eines elektronischen Verfahrens behandelt und beschlossen, teilte die Gemeinde mit. Aber nicht im Geheimen, denn die Agenda wird öffentlich bekanntgemacht. Wie eine "normale" Sitzung.

Sicherlich wird das nicht die Regel werden, weil Bürger die  Entscheidungsprozesse nachvollziehen wollen und das momentan vor allem  als Zuhörer einer Ratssitzung und somit der O-Töne tun können, verkürzt in den Berichten der lokalen Zeitungen über  die Debatten. Aber wie viele hören zu? Die elektronische Ergänzung: Streaming aus dem Ratssaal. Elektronische Bürgerbefragung per App sind nicht neu, derzeit aber selten. Die Bürger-App Mühlacker ließe dies zu. Ohne Probleme als eigenes Modul. Man muss nur wollen. Aber manche wollten bisher nicht.

Kommunalpolitik wegen des  Coronavirus im Notbetrieb, aber aus der Not lässt sich lernen. Wer es bisher noch nicht rundum online tat, wird nun Gefallen daran finden: am Einkaufen im Netz. Die Zunahme wird noch rasanter, aber nicht nur durch Amazone & Co, sondern auch durch lokale Web-Offerten wie  eine zentrale Mühlacker Online-Handelsplattform, in die Citymanagerin Anna-Maria Fritz knapp 50 Unternehmen eingespielt hat. Eine tolle Sache! Passende Reaktion auf die rasante Veränderung! Gegenstrategie zu den großen Playern,  der Erfolg zu wünschen wird. Denn sonst nehmen die Leerstände in unseren Innenstädten stärker zu, weil es bequem ist, die Waren sich an die Haustür liefern zu lassen. Wer als Anbieter lokal online ist, seinen Umsatz auch damit macht, wird seine Ladenräume in der Innenstadt weiter benötigen, der Laufkundschaft wegen.

Die  Corona-Krise zwingt, öffentliches Leben gegen Null zu fahren. Plötzlich werden Themen und Projekte unwichtig. Prioritäten verschieben sich. Stadthalle? Schulzentrum für 64 Millionen? Klausursitzung? Erstaunlich, wie plötzlich der Dringlichkeitsgrad sinkt, sagte jüngst ein Lokaljournalist. Das Leben ist wichtiger. Von dieser Wertung etwas in die Zeit nach der Krise herüber zu retten, brächte Entschleunigung, weniger Stress, würde das gegenseitige Überbieten in Forderungen reduzieren: Nicht mehr schneller, höher, weiter reduzieren. Auch im Jetzt. Kommentar unter einem Foto der Lienzinger Frauenkirche im Grünen auf meiner Facebookseite: Bilder, die beruhigen, und dem Hinweis, dass es außer Corona auch noch Friede und Freude in Gottes freier Natur gibt.

Ein kurzer elektronischer Brief auf meiner Instagramseite rührt mich, erinnert an die Geborgenheit, die uns Heimat bietet: Bitte appellieren Sie im Gemeinderat daran, dass ein Senderabriss gerade in so emotional schwierigen Zeiten, wie ein Stoß mitten ins Herz von vielen Menschen in Mühlacker ist. Das gilt es zu bedenken. Heimat wird in diesen Tagen zum Schutzraum. Heimat ist wertvoller als Geld.

Nach der Krise ist nicht mehr wie vor der Krise? Papst Franziskus hat die Menschheit angesichts der globalen Corona-Pandemie zu Nächstenliebe und dem Erkennen der wirklichen Prioritäten im Leben aufgerufen. Es sei nicht die Zeit des Urteils Gottes, „sondern unseres Urteils“, sagte Franziskus bei einem eigens anberaumten Gebet auf dem menschenleeren Petersplatz im Regen. Er nennt die Coronavirus-Krise einen Sturm, der sichtbar mache, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen.  Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind, aber zugleich wichtig und notwendig, denn alle sind wir dazu aufgerufen, gemeinsam zu rudern, alle müssen wir uns gegenseitig beistehen. Auf diesem Boot ... befinden wir uns alle.

Nach der Krise ist es nicht mehr wie vor der Krise? Mir ist als Erkenntnis lieber, was Friedrich Hölderlin, der große schwäbische Dichter, dessen 250. Geburtstag wir im Corona-Jahr feiern, schrieb: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Sie machen Mut, die berühmten Verse aus Hölderlins Patmos-Hymne, sie gelten auch in der gegenwärtigen Corona-Lage. Der Dichter habe damit Trost spenden wollen und an die Schönheit der Sprache erinnern wollen, meint Thomas Schmidt, Koordinator der Hölderlin-Veranstaltungen am Literatur-Archiv Marbach die Gedenkveranstaltungen koordiniert.

Sehen wir das Rettende. Und die Dinge, die sich zum Positiven verändern. Wenn nur nicht dieses verdammte Virus wäre.

Friedrich Hölderlin © Pastell von Franz Karl Hiemer, 1792, Zeitgenössische Kopie: Museum im Gotischen Haus

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