Lienzinger Geschichte(n) um die Alte Steige - Bereits1958 ärgert der Schleichverkehr den Gemeinderat

Alte Steige/Schützinger Straße schon vor 60 Jahren ein Problem bei der Gemeinde Lienzingen. Lösung: Lightboys sollen dem Schleichverkehr das Abkürzen verleiten

Als Richard Allmendinger (1910-1992) im Lienzinger Rathaus regierte, da zählte der Gemeinderat zehn Mitglieder. Die sparsam besetzte Verwaltung bestand aus Bürgermeister, Gemeindepfleger, einer Sekretärin, dem Amtsboten und dem Fronmeister. Letzterer war so etwas wie der Bauhof in Person. Und weil das Personal knapp und die Kommune sparsam war, musste der Bürgemeister auch das Protokoll der Ratssitzungen schreiben. Allmendinger tat dies mit Akribie und Können, führte sehr genau das Register. Sechs Bände füllen seine Niederschriften, beginnend 1947 und endend 1975 mit der Zwangseingemeindung nach Mühlacker, in deren Stadtarchiv (STAM) sie inzwischen stehen.

Zuletzt gut 1700 Einwohner
Der Verwaltungsfachmann Allmendinger war der elfte Schultes der Gemeinde Lienzingen seit 1801 (damals etwa 600 Einwohner) und gleichzeitig ihr Letzter. Gut 1700 Menschen lebten in dem Ort im Jahr des vom Landtag angeordneten Verlustes der Unabhängigkeit, heute sind es 2100.

In den Protokollbüchern zu blättern, ähnelt einer Reise durch die Lienzinger Nachkriegsgeschichte. Die großen Themen wie Wohnungsnot, Markungstausch mit Mühlacker, Bau von Schule, Kindergarten und Gemeindehalle mischen sich mit den kleinen Dingen wie dem Verkauf von alten Schulbänken an die Nachbargemeinde Schmie, die Entschädigung für den Farrenhalter, das Pfarrbesoldungsholz und der "unvermutete Kassensturz" im Rathaus. Oder mit Geschichten über Streitfälle und Versöhnungsgesten.

Schleichverkehr seit 60 Jahren
Plötzlich taucht ein Thema auf, das aktuell und einem dadurch bestens bekannt ist, das 1958 den Lienzinger Gemeinderat beschäftigte und heute noch die Stadtverwaltung Mühlacker: Der Schleichverkehr auf der alten Steige, dem Ortsweg Nummer 11, der seit der Eingemeindung 1975 Schützinger Straße heißt. Dass der obere Teil nur frei ist für landwirtschaftliche Fahrzeuge, schert manche Autofahrer nicht. Ich war heute Morgen nur kurz zu Fuß auf der alten Steige, da fuhren zwei Fahrzeuge, eines mit KA und eines mit BB völlig unbeeindruckt und schneller als 30 km/h durch. Ich bin unendlich sauer, schrieb mir ein Anwohner im Juni vorigen Jahres. Immer wieder beschweren sich Bürger über den verbotenen Ausweichverkehr im morgendlichen und abendlichen Berufsverkehr (morgens zwischen 6 und 8 Uhr), durch den die kurvenreiche Landesstraße somit auch "tempohemmende“ Lkws umgangen werden, notierte ich in einer Anfrage an die Stadt.

Schwere Regenfälle
Eine unendliche Geschichte. Sie begann vor über 60 Jahren. Eine Art Déjà-vu-Erlebnis, denn in seiner Sitzung vom 14. November 1958 beriet der Lienzinger Gemeinderat über die Sperrung der alten Steige. Nachdem sie wieder instandgesetzt sei und eine Teerdecke erhalten habe, werde die Straße von auswärtigen Fahrzeugen in zunehmendem Maße befahren, steht im Protokoll. Die Arbeiten waren im Juli 1957 beschlossen worden, nachdem schwere Regenfälle diese Gefällstrecke unterspült hatten (STAM, Li B 325, S.157).

Alte statt neuer Steige

Stufen kaputt: Fußgängerstaffel

Wie mehr als sechs Jahrzehnte später die Antworten im Mühlacker Gemeinderat, liest sich die Begründung von 1958: Die Halter der Fahrzeuge wollen bei Benutzung der alten Steige das Befahren der langen kurvenreichen neuen Steige in Richtung Zaisersweiher vermeiden und kommen dabei auf bequemere Art über den Vicinalweg Nummer 4 auf der Höhe wieder auf die Straße nach Zaisersweiher. Da die alte Steige eine reine Ortsstraße sei und in ihrer Verlängerung, das sogenannte Schützinger Sträßle, ausschließlich der Feldbestellung diene, beantragte der Gemeinderat beim Landratsamt Vaihingen/Enz als zuständiger Verkehrspolizeibehörde, ein "Anlieger frei"-Schild aufstellen zu dürfen (STAM, Li B 325, S.240f).

Das Nein aus Vaihingen
Die Kreisverwaltung lehnte das Ansuchen der Gemeinde ab, wie der Bürgermeister dem Ortsparlament berichtete, als dieses regulär am 16. Juni 1959 im Rathaus tagte. Denn, so das Landratsamt in seiner durchaus ungewöhnlichen Argumentation, durch die Benutzung durch Nichtanlieger werde die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf dieser Wegstrecke nicht beeinträchtigt. Die Räte widersprachen: Der Ortsweg Nr. 11 sei bei der ersten Kurve vom Ort her bis zur Ausfahrt in die Landesstraße nur etwa vier Meter breit, weshalb ein Ausweichen nicht möglich sei. Schließlich sei die neue Steige - die Landesstraße - aus Gründen der Leichtigkeit und Sicherheit gebaut worden, obwohl damals der Kraftfahrverkehr wesentlich geringer gewesen sei. Den nach Zaisersweiher fahrenden Fahrzeugen kann also ohne weiteres zugemutet werden, die gerade für sie gebaute neue Straße zu benutzen. Wobei als Übeltäter besonders Motorradfahrer ausgemacht wurden (STAM, Li B 325, S. 270f).

Schlitzohrig
Die Lienzinger Bürgervertreter akzeptierten murrend das Nein aus der Kreisstadt. Gleichzeitig - schlitzohrig wie sie sein konnten - beauftragten sie den Bürgermeister, festzustellen (...), ob Kraftfahrzeuge ohne Aufstellen  eines entsprechenden Hinweisschildes bestraft werden können, da die öffentlichen Feldwege grundsätzlich nur land- und  forstwirtschaftlichen Zwecken dienen. Das sollte nicht als Lienzinger Landrecht missverstanden werden. Denn die Räte stützten sich auf die Gemeindeverordnung zur Erhaltung der Ordnung und Schutz des Eigentums in der Feldmarkung. Zumindest war ihre Argumentation nicht von der Hand zu weisen. Denn im Protokoll der Ratssitzung vom 11. August 1961 ist zu lesen, die Forstdirektion sei bereit, die Hälfte der mutmaßlichen Unterhaltungskosten für das Schützinger Sträßle von 660 Mark für 1961 zu übernehmen., was der Gemeinderat mit Befriedigung zur Kenntnis nahm. Ein Indiz, dass zumindest dieses Sträßle nur für Land- und Forstwirtschaft gedacht war (STAM, Li B 326, S.101).

Landesstraße 1134: die obere Kurve

Lightboys als Bremse
Der Schleichverkehr blieb auch nach der Eingemeindung ein ständiges Thema. Die Stadt bekam das Problem genausowenig in Griff wie zuvor die Gemeinde Lienzingen. Immer wieder meine Eingaben als Stadtrat an den OB, unter anderem 2004, 2014 und 2019. Die Antworten gleichen sich: Die Mitarbeiter des Vollzugsdienstes seien noch einmal angewiesen worden, die Schützinger Straße in nächster Zeit zu den Stoßzeiten morgens und abends besonders zu beobachten und Verstöße zu ahnden. Die  bisherigen Überwachungen hätten auch zu einer ganzen Anzahl von Anzeigen geführt. Immerhin führte meine Anfrage vom Sommer 2019 dazu, die Durchfahrt etwas unattraktiver zu machen - das Ordnungsamt ließ Lightboys unterhalb der Fußgängerstaffel montieren. Letztlich siegt immer wieder die Hoffnung mancher Zeitgenossen, durch eine vermeintliche Abkürzung ein oder zwei Minuten einsparen zu können  - so war's 1958, so  ist's 2020.

Frist gesetzt
Noch ein Punkt, allerdings in der Ratssitzung vom 2. Dezember 1955 behandelt: Der vor Monaten vergebene Auftrag an den Bauhandwerker Ernst Schmidt sei trotz wiederholter Aufforderungen immer noch nicht erledigt worden. Er sollte neue Stufen setzen an der Staffel zwischen oberer Kehre der Landesstraße und der alten Steige. Die letzte Frist: Bis spätestens 1. Januar 1956 seien die Arbeiten zu erledigen, andernfalls werde der Auftrag anderweitig vergeben (STAM, Li B 325, S.62). Ob es meiner Anfrage vom 6. Januar 2020 auch so ergeht? Mir ist nicht bekannt, wie oft dieser Verbindungsweg zum Spottenberg kontrolliert wird, schrieb ich der Stadtverwaltung. Aber es gebe einzelnen Reparatur- und Instandhaltungsbedarf bei Stufen (nicht bei allen) und Geländer (Rost).

Inzwischen ist die Schützinger Straße wegen eines neuen Themas im Gespräch: Soll ein Teil des Verkehrs aus dem geplanten Neubaugebiet "Pferchäcker" über sie rollen? Untersuchung beauftragt, Ausgang offen. Ein Ausbau scheidet schon deshalb aus, weil Teile der Hänge des oberen Teil der alten Steige als Biotope geschützt sind. Folge strengerer Gesetze. Zumindest mit diesen mussten sich die Mitglieder des Gemeinderats von Lienzingen 1958/59 nicht auseinandersetzen. Die Glücklichen!

Lienzinger Geschichte(n). Fortsetzung folgt. Garantiert.

25. Juni 2020, Antwort der Stadtverwaltung auf meine Anfrage:

Der Gemeindevollzugsdienst hat  dieses und letztes Jahr mehrere entsprechende Kontrollen in der Schützinger Straße zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt. Die Zeitdauer der Kontrollen betrug jeweils ca. 1 h. Es gibt bei den Kontrollen vereinzelte Verstöße. Eine Statistik über die Kontrollen wird nicht erstellt. Wenn das Fahrzeug des Vollzugsdienstes von den Verkehrsteilnehmern wahrgenommen wird, wird erst gar nicht in die Schützinger Straße eingefahren. Seit Ende März wurden die Kontrollen pandemiebedingt nicht mehr durchgeführt. Diese werden im Zuge der Corona-Lockerungen wieder aufgenommen und fortgesetzt.

 

 

 

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