Wie viel Einwohner dürfen oder müssen es sein?

Der Plan ist fertig - gibt es Alternativen zu immer weiteren Neubaugebieten auf der grünen Wiese?

Drei Papiere, ein Thema: Wie viel neue Wohnungen brauchen Region, Kreis und Stadt? Das heißt aber auch: Wie stark wächst die Einwohnerzahl? Stoff für Debatten im Planungsausschuss des Regionalverbandes Nordschwarzwald und im Gemeinderat von Mühlacker. Wie verträgt sich Wachstum mit unserer vorhandenen Infrastruktur?

Zunächst zur Region: Die Prognos AG legte jetzt im Auftrag des Regionalverbandes Nordschwarzwald und mit finanzieller Beteiligung des Wirtschaftsministeriums Baden-Württemberg in drei Bändchen eine Wohnraumstudie vor, ermittelte den Bedarf, das Potenzial und schließlich einen Leitfaden für die kommunale Ebene. Die Wirtschaftsforscher rechnen  damit, dass die Region in den nächsten 15 Jahren um 15.000 Haushalte wächst. Das wäre ein Plus von 25.000 Menschen, die zusätzlich 22.600 Wohneinheiten notwendig machen.

Prognos erhob die Daten fürs Oberzentrum Pforzheim und die sechs Mittelbereiche Freudenstadt, Horb, Calw, Nagold, Bad Wildbad und Mühlacker vor - zu Letzterem gehören die meisten Gemeinden des östlichen Enzkreises.

Hier die wesentlichen Eckpunkte für den Mittelbereich Mühlacker:

  • Die Bevölkerungsentwicklung seit 2011 lag im Durchschnitt der gesamten Region (+ 4,7 %)
  • Die Größe eines durchschnittlichen Haushalts sank von 2,37 auf 2,32 Köpfe. Ergebnis: 6,4 Prozent mehr Haushalte (+ 6,4 %)
  • Der Wohnungsbestand erhöhte sich unterdurchschnittlich im Vergleich zur Region um 3,4 % (198 Wohneinheiten pro Jahr). Demzufolge ist die Wohnungsbaulücke größer (3,1 statt 2,3 % in  der Region)
  • Ergo die Prognose: Der Wohnungsbedarf wächst bis 2040 um 9,2 % (entspricht 2220 Haushalten) und somit stärker als in der Region mit 8,5 %
  • Fazit von Prognos: Nachfrage nach kleineren und flexibleren Wohneinheiten (unter anderem im Geschosswohnungsbau) steigt voraussichtlich, insbesondere in attraktiven Lagen für Berufspendler in Richtung Region Stuttgart.
  • Der Rat: Baulücken und Leerstände insbesondere in Mehrfamilienhäusern aktivieren. Der Mittelbereich Mühlacker gewinne auch als Arbeitsstandort an Bedeutung, habe eine gute Lage, sei verkehrstechnisch - Straße und Schiene - gut angebunden.
Drei Hefte, eine Studie

Die Flächen- und Bestandsreserven:  Eigentlich müsste in der Region trotz  des Mehrbedarfs kein einziger Quadratmeter neues Bauland ausgewiesen werden. Leerstände, Aufstockung von Gebäuden, Baulücken und noch nicht genutzte, aber in den Flächennutzungsplänen gesicherte Bauflächen voll genutzt, ermöglichten zusammen zusätzlich 63.000 Wohneinheiten (WE), gegliedert in Aufstockung 5000 WE, Leerstände 14.000 WE, Nachverdichtung 2000 WE, vor allem aber 42.000 WE auf „unbebauten Potenzialen“. Rechnerisch reicht das, um den Bedarf abzudecken. Die Werte für den Mittelbereich Mühlacker: aus noch nicht genutztem Bauland 3703 WE, aus Nachverdichtung 200 WE, aus Aufstockung 400 WE und aus Leerständen 1000 WE, zusammen also rund 4300 WE. Die drei Hefte der Studie können hier heruntergeladen werden.

Just die Grenzen der Aktivierung von Potenzialen dokumentierte jetzt die Stadtverwaltung Mühlacker. Sie schrieb alle Eigentümer von 254 Baulücken an, die ihre Fläche bis jetzt nicht auf den Markt warfen. Ernüchternd die Ergebnisse. Nur drei denken nach dem Brief aus dem Rathaus ans Verkaufen. Die sogenannten Enkeles-Grundstücke sind voll erschlossen, könnten sofort bebaut werden. Die Kommunen hätten keine ausreichenden Instrumente, um hier eine Korrektur im Verhalten durchzusetzen, lautet die immer wiederkehrende Klage im Gemeinderat.

 

2020-02-06_Bauluecken_Eigentuemerbefragung.pdf

Der Ruf wird immer wieder laut, eine Grundsteuer C für unbebautes Bauland einzuführen, die dann entsprechend hoch angesetzt  werden könnte, um die Verkaufswilligkeit zu erhöhen. Freilich, die gab es schon einmal. Der Gesetzgeber bietet die Möglichkeit, ein Baugebot zu verhängen. Die Mobilisierung wird erschwert durch die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Wer das Geld nicht braucht, wird beharrlich sein und nichts verkaufen. Lieber Grund und Boden als Anlagen ohne Habenzinsen. Da ist es noch schwerer, eine Strategie zur Mobilisierung der Reserven zu entwickeln. Prognos bietet einen ganzen Instrumentenkasten an. Hier müsste Mühlacker sich Passendes suchen. Der Versuch wäre es wert.

Denn auch Mühlacker braucht weiteren Wohnraum. Die Einwohnerzahlen von Mühlacker sind in den Jahren seit 2011 (24.720 EW) bis 2018 (26.076 EW) deutlich gestiegen. Dieser Anstieg von durchschnittlich knapp 200 EW/a verursacht einen Bedarf an Wohnflächen von ca. 8.760 m²/Jahr, rechnet die Stadtverwaltung vor. Bezogen auf 15 Jahren sind dies 131.400 m² Wohnfläche (oder 1.314 100m²-Wohnungen). Werden diese Wohneinheiten im Geschosswohnungsbau realisiert, dann werden hierfür 14 ha Bruttobauland benötigt, im Einfamilienhausbau 66 ha.

Allerdings ist der einstige  Rekord der Mühlacker Einwohnerzahl noch nicht erreicht: 26.362 im Jahr 2003. Seitdem sind aber weitere Wohngebiete erschlossen worden. Doch, was auch die Prognos AG feststellte: Der Wohnraumbedarf pro Einwohner stieg seitdem deutlich (43,8 Quadratmeter pro Person), der Anteil von Singleshaushalten ebenso (inzwischen machen sie fast 42 Prozent der Haushalte in Mühlacker aus).

Die Verwaltung: Die Wohnflächeninanspruchnahme von Ein-Personen-Haushalten liegt im Eigentum bei 97,5 m², in Miete bei 54,7 m². Faktisch bedeutet dies, dass der weit überwiegende Teil der Menschen in einem Einfamilienhaus leben bleibt – auch dann, wenn der Haushalt nur noch aus einer Person besteht. (Vorlage  261/2019 Stadt Mühlacker aufgrund des CDU-Antrags A-19-26-60-23 im Gemeinderat) 2019-09-30_UTA_Top6_Vorlage1_Stadtentwicklung.pdf

Wohnungen pro 1000 Haushalte

Der aus diesen Effekten resultierende Zuwachs an Wohnflächenbedarf von derzeit ca. 0,1 m²/Person pro Jahr bedeutet bei 26.000 Einwohnern für Mühlacker ein Pllus von 2.600 m² pro Jahr, heißt es in dem sechsseitigen Papier der Verwaltung. Sie rechnete daraus auf 15 Jahre einen Wohnflächenbedarf von 390 100m²-Wohnungen, was einem Einwohnerzuwachs von ca. 890 Personen entspricht. Das wären 4 ha Bruttowohnbauland bei Realisierung im Geschosswohnungsbau oder 20 ha im Einfamilienhausbau. Diese Beispiele zeigen: Zukünftig müssen wir mehr auf Verdichtung und Geschosswohnungsbau setzen. Ob der generelle Bedarf tatsächlich so wächst, steht auf einem anderen Blatt.

Wie viel Einwohner verträgt unsere Infrastruktur?  Beides muss im Einklang stehen. Tut's aber nicht immer. Vor allem nicht bei Schulen und Kindergärten. Das Papier der Stadtverwaltung lässt keine Zweifel. Auf 1.300 Neubürger kommen    

  • 20 zusätzliche Krippenkinder
  • 65 zusätzliche Kindergartenkinder
  • 78 zusätzliche Grundschulkinder und
  • 117 Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen.

Schon jetzt fehlen wenistens 50 Kindertagesbetreuungsplätze für über Dreijährige. Weiterer Einwohnerzuwachs verschärft aktuell die Situation zusätzlich.  Die Lage bei den Schulen ist unterschiedlich.

Aufs richtige Maß kommt's an. Denn: Die Kosten der kommunalen Infrastruktur steigen in der Regel mit der Einwohnerzahl. Allerdings wachsen sie nicht linear, sondern in Entwicklungsstufen. Die Verwaltung: So sei zum Beispiel eine Kläranlage in der Lage, das Abwasser bis zu einer bestimmten Einwohnerzahl zu reinigen. Werde ihre Leistungsfähigkeit überschritten, so würden sich bei einem Sprung auf die nächste Ausbaustufe erhebliche Mehrkosten ergeben.

Auch bei der öffentlichen Infrastruktur findet sich in der Ratsvorlage 261/2019 der von der Verwaltung verwendete Begriff der Remanenz (Beharrungstendenz) in Form von Remanenzkosten: Eine sinkende Einwohnerzahl führe nicht zu einem linearen Abbau der Infrastruktur. In der Folge würden aufgrund der gegebenen Unterhaltungskosten die Infrastrukturkosten je Einwohner steigen. Kritisch ist deshalb weniger ein Bevölkerungszuwachs als vielmehr die Fallkonstellation sinkender Bevölkerungszahlen, die allerdings für Mühlacker noch keine Relevanz hat, so das Fazit der fünf an der Ausarbeitung dieses Papiers zur Stadtentwicklung beteiligten Ämter.

Noch vor der Sommerpause 2020 will der Gemeinderat in einer Klausursitzung über Stadtentwicklung sprechen. 261/2019 liefert dazu viel Material. Wichtig wird es sein, die diversen Prognosen übereinander zu legen, abzugleichen und dann Antwort auf die Frage zu geben: Wie viel Einwohner dürfen oder müssen es sein? Gerade auch der Infrastruktur wegen.

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