30 Jahre nach dem Mauerfall: Ein Brief aus Texas

Heute eine Mail aus Texas, von Steffen - 30 Jahre nach dem Mauerfall. Nach der Notaufnahme von DDR-Flüchtlingen am 11.  November 1989 in der Sporthalle bei der Berufsschule in Mühlacker. Darunter eine junge Familie aus Erfurt in der DDR, die ich von dort kurzerhand mit nach Hause mitnahm. Spontanität, die mich heute noch staunen lässt. Plötzlich wohnte eine zweite Familie bei uns, meiner Mutter und mir. Von einer Stunde auf die andere. Höchst ungewöhnlich. Dazu der Brief aus Texas:

Die junge Familie aus Erfurt in der Lohwiesenstraße 13 in Lienzingen

Lieber Günter,  30 Jahre Mauerfall sind für mich ein Anlass zurückzublicken auf die Zeit im November 1989. In den Wochen vor dem Ereignis reifte für uns die Entscheidung, die damalige DDR zu verlassen. Die Ereignisse in Ungarn und der Prager Botschaft  bestärkten uns in dem Entschluss. Anfang November sind wir los, nur ein paar Tage vor der Schabowski-Pressekonferenz. Da sah alles noch nach der China-Lösung aus.
Für uns war es eine Entscheidung fürs Leben. Von Erfurt erst Richtung Osten, um dann in den Westen zu gelangen.
Ich erinnere mich noch an viele Details dieser Reise. An einem Abend wurde der Trabi gepackt, dazu unsere zwei Jungs - 3 Jahre und 6 Monate alt. Nach dem Grenzübertritt in die damalige Tschechoslowakei ging es nach ein paar Kilometern in Schirnding / Bayern in die Bundesrepublik.
Für 2 Tage waren wir in einer Bundeswehr-Kaserne in Mellrichstadt, dann fuhren wir weiter Richtung Baden Württemberg. Ziel Karlsruhe. Die uns angegebene Anlaufstelle in Durlach war überfüllt und wir wurden nach Mühlacker geschickt.
Bei unserer Ankunft in der Turnhalle Mühlacker trafen wir auf Dich, lieber Günter. Du entschiedest kurzerhand, dass wir - anstelle in der Turnhalle zu übernachten - mit zu Dir nach Hause kommen sollten. 4 Mann hoch. Deine Mutter hat auf ihre Einliegerwohnung für ein paar Wochen verzichtet. Deine großartige, selbstlose Hilfe an diesem Abend und den folgenden Wochen war einzigartig. So viele tolle Dinge haben unser nachfolgendes Leben geprägt.
Dazu gehört auch, dass es inzwischen schon 24 Jahre sind, dass Austin/Texas das neue Zuhause ist. Zu diesem Tag also alles Gute aus Texas. Ein Treffen ist überfällig, aber ich verfolge Dein aktives Leben via Blogs und FB. Steffen

In einer beispiellosen Hilfsaktion, heißt es im Jahrbuch des Enzkreises 1989/90 auf Seite 289, unter maßgeblicher Beteiligung des Roten Kreuzes und mit Hilfe der Gemeinden Straubenhardt, Mühlacker und Remchingen bringt das Landratsamt innerhalb von 24 Stunden 438  Übersiedler aus der DDR zunächst in der Festhalle Conweiler und in der Sporthalle des Berufsschulzentrums Mühlacker sowie in einigen Privatwohnungen unter. Für wenige Tage nur, denn die Landsleute aus dem Osten konnten rasch mit Arbeitsplätzen und Wohnungen versorgt werden oder es gab Platz in Ausweichquartieren. Niemand sagte damals: "Wir schaffen das!". Aber wir schafften es, obwohl es auch damals Zweifler gab.

Meine Mutter verzichtete für ein paar Wochen auf ihre kleine Wohnung, doch in der Hauptwohnung war genügend Platz für sie und mich, der ich noch Junggeselle war. Ein gutes Vierteljahr stand in einer meiner beiden Garagen ein für uns vormals ungewohntes Fahrzeug: ein Trabi. Nach gut drei Monaten fand Steffen mit seiner Familie eine Wohnung in Ötisheim. Beruflich schaffte er rasch den Anschluss: Ende des Monats November 2019 feiert er sein 30-Jahr-Jubiläum bei Hamatech in Sternenfels. Für dieses Unternehmen war er mit seiner Familie nach Texas gezogen.

In den Zeitungen jener Tage geblättert, ergeben sich Parallelen zu den Flüchtlingsfolgen 2015/16.

In jenen November-Tagen des Jahres 1989 musste der Enzkreis kurzfristig zwei Sporthallen schließen, um Übersiedlern aus der DDR ein Dach überm Kopf zu geben. So in Straubenhardt-Conweiler, wo 150 DDR-Flüchtlinge eintrafen, aus ihrer ersten Station in Rastatt kommend. Von einer nächtlichen Aktion, schreibt die PZ am 11. November 1989.

Enzkreis-Landrat Dr. Heinz Reichert bat die anderen Gemeinden und Städte des Kreises um zusätzliche Räume. "Der Landrat denkt dabei in erster Linie an Hallen, Versammlungsräume und leerstehende größere Versammlungsräume. Ausreichende sanitäre Anlagen müssen in jedem Fall vorhanden sein." Die Unterbringung in Turnhallen könne aber keine Dauerlösung sein. Kreisverwaltungsdirektor Karl Röckinger, der die Aktion koordiniert hat, wendet sich deshalb an die gesamte Bevölkerung des Enzkreises, dem beengten Leben in der Halle ein schnelles Ende zu bereiten: „Dachgeschosse und Einliegerwohnungen könnten Abhilfe schaffen." Reichert bittet auch die Kirchen um ihren Solidaranteil. Er könnte sich vorstellen, dass einzelne Familien mit ihren Kindern in Gemeindehäusern Unterkunft finden.

Notunterkunft Sporthalle am Berufsschulzentrum Mühlacker

Am 14. November schreibt die PZ zur Aufnahme in Mühlacker:

Der erste Werktag in Mühlacker begann für viele Umsiedler wie der letzte in der DDR geendet hatte: Schlange stehen. „Das können wir, darin sind wir geübt", scherzte eine junge Frau. Hüben wie drüben, es geht alles seinen behördlichen Gang - „aber mit wesentlichen Unterschieden". Zum einen würde hier unbürokratischer gearbeitet, nicht Resignation wie vor den HO-Läden in der zurückgelassenen Heimat sondern Aufbruchstimmung herrsche in der kurzen Warteschlange. Der Leiter des Ordnungsamtes Peter Laible und fünf Mitarbeiter haben gestern morgen in der Sporthalle der Kerschensteiner Schule mit jener Arbeit begonnen, die aus cirka 240 Flüchtlingen Staatsbürger der Bundesrepulbik macht - Formulare, Formulare. Eines für das Arbeitsamt, eines für die Personenregistratur und eines für die Bewilligung eines vorläufigen Personalausweises. Mit stoischer Ruhe und gegenseitiger Hilfe wurden die Vordrucke ausgefüllt, während vor der Halle Berufsschüler die Trabis umrundeten. Am frühen Nachmittag hatten sich die Reihen gelichtet. Walter Seitter und seine Helfer (nachts drei, tagsüber vier) von der Ortsgruppe des Deutschen Ro- ten Kreuzes mussten in der Sporthalle noch rund 190 Menschen und außerhalb etwa 40 betreuen, „30", so Seitter, „haben eine Wohnung und Arbeit gefunden". Und keiner ist oder will zurück? „Uns ist bis auf eine Ausnahme davon nichts bekannt", sagt Ludowiga Dumitsch, die Frau des Bürgermeisters. Doch diese Ausnahme, ein etwa 35jähriger Mann, hat im Laufe des Mittags seine Absicht geändert. Er will jetzt nicht mehr in die DDR, um dort zu bleiben, sondern um seine Familie in den Westen zu holen. „Vielleicht", mutmaßt einer der Senderstädter Helfer, „würden heute nicht mehr alle abhauen die hier sind, wenn die Entwicklung in der DDR schon vor dem Wochenende eingesetzt hätte." Diesen Eindruck habe er gewonnen, als man am Sonntagabend gemeinsam die Fernseh-Nachrichten anschaute. (...)

Am Montag, 13. Novemver, titelte die PZ, Ausgabe Mühlacker:

Notunterkunft bezogen - Seit Samstag 250 Bürger aus der DDR in Sporthalle - „Trabi" und Wartburgs rollten aus Bruchsal und Durlach ebenso wie Busse an

Die Notunterkunft war die Sporthalle des Berufsschulzentrums an der Kerschensteiner Straße in Mühlacker. In  einer Blitz-Aktion musste sie eingerichtet werden. Erst am Freitag gegen 17 Uhr waren Landratsamt Enzkreis und Stadtverwaltung Mühlacker über das Regierungspräsidium Karlsruhe verständigt worden, dass möglicherweise irgendwann in den nächsten Stunden oder Tagen Platz für die DDR-Flüchtlinge geschaffen werden müsse.
Bis spät  in die Nacht hinein rollten 80 bis 100 „Trabis" und Wartburgs am Samstag in die Kerschensteiner Straße. Teilweise verfuhren sie sich wegen der Martini-Markt-Umleitungen, trotz spezieller Ausschilderung. Mühlacker Bürger und Polizisten halfen jedoch gerne bei der Suche. Auf dem Behr-Parkplatz wurden die Zweitakter abgestellt. Zum Teil kamen die Menschen aus ihren seitherigen Notaufnahmequartieren aus Karlsruhe-Durlach und Bruchsal auch in Bussen angereist.

Zunächst mussten von Freitagnachmittag an von einer Mühlacker Firma Spanplatten beschafft und zurechtgesägt werden, die auf dem Hallenboden verlegt wurden. 65 Doppelstockbette stellte das THW Pforzheim zur Verfügung, 120 Feldbetten und ebensoviele Decken kamen von den DRK-Ortsvereinen Pforzheim/Enzkreis und zusätzlich trafen noch 500 Schlafsäcke aus dem Katastrophenschutz-Lager in Kirchheim/Teck ein. 60 DRK-Helfer und 33 Mann des THW halfen mit aufzubauen. Doch damit nicht genug: Ein Baby-Wickelraum musste ausgewiesen werden, die Sportler-Duschen wurden nach Geschlechtern getrennt, Kochplatten galt es zu organisieren, graue und grüne Tonnen wurden bestellt, so las es sich in der Zeitung.

O-Ton PZ weiter: Immer wieder fanden sich am Samstagabend Bürger der Stadt ein - unter ihnen Bürgermeister Adolf Dumitsch und mehrere CDU-Stadträte - die spontan ihr Gästezimmer für Flüchtlinge aus der DDR zur Verfügung stellten. Ein Beispiel, das nach den Vorstellungen der Mitarbeiter der Lager-Einsatz-Zentrale Schule machen sollte.
Ich schaute am späten Nachmittag des 11. November spontan in der Halle vorbei, wollte mich auch das Stadt- und Kreisrat informieren und entschied mich dann, ohne meine Mutter vorzuwarnen, von einem Moment auf den anderen, Steffen und seiner jungen Familie zu helfen und sie mitzunehmen. Bald darauf fuhr ein Trabi in der Lohwiesenstraße in Lienzingen vor. Vier Personen auf 26,66 Quadratmeter Wohnraum - das konnte keine Dauerlösung sein, war uns allen klar.

Oberbürgermeister Gerhard Knapp kündigte noch am Freitagabend im Gespräch mit der „Pforzheimer Zeitung" an: „Die Suche nach geeigneten Unterkünften muss bei uns schon am Montag intensiv weitergehen." Schon vor der Einrichtung der Notunterkünfte versuchte der Enzkreis, sich zu wappnen - und erntete dafür auch Kritik. In der PZ vom 10. November wird über ein Krisengespräch berichtet, denn das Landratsamt hatte die Fremdmieter im Schwesternwohnheim am Krankenhaus Mühlacker aufgefordert, sich nach anderem Wohnraum umzusehen. Man brauche die Zimmer für Aus- und Übersiedler. "Ich muss raus, weil DDRler rein wollen", wird ein empörter Mieter zitiert. Nach zwei Stunden gab es einen Kompromiss: Die Mieter versprachen die Suche nach anderen Wohnungen, der Landkreis wiederum sicherte zu, nur als letztes Mittel auf die Räume im Wohnraum Hermann-Hesse-Straße 32 zuzugreifen.

Eineinhalb Wochen später, am 21. November, konnte die Notunterkunft in der Halle an der  Kerschensteinerstraße geschlossen werden. Die Bilanz: Alle 288 Umsiedler aus der DDR konnten in Wohnungen, wenn sie auch noch so klein waren, untergebracht werden.  60 von ihnen fanden in dem ehemaligen Jugenddorf hinter dem Metzler-Areal eine Bleibe - vier pro Raum. Fünf Einzelreisende und zusätzlich eine dreiköpfige Familie fanden bei der Liebenzeller Mission in Mühlhausen Unterschlupf, fünf oder sechs Zugereiste durften das Bürogebäude der Firma Geissel GmbH, Präzisionsteile und Kabelverschraubungen, in der Lienzinger Brühlstraße bewohnen, das Freizeitheim Friolzheim stand für Übersiedler zur Verfügung, listete PZ-Reporter Bruno Knöller beispielhaft auf.

Abend der Begegnung im Uhlandbau

Willkommeskultur: Mitmehr als 350 Besuchern  hatte der „Abend der Begegnung", den die Volkshochschule Mühlacker für und mit Mühlacker Neu- und Altbürgern veranstaltete, alle Erwartungen übertroffen. Mit der eigentlichen Begegnung hingegen haperte es. Das gewünschte „sich Näherkommen" fand eigentlich nicht statt, zu sehr blieben die Besucherdes Abends auf Ihren Stühlen „kleben", schrieb der Journalist Norbert Kollros in der PZ vom 27. November. Musikschule Gutmann, Akkordeonorchester des Musikvereins Mühlacker, Theatergruppe "Mundraub" machten Programm.  Unter den Gästen Mühlackers OB Gerhard Knapp und Enzkreis-Sozialdezernent Karl Röckinger. Mitinitiator Manfred Fisch als Talk-Meister interviewte Übersiedler. Einer von ihnen sagte, man wolle nicht Bundesbürgern den Arbeitsplatz wegnehmen, was Hans-Joachim Bläsing aus Potsdam mit der selbst gemachten Erfahrung untermauerte: „Ich bin Elektromeister und konnte unter 21 Angeboten des Arbeitsamtes auswählen. Ich habe mich jetzt für eine Stelle bei den Stadtwerken entschieden." Sie versicherten, vor allem arbeiten und sich als Neubürger „für unsere Bundesrepublik einsetzen" zu wollen. Jaqueline berichtete von ihren ersten Schultagen, wo sie von ihren Klassenkameraden im Gymnasium herzlich aufgenommen worden sei. Sie fühle sich in ihrer neuen Umgebung recht wohl.

Enzkreis-Einsatzleiter Armin Sturn auf, der nun wieder seiner eigentlichen Aufgabe als Leiter des Enzkrels-Umweltschutzamtes nachgehen konnnte, sagte: „Trotz der großen Belastung waren diese Tage eine seelische Bereicherung, weil wir bei vielen Menschen ein Glücksgefühl gespürt haben." Trotzdem: Er könne nur ans Regierungspräsidium appellieren, dem Bereich Mühlacker keine weiteren DDR-Übersiedler zuzuweisen. "Der Wohnungs- und Arbeitsmarkt ist dort total abgesahnt."

Steffen jedenfalls fand eine Stelle bei Hamateech in Sternenfels, der er auch heute noch treu ist und in ihrer Filiale im texanischen Austin arbeitet. Seine Nachricht vorgestern: Ich bin im Moment im Flieger von Dallas nach Tokyo und dann von dort nach Taipei / Taiwan. Das war nicht so geplant, aber es gibt ein paar Probleme vor Ort.

 

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