Schreckensnacht in der Bucht der Verstorbenen - In der Bretagne vor 42 Jahren

 

Das Tal der Verstorbenen erweckt eigentlich einen heiteren Eindruck

Rüdiger Marggraf las und erinnerte sich. Mein Journlisten-Kollege aus Bietigheim-Bissingen stieß auf ein paar Zeilen von mir in Facebook unter anderem über den Besuch in der Bucht der Verstorbenen oder Bucht

Rüdiger Marggraf

der Dahingeschiedenen oder-Baie des Trépassés - der Eingang ist Pointe du Van in  Cléden-Cap-Sizun. Und ihm fielen plötzlich die Erinnerungen über eine Schreckensnacht dort in der Bretagne vor 42 Jahren ein. Er schrieb sie, so flott wie immer, als Kommentar unter meinen Beitrag in Facebook. Natürlich gehört sein spannendes Erlebnis auch hier in den Blog zum Kapitel unter anderem über Pointe du Van. Mit seinem Einverständnis. Hier ist der Text von Rüdiger Marggraf:

Oh, mein Gott Günter Bächle, was treten Sie mit diesen Bildern für Erinnerungen wach. Und mir wird grad bewusst wie klar und deutlich sie auch nach 42 Jahren noch immer präsent sind.

Besonders die Erinnerung an diese Bucht, an der meine damalige Freundin und ich im Sommer 1977 nach einem Abstecher zum Pointe Du Raz gestrandet sind. Wir hatten tagelang nur schlechtes Wetter gehabt, als wenige Kilometer nördlich von Pointe Du Raz urplötzlich der Himmel aufriss und die Sonne einen einsamen Küstenabschnitt vor uns beleuchtete, der uns in diesem Moment wie eine Offenbarung vorkam: eine kleine Bucht, eingerahmt von riesigen Felswänden, die sich bis weit hinaus ins Meer verloren und am Ufer von einem traumhaften Sandstrand verbunden wurden. 

Hotel Pointe du Van - Freundlichkeit garantiert

Schnurstracks parkten wir dort unseren klapprigen R4 und bauten unser Zelt im Schutz einer kleinen Düne auf. Von dort beobachteten wir den Nachmittag über fasziniert, wie sich die raue See schrittweise zurückzog, bis irgendwann die komplette Bucht trocken lag. Das Wasser war nurmehr zu erahnen, irgendwo dort wo die Felswände stufenweise abbröckelten. Wir waren erkennbar mutterseelenallein an diesem Ort, der Strand lag völlig verlassen vor uns, als sich irgendwann ein spektakuläres Abendrot ankündigte. Auf diesen besonderen Moment wollten wir natürlich mit einem Rotwein anstossen, doch leider gaben das unsere Vorräte nicht mehr her. 

Also machte ich mich spontan auf den Weg ans andere Ende der Bucht, wo leicht erhöht ein größeres, typisch bretonisches Steinhaus thronte – und mir das Schild daran große Hoffnung auf den ersehnten Rotwein machte: „Hotel de Baie des Trépassés“. Des Französischen ohnehin nicht mächtig, machte ich mir wegen einer Übersetzung zunächst keinen Kopf. Wichtig schien mir allein der Begriff „Hotel“. Ein wenig merkwürdig nur, dass nicht ein einziges Fahrzeug rund um das Gebäude und auch sonst keine Menschenseele zu erkennen war.

Die Bucht der Verstorbenen von Pointe du Van aus

Egal. Die Eingangstür war jedenfalls unverschlossen. Auf knarzigen Holzdielen suchte ich drinnen erstmal Orientierung. Und dabei wurde es an diesem Tag zum ersten Mal gruslig. Die nächstgelegene Tür auf der rechten Seite vorsichtig und klopfend öffnend, zeigte sich eine Art Speisesaal, sehr geräumig und unbeleuchtet. Ziemlich irritierend: sämtliche Tische waren akkurat gedeckt, ganz als ob im nächsten Moment eine Heerschar hungriger Gäste daran Platz nehmen wollte. Beim genauen Hingucken wurde jedoch klar, dass diese Tische mindestens tage-, wenn nicht wochenlang keinen Hungrigen beherbergt hatten. Ich stolperte dann in den Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs – eine gleichfalls menschenleere Schänke mit riesiger Theke und einfachen Holztischen. Alles ebenso angestaubt wie im Speisesaal. Mir schien in dem Moment aber was Anderes

Paradies auch für Wanderer

entscheidend: die Regale hinter der Theke waren prall gefüllt mit Getränken aller Art.

Merkwürdiges Hotel

Leider kriegte ich einfach kein Echo auf meine immer lauteren „Hallo“-Rufe. Und irgendwann schien die Ahnung Gewissheit zu werden: dieses merkwürdige Hotel war genauso gottverlassen wie die komplette Bucht, was mir ziemlich Gänsehaut verursachte. Stimmte dann aber doch nicht ganz. Wie aus dem Nichts schälte sich plötzlich ein steinaltes, gebückt stehendes Weiblein mit Kopftuch und Küchenschürze hinter der Theke hervor und fing augenblicklich an mich mit unverständlichen Worten vollzuschnattern. Und der zahnlose Mund

Steinig ist‘s zuweilen

schnatterte und schnatterte, während ich sie mit Händen und Füßen gestikulierend auf die Weinflaschen hinter ihr aufmerksam zu machen versuchte. Erst nach gefühlt einer halben Stunde hielt ich den ersehnten Rotwein im Arm, während die Alte mir irgendeinen Restbetrag in die Hand zählte. Mein Abschied geriet dann eher zur Flucht. Und der Kontrast konnte nicht größer sein, als ich aus der Hoteltür auf den immer noch sonnenbeschienenen Strand trat. Ich rannte den ganzen Weg zum Zelt zurück im Bemühen, so schnell es ging Abstand zu diesem komischen Geisterhaus zu kriegen. 

Ein romantischer Abend bei Brot, Käse und Wein war uns dann aber auch nicht vergönnt. Der Himmel zog sich mit Einsetzen der Dämmerung rasend schnell wieder zu und ruckzuck verdunkelte ein wüster Sturm mit heftigen Regenschauern die ganze Bucht, bis wir kaum noch die Hand vor Augen erkennen konnten. Durchnässt und schmutzig suchten wir Zuflucht im Zelt, aber fanden sie dort kaum, denn der Wind peitschte neben dem Regen auch haufenweise Sand durch sämtliche Ritzen. An Schlaf war in dieser Situation nicht zu denken. So war es auch eher eine Art Erschöpfung, die meine Freundin irgendwann wegdämmern ließ. Ich hielt mich derweil an der Weinflasche fest. Mit folgenschweren Auswirkungen. Denn zunehmend befüllt, reifte in mir die Schnapsidee, mich draußen den Wetterwidrigkeiten entgegen zu stemmen. Schließlich schlüpfte ich aus dem Zelt und baute mich mutig auf der Sanddüne auf.

Nächtlicher Regensturm

In der Tat ein überwältigendes Erlebnis für alle Sinne – abgesehen davon, dass ich stockblind war. Aber allein die infernalische Geräuschkulisse und die brachiale Einwirkung des nächtlichen Regensturms auf Haut und Haar befeuerten den Einfluss von Alkohol und Adrenalin. In diesem Zustand fing ich plötzlich an in Richtung Bucht loszumarschieren. Und solange meine Füße noch durch Matsch stapften und nicht von Meerwasser umspült wurden, müsse ich auf der sicheren Seite sein, redete ich mir jedenfalls ein, während ich in die tosende Dunkelheit torkelte – die leere Weinflasche noch immer in der Hand. Eine längere Zeit hielt ich diese Schwachsinnsaktion wirklich für ein tollkühnes Unterfangen. Bis ich dieses neue, unwirkliche Geräusch aus dem Höllenlärm filtern konnte. Und schnell wurde mir klar: Außer Wind und Regen schwappte mir die Brandung der aufsteigenden Flut entgegen.

Die nackte Angst

Schlagartig folgte die Erkenntnis, dass ich keinerlei Schimmer hatte, wo genau ich mich in der Bucht befand. Geistesgegenwärtig versuchte ich die immer lauter werdende Brandung zu lokalisieren, um dann möglichst die entgegengesetzte Richtung zu treffen. Doch der zunehmend nasse Schlick machte das Laufen deutlich schwieriger. Was mir in diesen Minuten durch den Kopf ging, lässt sich nicht mehr in Worte fassen. Vermutlich beflügelten mich nackte Angst, schiere Panik und Rückenwind gleichermaßen. Irgendwann glaubte ich endlich einen Anstieg unter den Füssen zu spüren. Im nächsten Moment kollidierte ich tatsächlich mit einer Sanddüne. Und direkt dahinter knatterte unser völlig zerzaustes Zelt. 

Meine Freundin war dem Nervenzusammenbruch nahe, heulte Rotz und Wasser. Die stetig anschwellende Brandung in den Ohren, rafften wir augenblicklich sämtliche Siebensachen zusammen und stopften alles in das Heck des glücklicherweise nicht weit entfernt geparkten R4. Erst als ich den Wagen startete, nahm ich wahr, dass ein erster Anflug von Dämmerung schemenhafte Ausblicke auf den schaurigen Schauplatz hinter uns möglich machte. Und ich schwöre noch heute tausend Eide auf das, was ich beim Blick in den Außenspiegel erkennen konnte: Mitten im Inferno eine menschliche Gestalt, die an einen Felsbrocken unweit unseres Zeltplatzes lehnte und unsere hektische Flucht beobachtete. Es hat Wochen gedauert, bis ich meiner Freundin davon erzählen konnte. Wir sind an jenem Frühmorgen jedenfalls losgedüst als ob der Leibhaftige hinter uns her wäre. Und haben nicht angehalten bis wir die nächste Stadt erreicht hatten. Dort mussten wir uns noch gut eine Stunde gedulden, bis die ersten Bäckereien öffneten und wir bei Kaffee und Croissants ein wenig zur Ruhe kommen und das Erlebte als denkwürdiges Abenteuer abhaken konnten.

Bildband bringt Gewissheit

Es mag zwei oder drei Tage später gewesen sein, als wir vergleichsweise tiefenentspannt durch die Gassen irgendeiner bretonischen Altstadt bummelten. Meine Aufmerksamkeit richtete sich irgendwann auf die Auslagen einer Buchhandlung. Besonders fasziniert war ich von einem großen Bildband mit prachtvollen Fotos dieser faszinierenden Küstenlandschaft. Und ein besonders Eindrucksvolles war vollständig über beide Seiten gedruckt, genau im Mittelfalz des Buches. Ich erkannte sie auf Anhieb, besagte Bucht, abgebildet in ihrem ganzen Ausmaß. Der kurze Bildtext darunter bestätigte es nur: Blick auf die Baie des Trépassés. 

Noch mit aufgeschlagenem Bildband suchte ich im Laden den Inhaber auf, der gottseidank ganz gut Englisch sprach und verstand. Auf meine Frage erläuterte er mir ausführlich, was für einen besonderen Ort dieses Foto abbildete: Die „Bucht der Verstorbenen“, so seine Übersetzung, die sich unweit des Pointe Du Raz befinde und allemal einen Besuch wert wäre. Die Bedeutung, so der Buchhändler weiter, entstamme allerlei Sagen und Legenden, deren Ursprünge bis in die Keltenzeit zurück reichten. Seines Wissens nach hatte der Name aber noch einen weiteren, ganz konkreten Hintergrund: Nämlich die Tatsache, dass viele bretonische Küstenbewohner ihren kärglichen Lebensunterhalt jahrhundertelang mit Strandräuberei aufbesserten. Dazu entzündeten sie bevorzugt in stürmischen Nächten falsche Leuchtfeuer auf den steilen Felsen und lotsten damit Schiffe gezielt auf steinige Ausläufer wie die des Pointe Du Raz. Mit den Meeresströmungen bestens vertraut, postierten sich die Strandräuber dort dann in einer ganz bestimmten Bucht, wo das Frachtgut und über die Zeit auch unzählige Leichen mit der Flut angeschwemmt wurden: die Baie des Trépassés.

Wie im „Gasthaus Jamaika“

Mit dem Thema Strandräuberei, die auch an Englands Gestaden lange Zeit üblich war, befasst sich übrigens auch der spannende Roman „Gasthaus Jamaika“ der britischen Schriftstellerin Daphne Du Maurier. Nach dieser Vorlage drehte Alfred Hitchcock 1939 seinen Film „Jamaica Inn“, der mir jedes Mal einen ganz speziellen Gruseleffekt beschert.

Wo liegt denn was? Der Plan aus dem Besucherzentrum von Pointe du Raz zeigt es.

Trackbacks

Trackback-URL für diesen Eintrag

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Erhardt Stiefel am :

Spannende Geschichte mit Gänsehaut feeling. Toller Beitrag!
Antwort

Kommentar schreiben

Kommentare werden erst nach redaktioneller Prüfung freigeschaltet!


Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.