Auf den Spuren der Versöhner

De Gaulles Wohnhaus in Colombey
In Reims: Landkarte der Allierten im Kapitulationsmuseum (Ausschnitt)
Vor dem Haupteingang der Kathedrale Notre-Dame in Reims bronzene Gedenkplatte

Sie lässt sie sich leicht übersehen: Die vor dem Haupteingang der Kathedrale Notre-Dame in Reims zwischen Pflastersteinen eingelassene bronzene Gedenkplatte. Darauf steht der Satz des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, den er am Sonntag, den 8. Juli 1962 um 11.02 Uhr zu dem vor dem Gotteshaus  auf ihn und den deutschen Kanzler Konrad Adenauer wartenden Erzbischof Marty sagte: „Euer Exzellenz, der Kanzler und ich besuchen Ihre Kathedrale, um die Versöhnung von Deutschland und Frankreich zu besiegeln“. Der Text ist im französischen Originalwortlaut, davor in der deutschen Übersetzung der Nachwelt erhalten. Ich bin gerührt als ich den Satz 56 Jahre später lese. Mir fällt in diesem Moment die Rede de Gaulles an die deutsche Jugend ein, die er bei seinem Staatsbesuch im September 1962 im Innenhof des Ludwigsburger Schlosses hielt und die als 12-Jähriger am Radio hörte: „Ihr seid Kinder eines großen, ja eines großen Volkes“ rief er auf Deutsch aus. Ein Satz, der in meinem Gedächtnis haften blieb, da er die Sprache eines Freundes, nicht die eines Siegers war.
Auf seinen Spuren: Dass für de Gaulle die Versöhnung mit den einstigen Todfeinden mehr als eine einzigartige menschliche Geste, ja eine Herkulesaufgabe war, wird deutlich beim Rundgang Tage zuvor durch das Memorial Charles de Gaulle in Colombey les deux eglises, rund 160 Kilometer von Reims entfernt: Im Ersten Weltkrieg war der französische Offizier im März 1916 in deutsche Gefangenschaft geraten. Mehrere Fluchtversuche scheiterten, zweieinhalb Jahre später kehrte er nach Frankreich zurück. Er wird nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Adenauer zum großen Versöhner, der wohl einzige ausländische Staatsgast, den er in sein und seiner Familie Refugium einlud - sein am Rand eines drei Hektar großen Park stehendes und 1934 erworbenes Haus in dem 730-Seelen-Dorf Colombey. Jetzt für die Öffentlichkeit zugänglich, erscheint einem der Rundgang im Erdgeschoss als außergewöhnlich, streift der Blick  die Bücherregale, die Möbel, Fotos und Gemälde, dann den Schreibtisch des Generals im Erker und nimmt von dort die freie Sicht in die Weite der Natur auf. Hier entstanden seine Memoiren, in denen er auch auf die Friedensmesse an jenem 8. Juli 1962 in der Kathedrale zu Reims einging, die seit 1991 UNESCO-Weltkulturerbe ist. In dieser 185.000 Einwohner zählenden Stadt stoßen französische und deutsche Geschichte aufeinander.
Die Friedensmesse an jenem Juli-Sonntag 1962 besitzt hohe Symbolkraft. Denn im Krieg von 1870 war Reims von den Deutschen besetzt, zu Beginn des Ersten Weltkrieg beschädigten deutsche Truppen die Kathedrale erheblich, die über Jahrhunderte Krönungsstätte der Könige Frankreichs war. Im Jahr 496 ließ sich der Frankenkönig Chlodwig nach der Überlieferung Gregor von Tours’ in Reims taufen. Vom 1027 bis 1825 folgten 29 Monarchen des Landes. Hier schlug das Herz der Grande Nation.

Nur 1,2 Kilometer von der Kathedrale entfernt steht die Lycée Polyvalent Franklin Roosevelt, eine Sekundarschule mit der Adresse 10 Rue du Président Franklin Roosevelt, 51100 Reims. Unser nächstes Ziel. Wir streben aus besonderem Grund auch noch zu diesem Schulkomplex, trotz fast unerträglicher Hitze: Denn ein Teil ist ebenso Schauplatz deutscher Historie als Ort der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.

Bilanz der Schlacht um Verdun.
Verdun

Ein Hauch von Geschichte liegt in dem Raum, in dem Generaloberst Alfred Jodl am 7. Mai 1945 die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zum 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr unterschrieb. Tisch und Stühle sollen noch original sein, junge amerikanische Besucher zeigen großes Interesse an allen Exponaten. Die Räumlichkeiten des einstigen Hauptquartiers der Allianz gegen Deutschland - von 1943 an - befanden sich in einem Teil des Lyzeums Roosevelt und beherbergen heute das Kapitulationsmuseum. Gezeigt werden an den Wänden raumhohe Landkarten Europas mit den Transportwegen der Alliierten - riesige, zugleich kleinteilig gehaltene Landkarten, so dass selbst Lienzingen, Mühlacker, Dürrmenz (gesondert!), Schmie und Schönenberg eingezeichnet sind. Der 8. Mai 1945 wird fü die Deutschen zum Tag der Befreiung.
Stationen der Geschichte. Ist das heute alles wirklich Gedenktourismus? Ein Begriff, der sich inzwischen etabliert hat. Mir ist er zu technokratisch, zu geschäftsmäßig. Erinnerungsarbeit passt besser. In Reims, in Colombey wird dies deutlich, besonders jedoch in Verdun, deren Gedenkstätten an die grausamsten und verlustreichsten Kämpfe des Ersten Weltkrieges erinnern -  wie das Beinhaus von Douaumont, die ständige Ausstellung im Memorial, die vielen Friedhöfe mit den weißen Kreuzen und die von den Schlachten immer noch zerfurchte Landschaft. Mein Großvater Gotthilf Schrodt aus Schützingen fiel im September 1916 an der Somme, der Bruder meines Vaters -  nach dem ich mit zweitem Vornamen Wilhelm heiße -  verlor sein Leben noch kurz vor Kriegsschluss 1918.

Alles begann mit dem Nationalismus. Besuche und Rundgänge enden mit einem Gefühl der Beklommenheit und der Überzeugung, dass das Erinnern auch Friedensarbeit ist. Weshalb gehört Verdun nicht zu den regelmäßigen Besuchsprogrammen baden-württembergischer Schulen?
Jüngst hob Frankreichs Botschafterin in Berlin, Anne-Marie Descôtes, bei einem Besuch in Pforzheim zum Europatag im Landratsamt Enzkreis unter anderem die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft für die internationale Politik hervor. Aber auch Freundschaft braucht Pflege.

 

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