Fortschreibung und Prognose oder Kaffeesatzleserei der Statistiker?

Professor Dr. Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirik an der Fachhochschule Koblenz, Standort Remagen. Er arbeitete unter anderem beim Statistischen Bundesamt, dort vor allem in der Bonner Beratungsstelle für Ministerien und Bundestag und in der Abteilung Statistik der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Bosbach setzt sich kritisch mit den Vorhersagen der Bevölkerungsentwicklung des Statistischen Bundesamtes auseinander, die lediglich bekannte Trends fortschreiben: "Strukturbrüche können sie nicht prognostizieren. Eine 50-Jahres-Prognose aus dem Jahr 1950 hätte weder den Pillenknick noch den Babyboom, weder den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer und osteuropäischer Aussiedler noch den Trend zu Kleinfamilie und Single-Dasein berücksichtigen können." (Quelle: Message).

Doch in der aktuellen Diskussion über Demografie werden Vorausberechnungen, Modellrechnungen und Prognosen über einen Kamm geschert. Dabei muss scharf getrennt und unterschieden werden. Als das Statistische Landesamt Baden-Württemberg die gehabte Entwicklung der Einwohnerzahlen Mühlackers hochrechnete, ergab sich ein Minus von etwa 470 Einwohnern bis zum Jahr 2015. Flugs hieß es, dies sei eine Prognose und so werde es kommen. Quasi gottgegeben und nicht beeinflussbar. Bosbach rückt die Dinge zurecht, spricht auch von moderner Kaffeesatzleserei (Gerd Bosbach, Die modernen Kaffeesatzleser, FR 23.2.2004).

Übrigens: Auch Bundesbauminister Tiefensee (SPD) sagt, dass nicht überall Einwohnerschwund herrschen wird.

Als ein Vertreter des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg jüngst im Gemeinderat diese Fortschreibung der Bevölkerungsentwicklung - Motto: Was kommen wird, wenn alles so läuft, wie es bisher gelaufen ist - vorstellte, sagte er ausdrücklich, dies sei keine Prognose. Natürlich hätten Kommunen auch die Möglichkeit, durch entsprechende Entscheidungen diese Entwicklung zu beeinflussen. Beispiele dafür gibt es. Eines davon ist hier beschrieben. Aber auch deshalb ist es entscheidend, endlich mit unserer Flächennutzungsplanung voranzukommen.

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Kommentare

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Martina am :

Demografie ist auch bei uns in der Gemeinde ein Thema. Wir schrappen immer nur wenige Tausende an einem Stadtstatus vorbei. Allerdings gibt es in der Gemeinde Bestrebungen, den Status einer Stadt zu verhindern.

Unser BM hingegen hätte es wohl gern, weshalb er auch das eine oder andere neue Gebiet als Bauland freigeben lässt, und dies außerhalb einer sinnvollen Strategie.

Zurück zu den Prognosen: Prognosen werden niemals das "ES WIRD SEIN" darstellen können, sondern nur das "EVENTUELL ZU BERÜCKSICHTIGENDE" Und dies sind Überlegungen, die gerade mit Blick auf die laufenden und / oder künftigen Planungen einer Kommune relevant sein könnten.

Deshalb halte ich Prognosen für allemal sinnvoll und berücksichtend wert.
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Günter Bächle am :

Ich halte selbst die Fortschreibung von Bevölkerungszahlen für sinnvoll, auch um eventuell notwendige Korrekturen in der Gemeindeentwicklung anbringen zu können. Nur wird das gerne mit Prognosen verwechselt. Richtig ist, dass auch Prognosen niemals das "Es wird sein" darstellen können. Nur manche meinen dies. Prognosen können Orientierung geben. Man muss nur wissen, dass alles auch anders kommen kann.
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Martina am :

Hmmm.. gerade mit Blick auf die steigenden Benzinpreise werden Pendler, die im ländlichen Raum leben, sich irgendwann überlegen, ob sie nicht in die Zentren ziehen werden. Damit wird wahrscheinlich die Ausdünnung in manchen Gemeinden noch schneller fortschreiten als prognostiziert.

Und hierin liegt IMHO die Aufgabe der Gemeinden: Strukturen so aufzubauen, dass die Menschen vor Ort wieder Arbeit finden. Vor diesem Problem werden wir uns nicht länger verschließen dürfen.
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Günter Bächle am :

Fachleute stellen zunehmend einen Trend hin zu den Städten fest. Inwieweit sich das wiederum in Prognosen oder Fortschreibungen der Statistiker niedergeschlagen hat? Ich denke, wohl kaum. Und schon haben wir wieder einen wunderhübschen Unsicherheitsfaktor aller Berechnungen.
In der Region Stuttgart ist es offizielle Politik, Bevölkerungszuwachs an den Entwicklungsachsen (sprich Schiene) zu konzentrieren. Daraus soll auch der neue Regionalplan abgestellt werden. Alle anderen Gemeinden bekommen nur Eigenentwicklung zugestanden. An den Entwicklungsachsen liegen natürlich zumeist Städte, so dass der Trend (siehe oben) verstärkt wird. Der ländliche Raum hätte das Nachsehen.
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Martina am :

Der Ländliche Raum HAT das Nachsehen, das merken wir ja schon daran, dass innovative Konzepte zur Gewerbeansiedelung meist in den Zentren gefördert werden. Entsprechende Maßnahmen im ländlichen Raum werden "unterdrückt". :-( Ihr scheint wohl mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie wir.
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Günter Bächle am :

Ketzerische Frage: Ist nicht das gesamte Saarland ländlicher Raum? Wir haben in Baden-Württemberg zum Beispiel ein Entwicklungsprogramm ländlicher Raum, mit dem zum Beispiel Gewerbeumsiedlungen gefördert werden.
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Martina am :

Isch lebe net im Saarländle... sondern in NRW. ;-) Im übrigen danke für den Hinweis mit dem Entwicklungsprogramm, ich werde mal danach recherchieren.
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Günter Bächle am :

Au weia. Ich streue mir Asche aufs Haupt. War irgendwie aufs Saarland fixiert. Weiß auch nicht warum. Aber nun habe ich nachgelesen: Gut 21.000 Einwohner und im Rhein-Sieg-Kreis. Deine Heimatkommune hat gerade mal knapp 5000 Einwohner weniger als Mühlacker. Ist also durchaus vergleichbar. Gilt das als ländlicher Raum nach den Kriterien der Raumordnung?
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Martina am :

Das Kernproblem unserer Gemeinde ist die wirklich nahe Lage zu einer Trinkwassertalsperre. Schon die Vorschriften zum Erhalt und Sicherung der Wasserqualität stellen uns vor Herausforderungen.

Industrieansiedelungen sind aufgrund der Infrastruktur schwer umsetzbar, weshalb IMHO komplett neue Ideen gefragt sind.

Unsere Gemeinde besteht aus ca. 60 Ortschaften, Dörfern, Weilern.... Allerdings liegen wir zwischen den Zentren Bonn, Köln und Düsseldorf, was die Pendlerquote sehr hoch werden lässt.

Nun kommen die steigenden Energiepreise dazu, was das Wohnen und Leben hier sehr teuer werden lässt. Dies bedeutet, dass manche Einwohner sich zurück in die Zentren ziehen, was uns hier dann wieder zu schaffen macht (Schulbelegung usw.).
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