Lehrstück für Politiker und andere Menschen

Bahnfahren fördert das Bücherlesen. Tägliches Bahnfahren lässt die Zahl der gelesenen Bücher schneller steigen als beim täglichen Autofahren. Da werden Bände in die Hände genommen, die seit Jahren im Bücherschrank stehen. Bis dato ungelesen. Zum Beispiel:

Helmut Schmidt, "Außer Dienst", eine Bilanz, erschienen 2008 zum 90. Geburtstag des ehemaligen Bundeskanzlers, Siedler-Verlag. 350 Seiten. 22,95 Euro. ISBN 978-3-88680-863-2:

"Eine Pflichtlektüre für den Wähler" schreibt die Berliner Morgenpost. Der Kölner Stadt-Anzeiger nennt es ein "Lehrstück für Politiker und andere Menschen". Beides trifft's. Da ist der SPD-Politiker, der seine Erfahrungen als Kanzler, Minister und Bundestagsabgeordneter bündelt mit der eines Moralisten nach der aktiven Zeit eines Politikers als Herausgeber der "Zeit". Helmut Schmidt zählt zu den großen Figuren der deutschen Politik, über die Parteigrenzen hinweg verkörperte er für viele Deutsche den idealen Staatsmann schlechthin. Er beschäftigt sich in dieser Bilanz vor allem mit der Nachkriegsgeschichte, eher erzählend und nicht irgendwelche Jahreszahlen aneinander reihend. Spannend geschrieben. Eingestreut sind höchst private Reflexionen und Bekenntnisse zum Beispiel über sein Verhältnis zur Religion. Helmut Schmidts Bilanz ist - da hat der Verlag in seinem Waschzettel recht - ein lebendiges Buch voller Gedanken und Erinnerungen, sorgfältiger Analysen und kleiner Anekdoten. Es ist auch ein Ratgeber, so wenn er jungen Menschen rät, die in die Politik gehen wollen, zuerst einen ordentlichen Beruf zu erlernen und auch auszuüben, um jederzeit zurückkehren zu können, denn dies bewahre ihnen ihre Unabhängigkeit. Es mag als eine Petitesse erscheinen, wenn er Abgeordneten mit auf den Weg gibt, sich nicht nur in der englischen, sondern auch in der französischen Sprache auszukennen - um den Blick von außen auf Deutschland zu erleichtern. Wichtiger ist aber dies: "Er (der Abgeordnete) soll die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes verinnerlicht haben und das übrige in seinen Grundzügen kennen." Schmidt beklagt den Mangel an Kenntnissen über volkswirtschaftliche Zusammenhänge bei Politikern. Zweimal innerhalb des 20. Jahrhunderts hätten die Deutschen eine weltpolitische Führungsrolle angestrebt, beide Male seien sie damit jämmerlich gescheitert. Er empfiehlt, sich auf Europa zu beschränken, auf das Gelingen der europäischen Einigung zu achten, auf das gute Verhältnis zu unseren Nachbarstaaten, aber die Finger wegzulassen von militärischen Einsätzen auch außerhalb Europas - höchst aktuelle Gedanken angesichts des Engagements deutscher Soldaten in  Syrien, Afghanistan und Mali. ("Lasst uns die sorgsame Pflege guter Nachbarschaft wichtiger sein als jede Beteiligung an fremden Konflikten in anderen Kontinenten.") Bei aller Freundschaft zu den USA (und er hat das Land häufig besucht, verrät auch eine Zuneigung zu ihm), bewahrte er sich eine kritische Distanz. Offen schreibt er, was manche schon vermutet haben: "Manchmal wird einer sogar Minister, damit er nichts Besonderes zustande bringt." Wichtig war Schmidt die Tolernz zwischen den Weltregionen, er wirbt für den Kompromiss als Voraussetzung für den Frieden, zieht das Fazit: Wer zum Kompromiss nicht fähig ist, hat in der Politik nichts zu suchen. der jüngst verstorbene Ex-Kanzler sieht die Verantwortung beim Politiker, mahnt Vernunft an - eine Tugend genauso wie die  der inneren Gelassenheit. Im Zweifel soll ihnen das Gemeinwohl höher stehen als ihre Karriere, der Erfolg des Ganzen höher als ihr eigener oder der Erfolg ihrer Partei. "Für mich bleibt das Gewissen die oberste Instanz." 

Noch ein kleiner Nachsatz zu den Gedanken des Hamburgers Schmidt. Der Marbacher Stadtarchivar Albrecht Gühring schrieb kurz vor Weihnachten in der Beilage "Hie gut Württemberg" (Verlag Ungeheuer+Ulmer, Ludwigsburg), dass Helmut Schmidts Vorfahren aus Württemberg und auch aus dem Kreis Ludwigsburg stammen [Seite 29]. Der Ururgroßvater Schmidts war demnach der 1797 in Wüstenrot geborene Christian Heinrich Wenzel, der sich als Wurstmacher in Hamburg niederließ. Welche schwäbischen Tugenden bei dem Hanseaten Schmidt nachwirkten?
Noch ein Buch-Tipp gefällig? Auch seit 2008 ungelesen und jetzt nachgeholt. 

Christopher Clark, "Wilhelm II., Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers", Paperback, Verlag Pantheon (2008: Deutsche Verlagsanstalt), 416 Seiten. 14,99 Euro. ISBN: 978-3-570-55099-1.

Er lässt kein gutes Haar an ihm an den wenigen Stellen seines Buches "Außer Dienst", in denen er Wilhlem II. erwähnt. O-Ton Helmut Schmidt: "Alfred von Tirpitz und Wilhelm II. - von ihnen führte eine direkte Linie zum Größenwahn Adolf Hitlers" [Seite 91}. Solche (Vor-)Urteile versucht der britische Historiker Christopher Clark darauf abzuklopfen, ob sie der geschichtlichen Wirklichkeit standhalten. Dass ich zu dem Buch griff, war nicht etwa eine Liebe zum alten Preußen und seinem letzten Monarchen, sondern überschwängliche Rezensionen zum ersten umfassenden Werk über den letzten deutschen Kaiser. Eine faire Biografie, die in keine der bekannten Schubladen passt. Auch seine (Mit-)Schuld am Ausbruch des ersten Weltkriegs bleibt im Urteil des Briten eine Sache des Wertens und Abwägens, allein dessen es sich lohnt, dieses Werk zu lesen. Es bleibt aber das Bild eines öfters wankelmütigen, gelegentlich exzentrischen Politikers,  der seine Rolle als Deutscher Kaiser manchmal so strapazierte, das er ihr schadete, zumal die Reichsverfassung vom 16. April 1871 diese Rolle nicht ausreichend beschrieb und regelte. Ein Webfehler. Die Verfassung war ein Kompromiss "zwischen den Ambitionen der souveränen Einheiten, die zusammengekommen waren, um das deutsche Reich zu bilden, und der Notwendigkeit einer zentralen, koordinierenden Exekutive" (Clark, Seite 46). 

Christopher Clark folgt der Karriere des letzten deutschen Kaisers: die schwierige Jugend bei Hof, die Etablierung seiner Macht sowie seine politischen Auseinandersetzungen und Ziele. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Niederlage des Deutschen Reichs, endet auch die Herrschaft Wilhelms II. Der Kaiser dankt ab und muss den Rest seines Lebens im Exil verbringen. Hätte Deutschland einen anderen Weg eingeschlagen, wenn ein anderer Herrscher als Wilhelm II. das Land ins 20. Jahrhundert geführt hätte? Inwieweit prägte seine Persönlichkeit die deutschen Geschicke?

„Die beste Biografie“ (Berliner Zeitung) "Clarks sorgfältig recherchiertes Buch bietet eine neue, zuweilen durchaus provokative Interpretation des kontroversen Monarchen" (Fränkische Nachrichten) „Christopher Clark eröffnet Horizonte jenseits der engen Alternativen von Verklärung und Verdammung" (Frankfurter Rundschau). Pressestimmen, die die Fleißarbeit Clarks gut beschreiben. Übrigens: Hier der Link zu Wilhelm II.

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