Zuerst die Chancen sehen, nicht zuerst die Bedenken. Diesem Grundsatz huldigen die Esten, die bei der Digitalisierung die Nase vorne haben. So weit vorne, dass in der Hauptstadt Tallinn sogar eigens Präsentationsräume eingerichtet wurden, in denen Fachleute demonstrieren, wie „e-estonia“ funktioniert. Wenn ich nur daran denke, wie lange die Stadtverwaltung Mühlacker benötigt, den Sitzungsdienst für den Gemeinderat auf papierlos umzustellen, brauchen wir uns nicht zu wundern, in Europa zu den Nachzüglern zu gehören. Das liegt nicht nur an der Verwaltung, sondern an einzelnen Stadträten. Dem einen passt die Marke Apple (I-Pad) nicht, dem anderen missfällt ein anderer Typ. Im Stillen mag der eine oder die andere hoffen, dass alles beim Papier bleibt.
Oder: Die Stadtwerke Mühlacker verlegen in jeder Straße, die sie ausbuddeln, Leerrohre für Glasfaserkabel. Gut so! Doch wann das Glasfaser eingezogen wird, kann kaum jemand sagen. Das wird dann womöglich zum Zufallstreffer. Mühlacker hat beim Breitbandausbau sicherlich seit 2012 aufgeholt. Doch manche Gebiete bleiben bei maximal 50 MB pro Sekunde stehen. Dabei reicht die notwendige und erwartete Datenübertragungsrate schon deutlich in den dreistelligen Bereich hinein. Auch hier hinken wir hinter her. So schnell vergeben wir unsere Vorreiterrolle. Ein Gesamtkonzept hat der Verwaltungsausschuss des Gemeinderats am 11. März 2019 in Auftrag gegeben, sichtbar ist es aber noch nicht.
Wiederum die Bundesregierung beschloss kürzlich, dass die Bürger mehr Verwaltungsleistungen online in Anspruch nehmen können. Zum Beispiel am heimischen PC das Fahrzeug anmelden bei der Zulassungsstelle. Doch: Das ist teurer als der gleiche Vorgang offline und dauert bis zum Vollzug auch länger. Mich erinnert das an die Echternacher Springprozession: zwei Schritte vor, einer zurück. Wo stehen wir national beim Breitbandausbau im internationalen Vergleich? Zu weit hinten.
Mit Interesse las ich jetzt den Bericht über die Fahrt von 16 Bürgermeistern aus dem Enzkreis sowie Landrat Bastian Rosenau und seinen Dezernenten Dr. Hilde Neidhardt und Frank Stephan nach Estland. „Das Verwaltungshandeln folgt drei Grundprinzipien“, wird Tobias Koch, gebürtiger Berliner und seit mehreren Jahren in Tallinn zu Hause, in einer Mitteilung des Landratsamtes Enzkreis in Pforzheim zitiert. „Once only“ bedeutet, dass der Bürger seine Daten nur ein einziges Mal eingeben muss; „digital by default“ heißt, dass sämtliche Vorgänge automatisch digital angelegt und verarbeitet werden; und „truth by design“ garantiert, dass sämtliche Datenzugriffe transparent sind und jederzeit vom Bürger überprüft werden können.
Konsequent wird dabei vom Kunden her gedacht. Ich lese: Mit nur einer Karte, dem digitalen Personalausweis mit Chip und elektronischer Unterschriftsfunktion (habe ich mir jetzt zugelegt), kann er sich an- oder sein Fahrzeug ummelden, die Steuererklärung fertigstellen und auf sein Bankkonto zugreifen; sogar als Gesundheits-Karte fungiert der Ausweis. Formulare als pdf-Dokument zum Ausdrucken gelten als „Technik von gestern“, auch Rezepte in Papierform sind passé: Welches Medikament der Arzt verschreibt, steht im Netz, von wo der Apotheker die Information abruft. Dabei prüft das System im Hintergrund gleich mit, ob der Arzt für diese Verschreibung überhaupt befugt ist.
„Was der Bürger von Amazon gewohnt ist, erwartet er auch vom Staat: einfache Zugriffe zu jeder Tages- und Nachtzeit und nicht dann, wenn die Behörde offen hat“, sagte laut Mitteilung aus unserem Kreishaus Hendrik Lume von der estnischen Firma Nortal: „Wenn ich den Wasserhahn aufdrehe, möchte ich jetzt das Wasser und nicht in einer halben Stunde. Und ich will auch nicht erst den Klempner rufen müssen.“ Was der Bürger praktisch findet, so ließe sich die Philosophie zusammenfassen, das nutzt er auch.
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