Wie das Dorf zur zweiten Schule kam: Zoff mit dem Pfarrer, streitbarer Schultheiß, ein Klassenteiler von 90 und die Blutegel-Pleite

Die räumliche Nähe zu Kirche und Pfarrhaus, genügend Platz für das freistehende Gebäude, ein Viehstall,  weitere bildungsferne Nutzungen unter den Geschossen mit den Klassenzimmern und der Lehrerwohnung, so ein Holzlager und eine Futterkammer. Entscheidende Kriterien, die beim Schulbau im Lienzingen des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts gefordert waren. Doch bis zur Entscheidung erlebte das Dorf einen heftigen Streit ums Projekt mit mächtigen Beteiligten aus Knittlingen, Maulbronn, Ludwigsburg und Stuttgart. Eine ganze Behördenhierarchie mischte kräftig mit. Und die evangelische Kirche immer dabei. Lienzingen als Beispiel für lokale Entscheider vor mehr als 150 Jahren.

Bestandsaufnahme 1836, colorierter Plan des Mühlacker Geometers Schneider über das Gebiet rund um die Kirchenburg als Grundlage für Gespräche zur Lösung des Raummangels der Schule im heutigen Gebäude Kirchenburggasse 14. (Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Signatur StAL FL 20-18_Bü 503)

Wann bauten die Lienzinger ihr zweites Schulhaus? Jenes mit der prägnanten Zwillingstreppe zur heutigen Kirchenburggasse hin – die leider inzwischen amputiert ist. Falsch ist jedenfalls das Jahr 1835, das in der amtlichen Beschreibung des Oberamtes Maulbronn steht.  Damals stritten sich die Lienzinger noch, ob es eine Erweiterung im Bestand sein darf oder eine ganz neue Schule. In der dicken Bauakte im Staatsarchiv Ludwigsburg fehlen ausgerechnet zu Baubeginn und Arbeiten die exakten Daten. Also lässt sich das Jahr nur erraten. Und da ist selbst ein sonst ungeliebter nörgelnder Schornsteinfeger als Zeit-Zeuge willkommen.

Ein weiteres schönes Archivstück, auch von Geometer Schneider 1836 gezeichnet: Der dritte der von Abele vorgeschlagenen vier Standorte einer neuen Schule, hier an der Staatsstraße nach Maulbronn (heute Knittlinger Straße) auf einem der Gärten rechts oder links. Vorteil: „gesunde Lage“. Nachteile: zu weit weg von Kirche und Pfarrhaus, Unruhe der Landstraße bei Kriegszeiten.

Wunderschön sind die handgezeichneten Pläne in den Bauakten aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg, über den heutigen Bereich Kirchenburggasse und Kirchenburg, anno 1836 angefertigt von Geometer Schneider aus Mühlacker für Kreisbaurat Abel, der die Aufgabe von Oberamt und Gemeinde hatte, einen Bauplatz für eine neue Schule zu „ermitteln“. Abel habe sich bereits am 29. Mai 1835 abends nach Lienzingen begeben.

In meiner Blog-Serie Lienzinger Geschichte(n) ein weiteres Kapitel: Der Schulbaustreit

Ein Aktenpaket im Staatsarchiv Ludwigsburg erweist sich als unerschöpfliche Quelle der Recherche über die Art und Weise der seinerzeitigen Abwägung unterschiedlicher Varianten, die  durchaus als effizient bezeichnet werden kann, möglicherweise effizienter als heutzutage. Zu finden ist die Kladde im Landesarchiv Baden-Württemberg unter der Signatur StAL FL 20-18_Bü 503 (Bl. 131 bis 183, Jahre 1834/39, von insgesamt knapp 200 Dokumenten zur Lienzinger Schule -  reichend bis zum Jahr 1960 mit dem Programm der Einweihung des dann dritten Schulgebäudes).  "Wie das Dorf zur zweiten Schule kam: Zoff mit dem Pfarrer, streitbarer Schultheiß, ein Klassenteiler von 90 und die Blutegel-Pleite " vollständig lesen

Vorreiter-Rolle des Enzkreises dank couragierter Christdemokratin und anderes für die Schlagzeile

Querbeet: Kreispolitisches in einer Woche.  Oder: Als Kreisrat auf Tour. Das gibt Antworten auf die Frage nach den Aufgaben eines Landkreises. Sie sind vielfältig, wie diese Beispiele aus fünf Tagen zeigen. Mit vertiefenden Einblicken für jene, die mehr wollen.

Los geht die Themenreise in Neuhausen.

In der Theaterschachtel: Landrat Bastian Rosenau, die Gleichstellungsbeauftragte Kinga Golomb und ihre Vorgängerin Martina Klöpfer (Foto: Günter Bächle)

Der Enzkreis war – und das denkt wohl den wenigsten – vor 35 Jahren der allererste Landkreis in Baden-Württemberg, der das Thema Gleichstellung institutionell und personell verankert und ihm damit eine echte Bedeutung zugemessen hat, so Enzkreis-Landrat Bastian Rosenau bei 35 Jahre Gleichstellungsstelle. Doch die Initiative kam nicht von der Kreisverwaltung, sondern ist ein Lehrstück, was auch ein Mitglied des Kreistags mit Hartnäckigkeit und Überzeugungsarbeit erreichen kann.  Wir sind stolz, dass seinerzeit der Antrag für die Schaffung von der Birkenfelder Kreisrätin Margarete Schäfer und damit aus unserer CDU-Fraktion kam.

Seite 24 ff: Margarete Schäfer in dem Bändchen mit Portraits von Kreisrätinen im Enzkreis (erschienen 2002, Landratsamt)

Der Kreistag hatte auf ihren Antrag 1986 in seiner Dezembersitzung eine „Frauenleitstelle für Rat suchende Frau und Mädchen“ beschlossen und dem Enzkreis damit ein schönes Weihnachtsgeschenk gemacht. Dass manche Männer im Kreistag den Posten für überflüssig hielten, auch mal feixten, lachten, den Antrag nicht ernst nahmen und ironisch analog einen Männerbeauftragten forderten, gehört auch zu dieser Geschichte. Doch das legte sich über die Jahre.

Dass es eine Initiative aus der bei manchen als konservativ verschrienen Union war, passt sicherlich ganz und gar nicht ins politische Weltbild mancher. Und bei der Jubiläumsfeier fiel nur einmal der Name, ohne Hinweis auf die CDU-Zugehörigkeit, aber mit dem Zusatz, von der Frauenunion. Nachsicht für die Spätgeborenen.

In der Öffentlichkeit heiß diskutiert werde das Thema, sagte Landrat Heinz Reichert. Natürlich gab es seinerzeit auch zunächst kontroverse Diskussionen in unserer Fraktion, der ich seit 1979 angehöre, doch Margarete Schäfer gelang es, den damaligen Fraktionsvorsitzenden Winfried Scheuermann aus Illingen als Unterstützer zu gewinnen. Sie ließ nicht nach und schwor schließlich ihre CDU als damals stärkste Fraktion im Kreistag auf ihren Kurs ein. Sie sei, sagte sie später in einem Gespräch mit Christel Rieke einer der Autorinnen des Bändchens über Kreisrätinnen von 1974 bis 2002, dem Landrat sicherlich manchmal auf die Nerven gegangen. Nun ja, das gehört zum Mandat. Widerspruch statt Kuschelkurs.

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Der langsame Abschied? Neuen Bäumen stehen Paragraphen im Weg

Lässt sich verhindern, dass immer mehr Bäume an Kreis- und Landesstraßen abgesägt und nicht wieder ersetzt werden? Ein langsamer und allmählicher Abschied?  Einst Alleen ähnlich, werden etwa die Lücken im Baumbestand an der Kreisstraße zwischen Bundesstraße 35 und Ortseingang Lienzingen oder an der Landesstraße 1134 auf der Höhe von Lienzingen in Richtung Zaisersweiher mehr und mehr breiter, schrieb ich in einer Kreistagsanfrage.
Aktuell: Immer mehr Lücken – vom Schützinger Sträßle aus aufgenommen. Im Blickfeld die Landesstraße auf der Lienzinger Höhe in Richtung Zaisersweiher. (Foto: Günter Bächle, Juni 2022)

Den Anstoß dazu gaben mit Kommentare in den sozialen Netzwerken zu diesem Foto:

  • Das ist mir auch schon aufgefallen. Letztlich spiegelt dies den landesweiten Rückgang an Streuobstbeständen.  Es wäre allerdings ein schönes Ankommen in Lienzingen, wenn rechts und links der Straße prächtige Obstbäume stünden.
  • Wir hören täglich von CO2,  aber einen Baum kriegen wir nicht gepflanzt.

Paragraphen stehen manchen Bäumen im Weg, zeigt die Antwort von Landrat Bastian Rosenau. Und 
höhere Unfallgefahren.  Trotzdem legt er ein Bekenntnis ab:

  • Das Landratsamt Enzkreis bemüht sich grundsätzlich sehr, vorhandene Bäume an Straßen zu erhalten.

Er verweist auf die enge Abstimmung von Landwirtschaftsamt und Straßenmeisterei des Amtes für Nachhaltige Mobilität bei der Pflege von – wie es amtlich heißt - Straßenbegleitgrün. So würden Bäume entlang der klassifizierten Straßen regelmäßig begutachtet, bei Bedarf durch geschulte Baumpflege-Firmen Maßnahmen zur Herstellung der Verkehrssicherheit sowie zur Verbesserung der Vitalität ergriffen. Nur im äußersten Notfall würden Bäume gefällt.

Und die vorhandenen Lücken? Zu Baumneupflanzungen schreibt Rosenau, die Bundesanstalt für Straßenwesen (bast) untersuche unter anderem die Auswirkungen von Bäumen an Straßen auf das Unfallgeschehen. Eine Erkenntnis aus dem Jahr 2021 sei beispielsweise, dass die Unfallschwere bei Fahrunfällen mit Abkommen von der Fahrbahn und Aufprall auf einen Baum achtmal höher sei, als bei einem Unfall ohne Aufprall. Selbst bei einer Kollision mit einer Schutzplanke sei die Unfallschwere im Durchschnitt noch dreimal höher. 

Eine weitere Bestätigung gab es, so der Landrat weiter, für die Tatsache, dass die Unfallhäufigkeit mit 
dem Anteil der Bepflanzungen im Seitenraum der Straße steige. Er verweist auf weitere interessante 
Erkenntnisse
 im Bericht Bäume und Verkehrssicherheit an Landstraßen bei der 
Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV).

  • Bäume beleben das Landschaftsbild, erfüllen vielfältige Aufgaben im Landschaftshaushalt und dienen der Erhaltung der biologischen Vielfalt

So im Rosenau-Text weiter. Außerdem habe Straßenbepflanzung eine positive Auswirkung auf die Straßenraumgestaltung und die Stabilität des Straßenkörpers.

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Pietà in der Röhre

Alte Dame und supermoderne Computerwelt: 42 Stunden lang musste die mehr als 500 Jahre alte und zudem ordentlich lädierte Pietà  aus der Frauenkirche Lienzingen in der Röhre ausharren. Jetzt ist die traurige Mutter Gottes virtuell in Schichten zerlegt. Ein gewaltiger Datenberg wuchs heran.  Über das spätgotische Skulpturenfragment, ihren inneren Zustand (Holzwürmer!) und ihre neue Beweglichkeit plauderte heute Dr. Michael Böhnel, Fraunhofer­ Institut für Integrierte Schaltungen IIS in Fürth zum Abschluss einer sechsteiligen Veranstaltungsreihe der Volkshochschule Mühlacker.

Das Duplikat der Skulptur aus der Frauenkirche, aber mit Gesicht: Maria, ihren toten Sohn Jesus auf dem Schoß tragend. Die Arbeit von Bildhauer Thomas Hildenbrand (Foto: Günter Bächle_Juli_2022)

Die 1,60 Meter hohe Skulptur aus Lindenholz gehört zu jener Gattung von Kandidaten, die das Maß für einen normalen Computertomographen sprengen. Extra für solch große und schwere Fälle unterhält das Entwicklungszentrum Röntgentechnik (EZRT) des Fraunhofer Instituts e.V. in Fürth seit Jahren eine hochmoderne CT-Anlage, eingesetzt auch für einzigartige Kunst­ und Kulturgüter. So soll  eine zerstörungsfreie Analyse des Aufbaus und der inneren Strukturen ermöglicht werden. Das Institutsteam ermöglicht einen Einblick in die aktuelle CT­Technik und Resultate spannender Objekte aus den Bereichen der Paläontologie, Archäologie und musealen Sammlungen, heißt es denn auch auf der Web-Seite des Instituts.

 

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Die Pietà, der unterschätzte Schatz aus der Frauenkirche - Bald in Paris zu sehen?

Vergessen, unterschätzt, nicht beachtet, nicht einmal einen Hinweis erschien sie wert zu sein: die etwa einen Meter und sechzig Zentimeter hohe Skulptur aus der Frauenkirche in Lienzingen. Als aus dem Gotteshaus inmitten des Lienzinger Friedhofs 1977 das Altarkruzifix gestohlen wurde - das dem in der Maulbronner Klosterkirche ähnlich sah - und bis heute verschollen ist, ließ die Stadtverwaltung dieses Holz-Kunstwerk sicherheitshalber ins Heimatmuseum nach Mühlacker transportieren.

Die Pietà im Mittelpunkt der offenen Werkstatt in der historischen Kelter in Mühlacker. Erster Vortragsabend mit knapp zwei Dutzend Besucher - es könnten mehr werden. Links Martina-Terp-Schunter, die Museumsleiterin (Foto: Günter Bächle).

Vorher stand sie in der Sakristei, in der bis zum Bau der Leichenhalle die Särge mit den Toten vor der Beerdigung aufgebahrt wurden. Das war also nicht gerade der Umschlagplatz für Besucher der ehemaligen Wallfahrtskirche des Klosters Maulbronn. Und so fristete die Pietà im wahrsten Sinne des Wortes ein Schattendasein. Nicht viel anders erging es ihr im Museum in der historischen Kelter in Mühlacker: In einer Vitrine im Obergeschoss, ohne Beschriftung. 

Doch dann entdeckten Mitglieder des Historisch-Archäologischen Vereines um Wolfgang Rieger und Hans Peter Walther den unterschätzten Schatz. Seitdem steht er im Mittelpunkt kunsthistorischer, fast schon kriminalistischer Spurensuche. Ist die Pietà aus der Frauenkirche, eine Skulptur mit Maria, die ihren am Kreuz gestorbenen Sohn Jesus in den Armen hält, wenn auch kopflos bald als Leihgabe im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe und im Centre Pompidou in Paris zu bestaunen? Gespräche laufen jedenfalls.

Jedenfalls beeindruckt ein Hinweis des HAV besonders: Die Pietà stehe seit der Einweihung der Liebfrauenkirche  ums Jahr 1486 in eben dieser.  Wer schlug dem jetzigen Torso einst den Kopf ab? Bilderstürmer in der Reformation? Österreichische Truppen, die 1796 in dem Gotteshaus ihr Quartier aufschlugen und das Gestühl verbrannten?

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Der von der Hinteren Gasse und die Frischzellenkur für Kulturdenkmale

Quartiers-Report Hintere Gasse.

Hintere Gasse, Herzenbühlstraße – der Stoff für meine ganz eigene Quartier-Geschichte.  Gemischt, durchmischt, Notizen von Menschen mit Empathie für Fachwerk, ihrer aktuellen Frischzellenkur für die frühere Zehntscheuer und den Häusern Nummer 3 und 4. Meine Geschichte, weil ich dort in einer der schönsten Gassen des Enzkreises aufwuchs, um Streiche nie verlegen und ständig auf Tour. Dort starb an einem trüben April-Sonntag mein Vater, dort startete ich aber auch in den Journalismus, fand die Arbeit in der Jungen Union plötzlich interessanter als Unterricht und Vokabeln pauken (heute weiß ich, dass die Rangfolge falsch war) . . . In einer Arbeiterfamilie von damals konnten die Eltern dem Filius selten bei den Hausaufgaben helfen. Die Sache mit der Herkunft und ihre Folgen. 

Die frühere Zehntscheuer wandelt sich zu einem Wohnhaus.(Aufnahme Februar 2022)

Aus dem gleichen Blickwinkel: die Scheuer im Jahr 2019

Die Hintere-Gasse-Story bunt, persönlich, kommunal. Dabei plante ich eigentlich nur Bild + Text für den Blog zu den aktuell größten Projekten vor dem Auslaufen des Sanierungsprogramms Ortskern Lienzingen Ende April 2022 (dem möglichst 2023 ein neues folgen soll). Mächtig stolz können wir sein über dieses private Engagement. Ergänzen sie doch mit ihren Schmuckstücken in spe die vorhandene prächtige Fachwerkfront zur Straße hin.  

Der, der aus der Herzenbühlstraße kam. Zwischen heutiger Knittlinger Straße, nördlichem und östlichem Scheunengürtel, sowie Scherbentalbach von 1952 bis 1957 in der heutigen Knittlinger Straße 8, danach bis Ende November 1970 in der Herzenbühlgasse 25 (dann noch zwei Stationen: später Brühlstraße und seit 1984 Lohwiesenstraße -  eigenes Häusle, mit Fachwerk und aus Holz auch in einem Neubau? Bewusst ja, wiewohl sich damit selbst Zimmerleute vor mehr als vier Jahrzehnten schwertaten. Handwerkskunst verschludert: Stadt der herkömmlichen Zapfenverbindung zwischen den Balken schnell Metallstücke über das Eck angeschraubt. Mich schaudert dies heute noch - so klein sie auch sind, manchmal geraden sie doch ins Blickfeld.

Immer der Heimatort. Scherzhaft die Frage: Aus Lienzingen nie hinausgekommen?  - Die Antwort: Doch, aber bald immer zurückgekehrt. Muss einen Grund haben. Anderen geht es wohl auch so.

Etwa1954 auf dem Traktor von Landwirt Kontzi in der Hinteren Gasse: Gerhard vorwitzig am Steuer. Beate mutig, Rolf und Günter trauen den Fahrkünsten dann doch nicht

 

Der aus der Hinteren Gasse: als Lienzinger Kandidat für den Mühlacker Gemeinderat im September 1975

Hintere Gasse? Amtlich ist die Gasse auf jeden Fall eine Straße. Das steht fest. Was gilt nun?  In einem alten Plan, der auch im kleinen Saal der Gemeindehalle Lienzingen an die Wand projiziert wurde, war es die Hintere Gasse - und alte oder auch jüngere Lienzinger verwenden heute noch gerne dieses Wort. Mir rutscht dieser Name  auch öfters heraus.

Doch eine Akte aus dem Stadtteilarchiv Lienzingen enthält eine Straßenaufstellung für Lienzingen vom 22. Dezember 1969, unterzeichnet von Bürgermeister Richard Allmendinger. Dort ist noch die Herzenbühlgasse aufgeführt, aber bereits handschriftlich mit Bleistift in „-straße“ geändert worden. So blieb es auch 1972 im Zuge der Umstellung von durchlaufenden Gebäude-Nummern auf straßenweise vergebene Haus-Nummern.

Jetzt kommt der aus der Hinteren Gasse, murmelte Bernhard Braun, sozialdemokratisches Urgestein, Eisenbahner, verdienstvoller Stadtrat und zeitweise stellvertretender Bürgermeister so vor sich hin, dass ich seine Worte hören sollte.

Das war im Herbst 1975 im Saal der Feuerwache an der Rappstraße in Mühlacker. Mit gerade 24 Jahren war es meine erste Sitzung als Ratsmitglied, quasi als die eine Hälfte der Lienzinger Vertretung, die mehr als ein Vierteljahr nach der Zwangseingemeindung im September 1975 gewählt worden war.

Ja, ich war der aus der Hinteren Gass. Dabei wohnten meine Mutter und ich damals schon seit fast sechs Jahren in der Brühlstraße 14. Hintere Gasse? Im Flecken das andere Wort für Herzenbühlgasse oder -straße. Hintere Gasse als Synonym für das Letzte? Der Braun`sche Ausspruch blieb ein Rätsel. Bei ihm hatte ich jedenfalls meinen Ruf weg.

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Kommunale kämpften für Tempo 15 auf der Ortsdurchfahrt und mit vergiftetem Hafer gegen Feldmäuse in den Kleeäckern

Gemeinderat Geissler erhielt 1931 einen wichtigen Posten in dem seinerzeitigen Bauerndorf - als Schweinezähler. So bunt, vielfältig, aber auch skurril waren Themen, über die in dem dicken Buch geschrieben steht und die die Lienzinger Gemeinderäte in den vermeintlich Goldenen Zwanzigern und zu Beginn der 19-dreißiger Jahren beschäftigte: Pumpen und Leitungen für die Wasserversorgung, die Zucht-Stiere, das Vergiften von Feldmäusen in den Kleeäckern - für eine Abwechslung, wenn auch keine gewollte, sorgte 1930 der Blitz, denn er schlug in den Dachreiter der in kommunalem Eigentum stehenden Frauenkirche ein. Ein besonders kritischer Punkt schafft es aber auch heute noch garantiert auf die Tagesordnungen in den Ratssälen - die Verkehrsbelastung, denn die Motorisierung blieb auf Wachstumskurs. Zudem begann zum Ende dieser demokratisch legitimierten Ratsarbeit eine Ära: Im Frühjahr 1933 pachtete der Mühlacker Fabrikant Friedrich Münch die Gemeindejagd - sie blieb bis 2018 in der Familie Münch.

Zehn Mitglieder zählte der Lienzinger Gemeinderat im Jahr 1925 – dem Jahr, als das neue Protokollbuch beschafft wurde, sechs Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Ausrufung der deutschen Republik. Bis einschließlich 1943 – und damit vier Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges - finden sich darin alle Beschlüsse und Beratungen des Ortsparlaments der bis 1975 selbstständigen Kommune.  Immer eingetragen, fast durchweg handschriftlich, von einem Einzigen: Bürgermeister Karl Brodbeck. Als Element der Kontinuität bezeichnet ihn der Historiker Konrad Dussel (Ortsbuch Lienzingen, 2016. S. 172 f).

Handgeschrieben vom Schultes: Ratsprotokoll hier mit der Forderung nach Tempolimit 15 km/h auf der Ortsdurchfahrt
1925 bis 1943: Die Einträge des fleißigen Bürgermeisters, der nicht nur die Ratssitzungen und die Verwaltung leitete, sondern auch das Protokollbuch immer aktuell hielt (Foto: Sandra Schuster)

Was die Lienzinger damals beschäftigte, lässt sich noch heute nachlesen im Stadtarchiv Mühlacker (STAM, Li B 322). Denn die akribische Fleißarbeit des Mannes, der von 1920 bis 1945 Schultes war in dem Bauerndorf mit nicht einmal tausend Einwohnern, ist gleichzeitig Nachschlagewerk über die großen und kleinen Probleme, über den Alltag von Bauern, Händlern und Arbeitern in Krisen- und Kriegsjahren, aber auch freudiger Anlässe in dem zum Oberamt Maulbronn und von 1938 an zum Kreis Vaihingen gehörenden Gemeinwesen.

Immer wieder standen damals schon Verkehrsthemen auf der Tagesordnung. Kein Wunder, zweigeteilt durch die große Überlandverbindung von Stuttgart in die Rheinebene nach Speyer, der damaligen Reichs- und heutigen Bundesstraße 35, litt Lienzingen unter Lärm und Abgasen, zog aber auch wirtschaftliche Vorteile daraus...

Erst seit 1951/52 entlastet die Umgehungsstraße. Weil durch den Ort, am Adler-Eck (heute Bäckerei Schmid) und damit einem Unfallschwerpunkt vorbei, für jene Zeit viele Fahrzeuge über die gepflasterten Straßen donnerten, lohnten sich auch zwei Tankstellen, 1928 und 1929 montiert in der heutigen Friedensstraße, obwohl in Lienzingen nur zwei Kraftfahrzeuge amtlich gemeldet waren.

Lienzinger Geschichte(n) in Serie. Kurt Brodbeck, von 1920 bis 1945 Bürgermeister (zuvor in Schützingen). Zeitweise versah er den Chefposten im Lienzinger Rathaus mit dem in Zaisersweiher. Seine Ratsprotokolle als Tagebuch des Lebens in einem schwäbischen Dorf von 1925 bis 1943

Autos brauchen Sprit. Zwei erkannten darin eine Chanche auf zusätzliche Einnahmen. Beiden Anträgen stimmte der Gemeinderat zu: Den ersten reichte Albert Schnabel - Gemischtwarenhändler - für den Standort nahe Rathaus ein  (Hauptstraße 60, heute Friedenstraße 12), den zweiten dann für einen Platz vor dem jetzigen Anwesen Link, seinerzeit Lehr Witwe (Hauptstraße 111, jetzt Friedenstraße 26).

So steht im Protokoll der Ratssitzung vom 6. Juli 1929:

 Nr. 3 Friederike Lehr hier beabsichtigt durch die Deutsch=Amerikanische Petroleum Gesellschaft Mannheim auf ihrem Hofraum vor dem Geb. No. 7-111 eine Dapolin=Pumpanlage errichten zu lassen. Der Gemeinderat hat hiergegen nichts einzuwenden  (STAM, Li B 322, S. 170). (Dapolin war ein Kraftstoff).

Bürgermeister Karl Brodbeck, aufgenommen etwa 1934. Geboren 9. Juli 1886 in Vellberg, bei Schwäbisch Hall, gestorben 8. Juli 1967 in Lienzingen. Bürgermeister in Lienzingen 1922-1945. (Smlg. Kuno Brodbeck)

Doch die Lienzinger sahen ihre gute Verkehrsanbindung auch kritisch, weshalb sie Tempo 15 auf der Ortsdurchfahrt forderten und dies beim württembergischen Innenministerium  auch beantragten. Heutzutage dagegen wird das Tempolimit eher bei 30 Stundenkilometern gesehen. Die aktuelle Frage im Jahr 2022: Muss weiterhin nur auf einem Teilstück der Durchgangsstraßen Friedenstraße und Zaisersweiherstraße Tempo 30  eingehalten werden oder wird diese Geschwindigkeitsbremse auch für die restlichen Teile noch angeordnet, wie es im Lärmaktionsplan für die Stadt Mühlacker verlangt wird. Wie sich die Probleme ähneln, auch wenn rund 90 Jahre dazwischen liegen.

So heißt es im Protokoll der Ratssitzung vom 12. Februar 1929 (S. 150 f):

"Kommunale kämpften für Tempo 15 auf der Ortsdurchfahrt und mit vergiftetem Hafer gegen Feldmäuse in den Kleeäckern" vollständig lesen