Skurriles, Kurioses, Rares, Komisches - die kurzen Nachrichten in den Lienzinger Protokollbüchern auch ein Stück Dorf-Geschichte
Ja, die Protokolle über die Beratungen des Gemeinderates der selbstständigen Kommune Lienzingen lassen einen nicht selten schmunzeln. Dinge gab's, die gibt es heute nicht mehr und die muten jetzt als skurril oder kurios an. Über einige wird hier gebloggt. Die Sammlung erhebt nicht den Anspruch auf Vollzähligkeit. Vor allem aber, sie blieb quasi im Ur-Zustand, die - hier kursiv gestellten - Texte sind weder nachträglich redigiert noch der aktuellen Rechtschreibung oder neue politischen Normen angepasst worden.
Das waren noch Zeiten, als die Gemeinden sich noch um die Fortpflanzung von Rindviechern kümmerte. Den Lust-Verlust durch künstliche Besamung gab es noch nicht. Vatertierhaltung nannte sich dies. Um den Farren kümmerte sich seinerzeit Landwirt und Gemeinderat Eberhard Pfullinger. Am 4. September 1959 befasste sich der Lienzinger Gemeinderat mit einem Schreiben des Tierzuchtamtes Ludwigsburg:
Das Tierzuchtamt Ludwigsburg hält die bisher gewährten Verpflegungsgelder für die Vatertierhaltung zu nieder. Es ist der Auffassung, daß dem Tierhalter durch eine entsprechende Erhöhung die Voraussetzung für eine bessere Haltung und Pflege der Tiere geschaffen werden kann und schlägt ein jährliches Verpflegungsgeld von ca. 1000.-- DM je Farren vor. Weiter bemerkt es, daß die Aufwendungen der Gemeindeverwaltung für die Bullenhaltung im höchsten Maße werteschaffend sei und daher zu den Grundsätzen der Sparsamkeit durchaus nicht im Widerspruch stehe Zu der Frage der Neufestsetzung des Pflegegeldes meinte der Vorsitzende, daß neben der Erhöhung des Pflegegeldes die Schaffung eines geeigneten Farrenstalles ebenso notwendig sei. Letzteres müsse allerdings wegen der laufenden grösseren Bauvorhaben in der Gemeinde zurückgestellt werden.
Nach weiterer Beratung fasste der Gemeinderat den Beschluss, Das Verpflegungsgeld je Farren mit Wirkung vom 1. Oktober 1959 an auf 900 DM einschließlich des Wertes der Farrengrundstücke (pro Farren 100 DM = 300 DM) festzusetzen. (STAM, Li B 325, S. 289)
Dazu passt der Eintrag ins Protokollbuch des Rats unter dem Datum vom 30. Juni 1949 über höchst wichtige Aufgaben eines Ratsmitgliedes:
Am Samstag, den 2.7.49 vorm. um 8 Uhr findet in Vaihingen/Enz eine staatl. Bezirksrinderviehschau statt. Da die Gemeinde selbst einen Farren zur Prämierung bringt, sollte eine Abordnung dorthin gesandt werden. Der Bürgermeister, die Gemeinderäte Bonnet und Rommel sind verhindert. Die Gemeinderäte Häcker und Roos werden deshalb an deren Stelle die Gemeinde vertreten.
Lienzinger Geschichte(n); meine lokale Web-Serie zur Nachkriegshistorie unseres Dorfes, bis 1975 selbstständige Kommune, heute Stadtteil von Mühlacker. Aus Protokollen und Akten, aber auch aus Gesprächen zusammengetragen. Der Stoff mancher Geschichten reicht aber auch weiter zurück. Lienzingen, ein selbstbewusstes Dorf.
Was es nicht alles gab! Zum Beispiel eine Fünftagewoche für die Bürgermeister und die anderen Mitarbeitenden der Gemeinde. Nicht verkündet mit Hinweisen auf Tarifvertrag, Arbeitgebervereinigung oder Gewerkschaften. Dazu findet sich im Protokoll der Sitzung des Gemeinderates von Lienzingen vom 28. März 1958 unter Paragraf 3 folgender Eintrag, der indessen uns so ganz fremd nicht ist - in weniger Arbeitsstunden das gleiche Pensum wie vorher erledigen:
Der Vorsitzende teilt mit, dass die Bürgermeistervereinigung beschlossen habe, mit Wirkung vom 1. April 1958 an die Fünftagewoche einzuführen. Es werde also bei den Bürgermeisterämtern an Samstagen nicht mehr gearbeitet. Die dadurch ausfallenden Arbeitsstunden werden auf die Wochentage verteilt. An jedem Dienstag wird die Sprechstunde auf 19 Uhr ausgedehnt. Trauungen werde er nach wie vor an Samstagen halten, wenn es gewünscht werde. Der Gemeinderat erklärte sich damit einverstanden. (STAM, Li B 325, S. 196)
Schultes ohne Telefon. Anno 1949, als Telefonanschlüsse noch rar waren, musste Bürgermeister Richard Allmendinger zum Kolonialwarenhändler Eugen Benzenhöfer, wenn außerhalb der Dienstzeiten des Schultes ein Telefonat einging. Steht so jedenfalls in der Niedersachrift der Ratssitzung vom 30. Juni:
Der Gemeinderat nimmt Kenntnis von dem Erlass des Landratsamts vom 22.6.49 bezüglich des Fernsprechanschlusses des Bürgermeisters, der jederzeit auch ausserhalb der Dienststunden erreichbar sein soll. Dem Landratsamt wird berichtet werden, dass der Bürgermeister unter der Nr. 238 - Eugen Benzenhöfer - ausserhalb der Dienststunden erreichbar ist. Später soll auch ein Nebenanschluss errichtet werden. (Stadtarchiv Mühlacker, STAM, Li B 323, S. 174)
Lienzingens Gemeinderäte und sein Bürgermeister waren die besten Schul-Lobbyisten. Als der Verlust der dritten Lehrstelle an der örtlichen Volksschule drohte, setzte der Rathauschef dies als Punkt zwei auf die Tagesordnung der Ratssitzung vom 28. März 1958. Ergebnis: Energischer Protest und Fahrt einer Delegation zur Vorsprache beim Oberschulamt in Stuttgart - neben dem Schultes mit den Gemeinderäten Schmollinger und Ferschel sowie Schulleiter Kießling. Ins Ratsprotokoll schrieb Allmendinger:
Dem Gemeinderat wird von der geplanten Aufhebung der 3. Lehrstelle berichtet. In der Ortsschulratssitzung haben sich Ortsschulrat u. Elternbeirat einmütig darüber geeinigt, daß die Aufhebung der 3. Lehrstelle nicht ohne weiteres hingenommen werden darf. Auch der Gemeinderat spricht sich geschlossen gegen die Abschaffung der 3. Lehrstelle aus. Es sei ganz klar, daß 2 Lehrkräfte keinesfalls 3 ersetzen können. Die Belastung für den Lehrer der unteren Klassen 1-4 mit jetzt 57 Schülern (Anmerkung des Chronisten: einer davon war ich) , darunter 15 Schulneulinge ohne vorschulische Kindergartenerziehung, wäre zu groß u. die Belegung des in Frage kommenden unzulänglichen Klassenraumes mit einer so großen Schülerzahl unverantwortlich. Die Gemeinde habe sich seit Jahren bemüht, für den Schulhausneubau Rücklagen anzusammeln u. stehe nun vor dem beginnenden Neubau einer Volksschule. Der Abbau komme gerade zum jetzigen Zeitpunkt sehr ungünstig. (STAM, Li B 325, S. 196)
Wirtschaftsförderung würde das heutzutage genannt: Die Komune half dem örtlichen Bäckermeister Lehner vorübergehend mit dem Gemeindebackhaus aus. Lehner - sein Betrieb war in der heutigen Knittlinger Straße - berichtete in der Ratssitzung vom 1. März 1948
(...) über den Zustand seines Holzbackofens, der möglichst sofort erneuert werden sollte. Er habe sich deshalb entschlossen, einen Kohlenbackofen einbauen zu lassen. In der Zeit der Vornahme der erforderliochen Baumaßnahmen müsse er selbstverständlich auch seine Kundschaft versorgen. (STAM Li B 323, S. 68)
Und nicht in finanzielle Not sollte Mühlacker geraten, auch wenn es sich um kleinere Beträge handelte, fanden die Lienzinger: Zur Nachbarschaftshilfe in der Ratssitzung vom 30. Juni 1949 ist zu lesen:
Die Stadtgemeinde Mühlacker beabsichtigt, den Beitrag von 14.-- auf 20.-- DW vom Rechnungsjahr 1949 ab zu erhöhen, da die bisherige Umlage in keiner Weise mehr dem erhöhten Aufwand entspräche. Sie bittet die Gemeinde, deren Schülerinnen die dortige Hauswirtschaftsschule besuchen, um ihr Einverständnis. Da es für die Gemeinde in absehbarer Zeit keine andere Möglichkeit gibt, erklärt sich der Gemeinderat damit einverstanden.
Und auf der gleichen Protokollseite betätigte sich der Rat als Streit-Vermeider:
Die EVS Enzberg haben bei einer Kontrolle festgestellt, dass die Lampenstellen der Schmiede, des Backhauses und des Feuerwehrmagazins nicht am Zähler angeschlossen sind. Ausserdem sind in dem Hause 2 Familien, deren Verbrauch über einen Zähler gezählt wird was in der Regel zu Streitereien führt.
Die salomonische Entscheidung: Jeder bekommt einen eigenen Zähler. (STAM, Li B 323, S. 174)
Belohnung für den Müll-Abführer:
Erhöhung der Entschädigung für die Müllabfuhr. Fuhrunternehmer Hornickel, Illingen, erhielt bisher für die Müllabfuhr eine monatliche Belohnung von 395.90 DM incl. Mehrwertsteuer bei 1300 Einwohnern. Da sich die Einwohnerzahl zum 30.6.69 auf 1460 erhöht hat, bittet er um Erhöhung seiner Belohnung auf monatlich 446.20 DM. Beschluß: Fuhrunternehmer Hornickel, Jllingen, mit Wirkung vom 1. Jan. 1970 eine Belohnung von monatl. 446.20 DM incl. Mehrwertsteuer zu bewilligen.
Jeder kehre vor seiner eigenen Tür:
Gemeinsame Straßenreinigung: Die benachbarte Gemeinde Jllingen plant die gemeinsame Straßenreinigung mit anderen Gemeinden. Sie stellt der Gemeinde Lienzingen anheim, sich daran zu beteiligen. Der Gemeinderat ist jedoch der Meinung, daß die Reinigung der Ortsstraßen durch die Gemeinde derzeit noch nicht so dringlich ist, weil sie immer noch vom überwiegenden Teil der Bevölkerung ausgeführt werde und beschließt: Von der Beteiligung an einer gemeinsamen Straßenreinigung vorerst abzusehen.
Nur nix der Bank lassen:
Bei der Mühlacker Bank in Mühlacker befindet sich zugunsten des früheren Ortsviehversicherungsvereins noch ein Guthaben von 30.97 DM. Da der Ortsviehversicherungsverein schon seit Jahren nicht mehr besteht, wird auf Wunsch der Bank das Guthaben von 30.97 DM zu übernehmen und es für landwirtschaftliche Zwecke zu verwenden.
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