Anno 1948: Baulinie am Brühlsträßchen - Doch die Bauwollenden wollten mehr als dem Bürgermeister notwendig erschien

(Thema Wohnungsbau 2/2)

Flächenverbrauch, Flächenfraß - die Worte waren den Menschen in den Jahren nach der Befreiung 1945 fremd. Wohnungsnot - das war das höchst aktuelle Wort der damaligen Zeit. Und das größte Problem, das es zu lösen galt. So findet sich in den, im Stadtarchiv Mühlacker liegenden Akten der selbstständigen Gemeinde Lienzingen ein Protokoll der Ratssitzung vom 30. November 1948 mit der Signatur Li B 323, Seite 125.

Ortsbauplan für Lienzingen aus 1939 von der Beratungsstelle des Innenministeriums Württemberg in Stuttgart im Entwurf 1:500. Zentraler Vorschlag: Ein Wohngebiet Brühl und die Bebauung des Gebiets nach dem jetzigen Ortsrand beidseits der heutigen Knittlinger Straße. Der Krieg verhinderte die Umsetzung der Planung, auf die die Württembergische Heimstätte schon spekulierte (Quelle: STAM, Li A 72)

Der erste Punkt der Tagesordnung: Bereitstellung von Baugelände. Bürgermeister Richard Allmendinger berichtete den acht Ratsmitgliedern von einer Bürgerversammlung fünf Tage zuvor über die Zukunftsaufgaben der Kommune, insbesondere über die Möglichkeiten und Aussichten bezüglich der Planung und Schaffung von Bauplätzen. Nach einer regen Aussprache sei von der versammelten Bürgerschaft eine Art Resolution gefasst worden, in der die Ausdehnung des Baugeländes an der Brühlstraße bis zum Grundstück Ott und von dort in westlicher Richtung bis zur Umgehungsstraße und Kohlplatte gefordert werde. 

Bei genauer und sachgemäßer Prüfung der vorliegenden Verhältnisse erscheine die Forderung ihre volle Berechtigung zu haben, sagte Allmendinger, seit einem Jahr im Amt. Aber er hielt es für fraglich, dass die zuständigen Stellen die Ausweitung des Baugeländes in solchem Ausmaß genehmigen. Dabei verfügte die knapp 1000 Einwohner zählende Kommune zumindest schon über ein Instrument, auf das sie nun zurückgreifen konnte und um das andere sie beneideten:  Der Baulinienplan, am 21. Januar 1930 vom Oberamt in Maulbronn besiegelt und damit in Kraft gesetzt, war zuvor in Lienzingens Gemeinderat diskutiert und beraten worden. In der öffentlichen Bekanntmachung vom 19. November 1929 - angeschlagen & durch Ausruf - steht, dass der Entwurf zur Einsichtnahme eine Woche lang auf dem Rathaus öffentlich ausliege. Bürgermeister Karl Brodbeck (im Amt 1920 bis 1945) verwies auf die Zustimmung des Gemeinderats vom 12. November 1929 zur Baulinie am Brühlsträßchen.

Ein Ausschnitt aus dem Ortslinienplan von 1930 für das so genannte Brühlsträßchen (Quelle: STAM, Li A 72)

Als ein größeres Projekt erwies sich dann Jahre später der Ortsbauplan. Die zuständige Beratungsstelle beim Württembergischen Innenministerium legte einen Entwurf im Maßstab 1:500 vor, für den sie der Kommune 120 Reichsmark berechnete, und sandte diesen am 7. August 1939 dem Bürgermeister der Gemeinde Lienzingen. Es handelte sich um das Gebiet westlich des Ortsweges Nummer 1 und südlich des Feldweges Nummer 171. Das Ministerium riet dazu, diesen Plan nur abschnittsweise jeweils entsprechend dem tatsächlich vorhandenen Baubedürfnis in dem dortigen Gebiet festzustellen und den vom Landmesser zu fertigenden Teilplan vor seiner Fertigstellung uns noch einmal zur Begutachtung vorzulegen.

Eine Lichtpause, so die Beratungsstelle an Bürgermeister Brodbeck, erhalte die Württembergische Heimstätte, die unseres Wissens eine Siedlung in diesem Gebiet plane.

Und wo lag dieses zweite Gebiet nun? Ein Blick auf den Ortsbauplan sah nicht nur ein Wohngebiet im Brühl vor, sondern ein weitaus größeres beidseits der heutigen Knittlinger Straße: Zwischen der jetzigen Schelmenwaldstraße und dem Ortsrandweg unter Einbeziehung des Forsthauses sowie auf der anderen Seite der Knittlinger Straße bis hinab auf Höhe der scharfen Kurve in der Herzenbühlstraße. Das hätte bedeutet: Kein freier Blick mehr auf den historischen Scheunengürtel, auf den die Lienzinger stolz sind und der einer der Kernpunkte des heutigen Etterdorfs ist. Zum Glück wurde dieser Plan, vom Brühl abgesehen, nicht realisiert. Damit lässt sich auch das Gerücht aus der Welt schaffen, in Allmendingers Amtszeit sei dieses Wohngebiet beidseits der Kreisstraße in Richtung B35 aktiv betrieben worden.

Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn in der Gemeinderatssitzung vom 19. Januar 1973 stand die Überarbeitung des Flächennutzungsplanes durch die Beratungsstelle des Regierungspräsidiums Stuttgart als erster Punkt auf der Tagesordnung. Die geplante Wohnbaufläche im Aichert sei wegen dessen Höhenlage erst nach dem Bau eines neuen Wasserhochbehälters machbar. Weil sonst mögliche Bewohner buchstäblich auf dem Trockenen sitzen würden, komme diese Fläche zunächst nicht in Betracht. Andererseits gebe es eine anhaltende Nachfrage nach Baugrundstücken, sagte der Bürgermeister. So schlug er als Alternative das Gewann Stickel vor – beginnend zwischen den Gebäuden Herzenbühlstraße 22/1 und 24 in Fortsetzung des dazwischen entlang führenden Fußweges, der in der scharfen Kurve rechter Hand beginnt.

Das wäre dann das Wohngebiet geworden, das 1939 vorgeschlagen wurde und das die freie Sicht auf den Scheunengürtel genommen hätte – nur (zunächst) nicht im Südwesten, sondern von Südosten her. Das Ergebnis wäre kulturhistorisch gleichermaßen vernichtend gewesen. Allmendinger sagte, nach den Erfahrungen mit den wichtigsten Trägern öffentlicher Belange sei diese Fläche wohl am schnellsten baureif zu machen, allerdings müssten die Grundstückseigentümer mitmachen und bereit sein, ihr Gelände zu einem angemessenen Preis abzugeben. Der Gemeinderat stimmte laut Protokoll nach kurzer Beratung zu, vergab den Planungsauftrag an das Regierungspräsidium und die Höhenaufnahmen an das Büro Peter Greb aus Huchenfeld zum Honorar von 7174 Mark für die 20 Hektar große Fläche (STAM, Li B 327, S. 202 und 221 f).

Doch 1974 ging der neue Wasserhochbehälter im Wannenwald in Betrieb, die Stadt Mühlacker griff nach der Eingemeindung 1975 die Pläne für die Stickel nicht auf. Zum Glück für den historischen Ortskern. Lienzingen wuchs im rückwärtigen Bereich des Aichert auf der Höhe. Das neue Wohngebiet für den Stadtteil entstand in der Vorderen Raith, das Zweite in Fortsetzung der Vorderen Raith in den Pferchäckern.

Weiteres Teilstück des Baulinienplans Brühl von 1930

Schwerpunkt Brühl: Zurück zur Bürgerversammlung im November 1948. Klar und unbestritten war, dass im Brühl die wohnbauliche Entwicklung in den nächsten Jahren erfolgen soll. Strittig blieb, in welchem Ausmaß. Der von den Bürgern verlangten Ausweitung des Baugeländes erscheine berechtigt zu sein, so Allmendinger, doch äußerte er in der besagten Gemeinderatssitzung am 30. November 1948 auch Bedenken. Die Begründung fehle, die diese Ausdehnung rechtfertigen würde, da wohl nicht behauptet werden könne, der Bedarf an Baugelände sei erheblich - eine Position, der angesichts der Zahl zugezogener Flüchtlinge und Vertriebene der Schultes später abschwor.

Andererseits sei es eben einfach unmöglich, dass diejenigen Bauwollenden, die Grundstücke am Rande des bisher vorgesehenen Baugeländes besitzen, einen geeigneten Bauplatz zuzuweisen, wenn man von einer Enteignung absehen möchte, so Allmendinger. Das Ergebnis der denkwürdigen Beratungen: Den Bürgervertretern sei die Dringlichkeit wohl bewusst. Deshalb solle versucht werden, einen Grundstückstausch mit dem Staatsrentamt voranzutreiben, damit etwaigen Baulustigen in Kürze ein Bauplatz zugeteilt werde könne. 

Das Wohngebiet Brühl im Jahr 1959 (Slg. SMA)

Letztlich kam es so, wie der Bürgermeister es für richtig hielt - ein Wohngebiet Brühl in Häppchen und somit in mehreren Teil-Bebaungsplänen: Vorderer Brühl, südlicher Brühl, Brühl-West, mittlerer Brühl...  zumal auch die Aufstellung von weiteren Bebauungsplänen an den Kräften zehrten: Aichert, Mühlweg, Raith, Scherbental, Spottenberg. Unter anderem am 18. März 1955 machten die Bürgervertreter den Weg frei für den Verkauf von weiteren Bauplätzen - im Gebiet "Unter dem Aichert" - mit jeweils 6,9 Ar für zwei Mark den Quadratmeter. Das zeigt, dass es der Gemeinde gelang, durch den vorherigen Aufkauf von Gelände die Baulandpreise stabil niedrig zu halten. Weiteres Instrument war das spezielle Vorkaufsrecht der Gemeinde für den ersten Verkaufsfall nach dem Paragrafen 23 des Aufbaugesetzes, das der Gemeinderat über den Bebauungsplan sicherte.

1974: Bürgermeister Richard Allmendinger nimmt den neuen Wasserhochbehälter in Betrieb - unter anderem Voraussetzung für Baugebiet an den oberen Hängen des Ortes. (Foto: Alfred Hannig, Sglg. Günter Bächle)

So in der Sitzung am 28. Oktober 1949 im dritten Punkt der Tagesordnung: Bebauungsplan der Gemeinde Lienzingen. Es findet sich in der Niederschrift keine Bezeichnung für diesen Plan, vermutlich handelt es sich aber um das Gebiet Brühl. Er legte weitgehend nur Baulinien für ein Teilgebiet fest in der Hoffnung, nun über genügend Bauplätze für die Nachfrage in den folgenden fünf bis zehn Jahren zu verfügen. Vorausgegangen seien langwierige Verhandlungen mit den in Frage kommenden Grundstückseigentümern, doch dann sei es doch gelungen, erste größere Liegenschaften zu erwerben, protokollierte der Bürgermeister (STAM, Li B 323, S. 196 und 325, S. 20).

Vorderer Brühl als Beispiel: Da halfen auch keine Baulinien mehr. Um die Fläche zwischen Frauenkirche und dem Haus Staib besser vermarkten zu können, beantragte die Gemeinde beim Straßenbauamt Besigheim, den Ortsetter - also die Grenze des Dorfes - bis zur Frauenkirche zu verlegen. Ziel war, somit eine weitere Ein- und Ausfahrt zur Landesstraße 1134 etwa auf der Höhe der Einmünduing aus Richtung Illingen zu schaffen.  Das Regierungspräsidium Nordwürttemberg lehnte Anfang 1966 ab, die Behörde  mit in Sitz in Stuttgart sah die Voraussetzungen für eine Zustimmung nicht erfüllt. Nebenbei: Deshalb blieb bis heute der Anschluss der Straße Bei der Frauenkirche auf Höhe des Hauses Ulmer an die Landesstraße eine verkorkste Sache. Die Firma Wolf & Müller wollte in dem Quartier von ihrer Ableger-Firma, der Fertighausbau in Denkendorf, eine Siedlung von 15 Gebäuden errichten. Der Kreisbaumeister in Vaihingen/Enz hatte die Sache schon abgesegnet, betrieben worden war das Projekt von dem Lienzinger Architekten Erwin Biedermann, so der Bürgermeiaster vor dem Gemeinderat im Februar 1966. Die Erschließung über die damalige Beethovenstraße erwies sich als schwierig, wäre nur auf Kosten eines Bauplatzbesitzers gegangen. Zudem verlangte der Gemeinderat ein Mitspracherecht bei der Vergabe der Wohneinheiten, wollte einheimische Bewerber vorgezogen haben. Letztlich scheiterte das Projekt nicht am Bebauungsplan, sondern am Geld. Die Grundstückseignümer verlangten 28 Mark je Quadratmeter, zehn Mark mehr als Wolff & Müller zu bezahlen gedachte. So jedenfalls lässt sich dem Ratsprotkoll der Sitzung vom 11. März 1966 entnehmen (STAM, Li B 328, S. 73 und 75).

Anno 1952: Erste Häuser entstehen im Brühl - (von der 1951 fertiggestellten Umgehung im Zuge der B35 aus aufgenommen (Foto: Volker Ferschel. Sglg. STAM)

Baulinien, Ortsbauplan, Teilbebauungspläne: Die Gemeinde dachte planerisch voraus. Das galt wieder 1969, als sich der Gemeinderat mit einem neuen Flächennutzungsplan befasste, wie 1929 unterstützt von einer staatlichen Bauberatungsstelle in Stuttgart. Der Bedarf an Wohnen - so ihre Empfehlung - solle zum überwiegenden Teil  in den Gebieten Aichert, Raith und Pferchäcker (!) abgedeckt werden, während in Gaiern-Neuwiesen in einem Teil Wohnen, in einem anderen Teil Gewerbe und ein Mischgebiet für Wohnen und nicht störendes Gewerbe als nächsten Schritt ausgewiesen werden könnte. So kam's. Und alle, die sich bei der jüngsten Einwohnerversammlung zu den aktuellen Pferchäcker-Plänen kritisch äußerten: Die Idee war fast schon ein halbes Jahrhundert alt, als die Stadt Mühlacker 2016 begann, sie umzusetzen - aber dafür länger braucht als die frühere selbstständige Gemeinde unter Schultes Allmendinger mit ihren B-Plänen. Der klitze-kleine Hinweis auf Raith und Pferchäcker findet sich im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 1969, sechs Jahre vor der Zwangseingemeindung (STAM, Li B 328,  S. 282). 

Eines fehlte dem Lienzinger Gemeinderat manchmal: Der Blick über den Tellerrand hinaus. Als sich Anfang 1960 die Chance bot, der Regionalen Planungsgemeinschaft Württemberg Mitte beizutreten, versprach sich das Gremium keinen Erfolg und lehnte dies vorläufig ab. Die Planungsgemeinschaft hatte zwei Schwerpunkte: Kooperation bei kommunalen Angelegenheiten sowie gemeinsame Planungen bezüglich Industrieansiedlung, Siedlungswesen und anderes, wie es im Protokoll der Ratssitzung heißt (STAM, Li B 327, S. 14).  Das war Vorläufer des 1973 gegründeten Regionalverbandes Mittlerer Neckar und des heutigen Verbandes Region Stuttgart.  Freilich, nach Regionalplanung - selbst in der einfachsten Form - stand nicht der Sinn der Lienzinger Räte.

Im Jahr 1959: Lienzingen von Südwesten mit der Siedlung Brühl, Kindergarten und Neubau der Schule (Foto: Aero-Contact, Ludwigsburg, aus Sglg. STAM)

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