Turbo-Tempo im Lienzingen von 1868: Baugenehmigung nach nur zwei Wochen für Pfullingers Schnapsbrennerei, und das noch gebührenfrei

Lienzingen, Spindelgasse 1: Einst wurde darin Schnaps gebrannt. Unbekannt ist, ob es um 1868 die einzige Anlage in dem 900-Einwohner-Ort war (Foto: Günter Bächle)

Ein virtueller Streifzug durch die Bestände des Landesarchivs Baden-Würtemberg fördert immer wieder kleine lokalgeschichtliche Raritäten ans Licht der Öffentlichkeit. So findet sich im Fundus des dem Landesarchivs nachgeordneten Staatarchivs Ludwigsburg, dort in den Bauakten aus den Jahren 1834 bis 1938, Nachakten sogar bis 1965, des Oberamtes Maulbronn, das 1938 im Landkreis Vaihingen an der Enz aufging,  eine höchst interessantes Stück aus Lienzingen. In dem Büschel 434 mit der Signatur F 183 III verbirgt sich ein Bauantrag aus den Jahren 1868/69 des Bauers Gottlob Pfullinger, der sein Waschhaus mit Holzremise zur Schnapsbrennerei umwandeln wollte. Das Gebäude steht heute noch, jedoch die Destillationsanlage mitsamt Brennrechten sind längst Geschichte.

Heute mutet das Fachwerkhäusle, das an der Einmündung der Spindelgasse in die Knittlinger Straße steht, leicht marode an. Ein Fall für das Sanierungsprogramm Ortskern Lienzingen von Stadt und Land. Ein beträchtlicher Teil der Außenwände versteckt sich hinter prächtigen Efeu-Teppichen. Der Abstand zu dem Nachbarhaus – jetzt Knittlinger Straße 15 – ist minimal, hat dorthin keine Fenster oder sonstige Öffnungen, somit besteht eine geschlossene Front, die die Helligkeit für die Angrenzer mindert. Ihr Blick endet am durchgängigen Mauerwerk. Durchaus zu vermuten wäre, dass der in der Form eines Kuchenstückes verlaufende und noch nicht sanierte Schuppen zur „15“ gehört. Ein Irrtum. Eigentümer ist Reinhard Pfullinger, Chef von Hotel und Restaurant zum Nachtwächter, Landwirt, Wengerter und Jagdpächter. Sein stattliches Anwesen schließt, durch die Gasse getrennt, nach Westen an.

Der Lageplan zum Bauantrag von 1868 (Staatsarchiv Ludwigburg, Signatur F 183 III Bü 434). Außgehendigt Hohenklingen vom 27/28. Oktbr. [18]68 Von dem verpflichteten Geometer Mößner. (Aufbereitung der Lagepläne Karin Jauch, Holzgerlingen, und Transkription)

Sein Großvater Gottlob Pfullinger, Bauer in Lienzingen, reichte im Okober 1868 den Bauantrag ein mitsamt Lageplan, vom 24. bis 26. Oktober 1868 gefertigt von dem verpflichtenden Geometer (=Landvermesser) Mößner aus Hohenklingen. Ein Grund und Aufriß Von der Waschküche und Holzremise des Pfullinger. Derselbe in seine schon längst bestehende Waschküche einen Brandweinbrennerei=Apparat einzurichten. Zu dessen Behuf die Verzeichnung außgefertigt und K[öniglichem] Oberamt zur Genehmigung vorzulegen ist.

Im beigefügten Aktenvermerk vom 3. November 1868 führte Curt Fischer, Schultheiß von 1867 bis 1880, für die seinerzeit 900 Einwohner zählende Gemeinde Lienzingen an, die Bauschau habe bereits an Ort und Stelle Augenschein eingenommen. Einen Auszug aus dem Protokoll des Lokaltermins legte er bei, ebenso  ein doppelt ausgefertigter Grund= und Aufriß sowie Situationsplan.

Die Brennerei, in der zuvor die Waschküche war: Beschreibung, Situations- und Lageplan

Das Bauvorhaben wird nun königlichem Oberamt zur weiteren Verfügung gehorsamst  vorgelegt. Tatsächlich bearbeiteten die Behörden die Unterlagen zügig. Am 4. November 1868 überließ das Oberamt den Antrag dem Oberfeuerschauer Werkmeister Link in Mühlacker zur Begutachtung unter baldiger Wiedervorlage. Schon sechs Tage später traf Links Antwort ein. Seine Auflagen:

  • An dem Lokal im welchem die Brandweinbrennerei eingerichtet werden will, müssen die hölzernen Umfassungs=Wände aus gebrochen und dafür ringsum Stuckmauren ausgeführt werden, so dass das ganze Lokal ringsum mit Stuckmauren eingefaßt ist. (Stuckmauren war verputztes Mauerwerk)
  • Die Brennerei=Küche muß in Licht 9‘ hoch und ander Decke im Gebälk veriz…k (?) werden. (9 Fuß entsprachen 257,85 Zentimeter lichter Höhe)
  • Der Brandenwein-Kessel muß mit einer Rostfeuerung versehen, der Kessel mit gehörigem Zug feuerfest eingemauert werden.
  • In der Brennerei muß ein neues gewölbtes oder von gespündeten Werksteinplatten gefertigtes Kaminschoos nach der Größe der Feuerungen hingerichtet werden.
  • Wegen des Nachbars Scheune darf in der Brennerei kein unbesteigbares Kamin, sondern es muss ein besteigbares Kamin dahin gefertigt werden. Dieses neue Kamin muß im gevierte (=im Viereck) im Licht 1 ¾‘ weit, mit liegenden Glinckern  1 ½ hoch über den Dachfirst hinaus geführt werden. (=1 ¾ Fuß waren 50, 1375 Zentimeter, Glincker war hart gebrannter Ziegelstein)

Bei der Lokalschau stellte sich heraus, dass in der fraglichen Waschküche schon einmal eine Schnapsbrennerei eingerichtet war, welche etwa 5 Jahren (zuvor) herausgerissen worden ist. Weiter steht in dem Protokoll, die Waschküche sei von drei Seiten ganz aus Stein gebaut, die Brennereianlage solle davor platziert werden. Wörtlich heißt es weiter: Der Raum, in welchem die Brennerei errichtet wird, hat unverbrennbaren Bodlen (soll wohl Boden heißen). Der Brennheerd wird in der Breite und Länge durch Steingewölbe (Kaminschoos), mindestens um 1 Fuß überragt. Der Plafond ist ein Zoll (=2,865 Zentimeter) dick vorschriftsmäßig verblendet. Die Brennerei hat eine Lichthöhe von mindestens 9 Fuß.

Gegen das Bauvorhaben hat der Gemeinderath nach der unterm 20. Octbr. (=Oktober) 1868 abgegebenen besonderen Erklärung keine Einwendung zu machen, so die Mitteilung nach Maulbronn. Auf dieser Linie lag auch das Ergebnis der Lokalbrandschau: Die baupolizeiliche Erlaubnis zur  Feuerungs=Einrichtung (sei) zu ertheilen. Das Protokoll trägt die Unterschrift von Schultheiß Fischer sowie von Holzapfel, Benzenhöfer und Huber (vermutlich Ratsmitglieder). Sicherlich förderlich war für den Antrag, dass der einzige Nachbar der Waschküche des Pflullingers, in welcher Brandweinbrennerei eingerichtet werden will, Georg Scheuerle, Gemeinderath, (…) gegen das Gesuch des Bittstellers nichts einzuwenden habe. Scheuerle bestätigte dies per Unterschrift.

Zum Bauantrag des Bauers Pfullinger für eine Brennerei: Aus dem Schriftwechsel zwischen Oberamt und Schultheißenamt Lienzingen

Bereits am 10. November 1868 schickte das Oberamt in Maulbronn ein Schriftstück – eine Art Vordruck, der nur noch ausgefüllt werden musste - ans Schultheißenamt Lienzingen, dem Bauer Gottlob Pfullinger sei zu eröffnen, dass ihm die Genehmigung durch oberamtlichen Beschluß zur Einrichtung einer Brennerei in seiner Waschküche gegen die Sportel von 0 Gulden ertheilt worden ist. Sportel stand für Gebühren. Das bedeutete: Die Baugenehmigung brauchte nur rund zwei Wochen und war gebührenfrei. Der weitere Teil des Schriftstücks im Original:

Bei der Ausführung sind der vorgelegte Bauriß und Situationsplan sowie die in der Beilage enthaltenen Bauvorschriften genau einzuhalten; es wären etwaige Abweichungen hievon ohne Verzug hieher anzuzeigenund ist jedenfalls nach vollendetem Bauwesen über die geschehene vollständige Einhaltung der Bauvorschriften besonders zu berichten. Die angeschlossenen Duplikate der beiden ersteren sind dem Baulistigen zurückzugeben und von den letzteren ist ihm eine beglaubigte Abschrift zuzustellen. / Maulbronn, den 10. Novbr. 1868, K[önigliches] Oberamt.

Zwei Tage später teilte Schulheiß Fischer Vollzug mit: Pfullinger hatte die Baugenehmigung nun in den Händen. Und am 27. Januar 1869 meldete das Oberamt, die Brennerei sei vorschriftsmäßig hergestellt – das bekräftigte das Schultheißenamt Lienzingen wenig später: Betreffend der Erlaubniß-Ertheilung an Gottlob Pfullinger hier (wurde) nach nunmehr vollendetem Bauwesen angezeigt, daß die ertheilten Bauvorschriften hiebei vollständig eingehalten worden sind. Hochachtungsvoll Lienzingen, d[en] 9. Febr[uar] 1869 / Schultheißenamt Fischer.

Eine Baugenehmigung im Turbo-Tempo.

Nichts findet sich in den Akten, ob es die einzige Brennerei am Ort war, und welcher Rohstoff eingesetzt wurde, um destilliert zu werden. Die Obstzucht sei zwar ziemlich ausgedehnt, aber nicht sehr ergiebig und erlaube nur in ganz günstigen Jahrgängen einen kleinen Verkauf an Obst nach außen; man pflanze meist Obstsorten (Luiken, Welschäpfel, Goldhämmerlinge, Bratbirnen, Knausbirnen, Wöhrlesesbirnen, Palmschbirnen) unsd Zwetschgen.  So jedenfalls steht über Lienzingen in der 1870 erschienenen amtlichen Beschreibung des Oberamtes Maulbronn. Weinbau werde nur auf 60 Morgen, die überdies nicht alle im Ertrag stünden, betrieben; man pflanze 3000 Stöcke (meist Silvaner, rohe und weiße Eiblinge, Drollinger, Veltiner und Gutedel) auf den Morgen und beziehe sie den Winter über. Der Wein gehöre zu den mittelmäßigen und werde im Ort verbraucht (Beschreibung des Oberamtes Maulbronn, herausgegeben vom Königlichen statistisch- topographischen Bureau, 1870.  Neuausgabe 1974, Horst Bissinger KG, Verlag und Druckerei, S. 256 f).

Weshalb richtete Gottlob Pfullinger wieder eine Brennerei ein? Das lässt sich aus den Akten nicht ablesen. Deshalb ein Annäherungsversuch von außen - also recherchieren im Netz.

Amtspost

Das Brennen in kleinen Brennereien (Obstbrennereien) hat in Süddeutschland eine lange Tradition. Schon der Bischof von Straßburg, Kardinal Armand Gaston de Rohan, hat im Jahre 1726 sämtlichen Einwohnern und bäuerlichen Untertanen des Amtes Oberkirch das Brennen von Kirschen zum Eigenverbrauch gestattet. Die Förderung des Kirschenanbaus hatte vor allem drei Hintergründe: Den Landwirten sollte eine weitere Einnahmequelle erschlossen und die wirtschaftliche Situation der Region sollte gefördert werden. Gleichzeitig setzte die Obrigkeit auf eine zusätzliche Einnahmequelle durch Steuerabgaben.

Der preußische Finanzminister Miquel erkannte als Erster die Notwendigkeit, die Situation der Landwirtschaft durch Brennereien zu verbessern. Er war der Begründer des Schlempe-Dünger-Kreislaufes:

Keine Brennerei – keine Schlempe;
keine Schlempe – kein Vieh;
kein Vieh – keinen Dünger;
keinen Dünger – keinen Roggen und keine Kartoffeln;
und was dann folgt ist die Kiefer.

Beim Vergärungsprozess von Getreide zu Alkohol entsteht als Nebenprodukt die Getreideschlempe. Getrocknete Getreideschlempen sind reich an Protein, Fett und Fasern und werden deshalb gerne als alternative Eiweisskomponenten in der Futtermittelherstellung eingesetzt.

Diese Mengen durften, nach vorheriger Bezahlung der Branntweinsteuer, vom Erzeuger direkt verkauft werden. Diese Maßnahme dient zusätzlich der Erhaltung des Streuobstanbaues, der als ökologisch sehr wertvoll eingestuft wird. Mit dem 1. Januar 2018 fand das deutsche Branntweinmonopol nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes sein Ende. (Quellen: Webseite des Bundesverbandes der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure e. V., BSI sowie Edelbrennerei Müller, Friesenheim, zur Geschichte).

Im Königreich Württemberg: Abfindungs- oder Kleinbrennreien

Und wie sah es speziell in Württemberg seinerzeit mit dem Schnapsbrennen aus?  Werner Albrecht, Geschäftsführer der im Dezember 2018 gegründeten Gesellschaft für die Geschichte des Branntweines (GGBW), kann zwar (noch) keine regionalen Daten zum Kulturgut Branntwein liefern, doch einige Facetten der Alkoholbrennereien in damaligen Staat Württemberg. Demnach gab es im Königreich Württemberg (1806 bis 1918) beziehungsweise im freien Volksstaat Württemberg (1918 bis 1933) vor allem sogenannte Abfindungs- oder Kleinbrennereien, also Brennereien, die nicht zollamtlich verschlossen waren, sondern pauschal besteuert wurden. Eine der größten Brennereien im Königreich Württemberg war die sogenannte Hammer-Brennerei in Heilbronn. Der Initiator und Leiter des Bönnigheimer Schnapsmuseums, Kurt Sartorius, hat über diese Brennerei geforscht und einen Fachaufsatz im Jahre 2022 veröffentlicht. Demnach gab es 1861 in Heilbronn schon 30 Brennereien. Die Weinbrennerei Jacobi wurde 1880 in Stuttgart gegründet. Albrecht wiederum liegt eine Unterlage vor, die zeigt, dass es allein in Stuttgart-Cannstatt 1902 vier Branntweinbrennereien gab.

Generell ist davon auszugehen, so die GGBW, dass es in Württemberg (1850 bis 1930) neben den bereits erwähnten Abfindungs- bzw. Kleinbrennereien insbesondere größere Obst- und Weinbrennereien wie Hammer oder Jacobi gab. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass in Württemberg Tausende von Abfindungsbrennereien existierten, die Streuobst verarbeiteten. Noch heute gibt es auf dem Territorium des ehemaligen Königreiches Württemberg eine Vielzahl von Abfindungsbrennereien, die in zwei Landes- beziehungsweise Regionalverbänden (Landesverband der Klein- und Obstbrenner in Nord-Württemberg; Landesverband der Klein- und Obstbrenner in Südwürttemberg-Hohenzollern) organisiert sind. Als das erste Gesetz über das Branntweinmonopol vom 26. Juli 1918 von Kaiser Wilhelm II unterzeichnet wurde, sah dieses Gesetz historische Besitzstandsrechte für die Abfindungsbrennereien in Württemberg sowie Baden und in Teilen Bayerns sowie damit auch in der Pfalz vor.

Apropos die Brennerei der Pfullingers in Lienzingen, so schließt Kurt Sartorius aufgrund deren Bauplänen, wie diese Brennerei wohl ausgesehen hat. Nämlich so:

Repro: Kurt Sartorius

 

 

Spindelgasse 1 – Adresse der Scheune, in der Schnaps gebrannt wurde. Wie lange? Reinhard Pfullinger erinnert sich, dass seine Großmutter zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Destille aufgab und das Brennrecht an einen Dürrmenzer verkaufte. Leider fehlen Aufnahmen von der Anlage und niemand weiß, wer die Rechte übernahm.   

Spindelgasse 1 aktuell

Immerhin: In der Ortskernanalyse von 2011 bezeichnen die Fachleute des Denkmalschutzes Spindelgasse 1 als erhaltenswertes historisches Gebäude, die in ihrer Form komplett der Topografie und der Parzellengröße angepasst sei und aus zwei Bereichen bestehe: dem nördlichen und dem südlichen.  Der südliche Bereich habe eine Giebelwand aus massivem Mauerwerk, die anderen Wände bestünden aus schlichtem Fachwerk, darüber folge das Dachgeschoss. Auffällig ist besonders die steile Dachneigung.

Der nördliche Bereich verfüge über zwei Geschosse, einem Dachgeschoss und einem Spitzboden unter einem Satteldach. Die Wände seien bis auf den oberen Teil der nördlichen Giebelwand aus Mauerwerk. Die Giebelwand bestehe aus Fachwerk mit Ausfachungen in Stein. In unregelmäßiger Anordnung befänden sich an beiden Bereichen der Scheune Fenster, Türen und Ladeluken.

Das Baujahr: um 1731-1760.

Die im Mündungsbereich der Spindelgasse zur Knittlinger Straße stehende Scheune sei ein anschauliches Beispiel für die bis heute andauernde landwirtschaftliche Prägung Lienzingens. Einstufung: erhaltenswert.

 

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