Sie wackeln nicht, sie zittern nicht

Unter den Augen der Dichterfürsten Goethe und Schiller. (Foto: Günter Bächle)

Allein das Programm wiegt schwerer als viele andere. 200 Seiten mit Geschichten, Portraits, Hintergründe, Termine, auf Deutsch und Englisch.  Ein who is who der Kulturwelt, gilt das Kunstfest Weimar doch als eines der renommiertesten und vielfältigsten Kulturfestivals in Deutschland, organisiert von einem nur knapp zehnköpfigen Team unter dem Dach des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Thüringen in Weimar. Welch eine Leistung! 

Das Festival - laut Veranstaltern größte zeitgenössische Kunstschau in Ostdeutschland - dauert diesmal vom 20. August bis 8. September 2024. Mehr als 140 (oder 160?) Veranstaltungen aus zehn Sparten stehen auf dem Programm - darunter 22 Ur- und Erstaufführungen. Allein das Eröffnungsprogramm am ersten Tag ist nicht stressfrei. Ach so, da war ja auch noch das …

Für die Demokratie plakatiert (Foto: Thomas Müller)

Ich erlaube mir zwei Tage Festival. Zum ersten Mal. Bedaure, dass es danach schon heimwärts geht. Aber zwei Tage lassen einen beeindruckt sein, auch vom Mut der Festival-Macher. Sie wackeln nicht, sie zittern nicht! Es ist nicht die Zeit der Leisetreter, klare Kante ist gefragt. Unter dem Eindruck der bevorstehenden Landtagswahl in Thüringen begann das Kunstfest, das in diesem Jahr einen besonders starken politischen Anspruch hat. Wir versuchen, mit unserem Programm die Narrative von der extremen Rechten zu konterkarieren und wollen die Vielfalt feiern, die wir bedroht sehen, sagte Festival-Leiter Rolf C. Hemke auch im ZDF-Morgenmagazin. Hemke: Es geht um die Verfasstheit unserer Zivilgesellschaft und die Fragen danach, ob wir weiter eine lebendige Erinnerungskultur haben, ob wir den Feminismus weiterbefördern, wie wir zur Zuwanderung und zur Inklusion von Menschen mit Handicaps stehen. Der 52-jährige gebürtige Kölner ist seit 2018 Chef des Kunstfestes.

Tanz, Konzert, Schauspiel, Kunst, Diskurs, Musiktheater, Performance, Literatur und Film ein buntes, bildungsakzentuiertes und künstlerisch hochambitioniertes Programm. Die Eröffnung fand mit vielen Gästen aus Politik, Wissenschaft und Kultur statt – im Bauhaus Museum, in der Herderkirche, auf dem Theaterplatz mit dem Schiller-/Goethe-Denkmal und in der Redoute des Deutschen Nationaltheaters. 

 
Motto 2024: Wofür wir kämpfen. Plakate am Pavillon des Kunstfestes beim Theaterplatz (Foto: Günter Bächle)

Beeindruckend, berührend, eine düster-dramatische Komposition Teil 3 am Eröffnungstag: Oksana Lynivie dirigierte die deutsche Erstaufführung von Paul Celans Todesfuge (verfasst 1948) als Konzert für Geige, Sprecher und Orchester. Das Werk des ukrainischen Komponisten Evgeni Orkin (geb. 1977) erlebte seine Uraufführung bei den Wiener Festwochen 2024. Der luxemburgische Schauspieler Steve Karier trug den Celan-Text und dessen strophischen Formen vor zu Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Die Komposition begann mit elektronischen Störgeräuschen, dann einem Radiowellen-Salat aus Wagner-Motiven und einer Schlager-Melodie der NS-Zeit.  Der Gang durch die tödliche Dämmerung blieb trostlos trotz Härte-Minimierung, kommentiert die Deutsche Musikzeitung. Bei mir lösten die Zeilen von der Schwarzen Milch der Frühe, die die historischen Ereignisse andeuten, ohne sie konkret zu benennen, Gänsehaut aus. Es folgte Mozarts Requiem. Beide waren der musikalische Teil der jährlichen Erinnerung an die Opfer des Dritten Reiches. Gedenken an die Opfer des vor den Toren Weimars einstmals gelegenen KZ Buchenwald.

Das Kunstfest Weimar eröffnet mit dem „Gedächtnis Buchenwald“-Konzert in der Herderkirche (Foto: Günter Bächle)

Die jährliche Gedächtnis-Buchenwald-Rede hielt der Historiker Norbert Frei in der vollbesetzten Herderkirche. Die globale Polykrise, in der wir uns inzwischen befänden, führe zu einem kollektiven Verdrängen, zu einer Flucht in andere, oft virtuelle Realitäten, wobei jede, jeder von uns inzwischen auch selbst Sender sei und im Prinzip die ganze Menschheit erreichen könne – mit allen Manipulationsmöglichkeiten in Kommunikationsblasen, die das mit sich bringe. Umso wichtiger, so Frei, sei eine wirklich aufgeklärte Öffentlichkeit, seien Presse und Pressefreiheit und deren Wächterfunktion. Doch durch den Strukturbruch auf dem Zeitungsmarkt fehle es daran immer mehr. Wofür es sich zu kämpfen lohnt? Für klassischen Journalismus, für mediale Bildung, für das, was Norbert Frei im Sinne von Jürgen Habermas historisch-politische Selbstermächtigung nennt.

Oksana Lynivie (Mitte, vorne) aus der Ukraine dirigierte die deutsche Erstaufführung der Todesfuge (Foto: Thomas Müller)
Der luxemburgischen Schauspieler Steve Karier trug den Celan-Text vor (Foto: Thomas Müller)

Eineinhalb Stunden Pause zwischen Herderkirche und Redoute, zwischen Teil 3 und 4, für mich und meine Frau. Dann beginnt die Premiere auch noch 20 Minuten später: Gegen 21.50 Uhr ist Einlass, da sitzen Theatermacher Roberto Ciulli und die Schauspielerin Eva Mattes schon auf der Bühne. Warten aufs Publikum. S wie Schädel heißt das Zwei-Personen-Stück, das Roberto Ciulli, der inzwischen 90-jährige Gründer des Mülheimer Theaters an der Ruhr, inszenierte.  Solo-Texte verknüpft von Navid Kermani, dem Schriftsteller, Text- und Gedankensplitter, Bruchstücke, die letztlich doch eine Einheit ergeben.  Eine Meditation mehr als ein Stück. Ein Lauschen und Achtgeben auf Stimmen und Schicksale aus dieser Welt. Ciulli schaut mit seiner langen Grauhaarperücke wie ein trauriger Existenzialclown aus. Er spricht weise, nur manchmal zu leise. Mattes dagegen fast mädchenhaft, summend oft. Sie schreit und kräht auch mal wie ein Vogel, wird am Ende furchtbar wütend (auf Deutschland). Sie sind ein anrührendes, hoch empfindsames Paar, sitzen sich am Tisch gegenüber und kneten mit Ton, heißt es anderntags in der Kritik von Christine Dössel in der Süddeutschen.

70 Minuten für ein Zweipersonenstück: S wie Schädel (Foto: Thomas Müller)

Eva Mattes und Roberto Ciulli. Sie, die furiose Schauspielerin, die dieses Jahr siebzig wird und seit mehr als fünfzig Jahren auf der Bühne steht. Er, der Doyen des europäischen Theaters, eine Legende, inzwischen neunzig, der mit seinem Theater an der Ruhr seit 1980 in Mülheim ein alternatives Welttheater probt – bis zum heutigen Tag. Mattes zeugt erneut, dass schauspielerisch weitaus mehr in ihr steckt als in den einstigen Tatort-Serien vom Bodensee zu erahnen war. Ciulli mit silberner, hüftlanger Haarperücke, die Szenenbilder wechseln in rascher Folge, fordern vom Zuhörenden nach des Tages Last Aufmerksamkeit ein, was nicht immer leichtfällt.

Wenn die Welt untergeht, hilft auch der Blecheimer nicht mehr: Roberto Ciulli und Eva Mattes. Foto: Thomas Müller)

Sandra Kegel vom Feuilleton der FAZ darüber: Die Collage verschraubt verschiedene Textstellen aus Romanen und Reportagen mit- und gegeneinander. Es geht um Liebe und darum, wie sie verschwindet, um Gnade und Trost, wo man das findet, oder darum, wie man die flüchtige Hoffnung schützen kann, die sich für den Schriftsteller auch mal in einem Geschäft für sanitäre Abdichtungen offenbart oder im Kontakt mit dem ominösen Seufzer-Kobold.  Das Publikum bleibt ernst, einzelne Lacher löst nur die komische Passage vom Seufzer-Kobold aus.

Rasche Szenenwechsel (Foto: Thomas Müller)

Teil 2 des Eröffnungstages findet für uns erst am zweiten Tag statt: Das andere Russland heißt die Ausstellung im Bauhaus Museum, die Geschichte und das Engagement für ein auf historischer Wahrheit – statt Propaganda, Hass und Lügen – aufbauendes demokratisches Russland einfordert. In einem großen Raum, auf Holzgestellen, sind es vor allem die einzelnen Schicksale der in Straflagern leidenden Menschen. Gefangene einer Willkür-Justiz. Schirmherrin der Festspiele ist in diesem Jahr deshalb die exilierte, russische Germanistin Irina Scherbakowa.  Sie ist Mitbegründerin der vor zwei Jahren von Putin verbotenen und im selben Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation Memorial, die sich dem Kampf für historische Wahrheit in Russland widmet. Mich erinnert das Thema an den Roman über den Archipel Gulag vom späteren Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Dem gegenüber stehen die Putin-Verniedlicher von AfD und BSW.  

Exponate der Ausstellung "Das andere Russland" (Foto: Thomas Müller)

Die Kunst-Aktion Kunst schafft Demokratie im öffentlichen Raum soll Menschen während der heißen Phase des Thüringer Landtagswahlkampfs zum Nachdenken, Diskutieren und Handeln anregen: Dafür wurden großformatige Plakatflächen an stark frequentierten Orten, wie Straßen, Unterführungen oder Litfaßsäulen zur Ausstellungsfläche umgenutzt. Auf den Flächen sind Werke zu sehen, die sich mit dem Thema Demokratie auseinandersetzen und von einer Jury ausgewählt wurden. Die Kunstwerke werden für zwei Wochen auf über 350 Plakatflächen in Thüringen zu sehen sein. 

Eröffnung in der Herderkirche: Rolf C. Hemke, künstlerischer Leiter des Kunstfestes (Foto: Thomas Müller)

Die freie Berliner Opernkompanie Novoflot überschreibt als Uraufführung (31. August/01. September) in einem spektakulären Projekt Arnold Schönberg unter dem Titel Der letzte Ermordete aus Warschau – die Komposition stammt vom Enfant Terrible der Gegenwartsmusik, Michael Wertmüller, das Libretto hat Bestseller-Autor Max Czollek geschrieben, der auch Teil des großen Bühnenensembles ist.

Aber das Kunstfest beschränkt sich nicht auf Weimar: Mit einem umgebauten Bühnen-LKW spielt das Rumpel-Pumpel-Theater seine burleske Post-Volkstheater-Uraufführung »Das Hotel im Karussell« an insgesamt 16 Orten. Insbesondere auch in Kooperation mit dem Festival Provinzschrei in Südthüringen - da wo die AfD Spitzenwerte erreichen könnte…

Lokale Geschichte in Mühlacker: Antonia und das Kunstfest in Weimar

Wiederum Herzstück des Kunstfest-Programms sind sechs Koproduktionen und Gastspiele mit Tanz und Performance aus Taiwan – unter anderem des weltberühmten Cloud Gate Dance Theatre - ermöglicht durch eine massive Sonderförderung des taiwanesischen Kulturministeriums. Als Uraufführung im Rahmenprogramm der Verleihung der Goethe-Medaille zeigt das Kunstfest in Kooperation mit dem Goethe-Institut »VACA«, das neue Projekt des vielleicht bedeutendsten südamerikanischen Dramatikers und Regisseurs Guillermo Calderón aus Chile. In dieser bösen Medien- und Gesellschaftssatire steigern sich drei kreative Köpfe unversehens in rechtsradikales Gedankengut hinein (25./26. August).

Just heute nimmt auch Schorsch Kameruns musikalisch-partizipative Dialog-Performance Bevor wir kippen ihren Ausgang, die täglich (außer montags) bis zum Ende des Festivals auf dem Theaterplatz überflüssige Ausdrucksformen zur Diskussion, Disposition und Abstimmung für das Publikum stellt. Damit verbunden ist ein musikalischer Abend als Wahlerinnerungs-Gala mit Thüringens Hollywood-Star Sandra Hüller und Comedian René Marik am Vorabend der Landtagswahl am 31. August.

Das Motto 2024: Wofür wir kämpfen. Die Antwort ist klar und eindeutig: Weimar als Ort der Aufklärung, der Klassik, der Moderne und der Demokratie ist besonders gefordert, da empfindsamer, sie hält Kurs, stärkt den demokratischen Diskurs, ergreift Partei gegen die Rechten, von denen (Un-)Heil droht. Das Kunstfest macht gut gegen die AfD mobil – hoffentlich klauen ihnen die Rechtsextremen nicht demnächst die Kohle. Nach deren Grundsatz: Geld gibt es nur, wer nach der rechten Pfeife tanzt. Erste Beispiele mitten in Europa:  Ungarn, Slowakei, zeitweise Polen.  Die Thüringer AfD plakatiert: Schreib Geschichte. Auf dieses Kapitel können wir gut und gerne verzichten.  Das Kunstfest 2024 will also nicht nur ein Fest für die Augen und die Ohren sein, sondern auch für den Kopf und das Herz.

In der nahen Zukunft ist das Projekt erst einmal finanziell gesichert. Das Kunstfest Weimar erhält von 2025 an von seinen beiden Hauptförderern Land Thüringen und Stadt Weimar insgesamt 200.000 Euro mehr Förderung. Dafür machte Ende 2023 der Weimarer Stadtrat den Weg frei, als er mit breiter Mehrheit von 34 Simmen bei vier Gegenstimmen und einer Enthaltung der Erhöhung des städtischen Förderanteils um 55.000 auf 305.000 Euro zustimmte. Bereits vorher hatte das Land seine Bereitschaft signalisiert, seine finanziellen Verpflichtungen im Rahmen des neuen Finanzierungsvertrages für das renommierte Festival um 145.000 Euro zu erhöhen, sofern die Stadt gemäß dem vereinbarten Finanzierungsschlüssel auch seinen Anteil anpassen würde. Damit steigt das Grundbudget des größten und wichtigsten Festivals für die zeitgenössischen Künste in Ostdeutschland um rund 22 Prozent von 900.000 auf 1,1 Millionen Euro.

Doch 2025 ist schnell erreicht, Legislaturperioden dauern länger.

Theaterplatz in der Festivalzeit (Foto: Günter Bächle)

Seit 1990 findet das Festival jährlich im August und September in der Kulturstadt Weimar statt – der Stadt von Goethe, Schiller, Herder, Bach und Bauhaus. Das Kunstfest präsentiert ein breites Spektrum an Kunstformen, von Theater, Tanz, Musik und Literatur bis hin zu Film, Bildender Kunst und Performance. Dabei werden sowohl internationale als auch regionale Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen und neue Perspektiven eröffnen.

 

 

 

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