Der Sündenfall vom Juli 1971: Nach zwei Wochen platzte in der dritten Lesung doch noch der Traum vom Großkreis Pforzheim/Vaihingen
Der Enzkreis feiert Geburtstag. Steht heute in der Zeitung. Den Fünfzigsten. Die Kreisverwaltung kündigt 52 Fest-Wochen im Jahr 2023 an unter dem originellen Motto Der Kreis mit schönen Ecken. In petto Serien von Podcasts, Videos, Texten – und ein Actionfilm! Was genau lässt sich nur raten, erahnen, vermuten … Jedenfalls fiel mir beim Lesen mein persönliches Jubiläumsstück ein: etwa 12 auf 18 auf 5 Zentimeter, Schatulle, Deckel ganz abzunehmen, aus Keramik, lasiert, im Laufe der Jahre leicht an Glanz verloren. Darauf eingebrannt: Das Wappen des Landkreises Vaihingen/Enz, im oberen Teil der rote Vaihinger Löwe, unten das Mühlrad aus dem Mühlacker Wappen, dazwischen der Maulbronner Schachbalken.
Da steckt Symbolik, aber auch die Tragik dieses Kreises drin. Denn die Rivalität zwischen Mühlacker und Vaihingen erleichterte der Landespolitik, diesen Landkreis 1971 zu zerschlagen, zwischen Pforzheim und Ludwigsburg (und ein bisschen Karlsruhe) aufzuteilen. Das dazu beschlossene Gesetz wirkt seit dem 1. Januar 1973.
Die Schatulle, über deren Schönheit sich streiten lässt, besitzt zumindest einen ideellen Wert. Es war das offizielle Abschiedsgeschenk des Landkreises Vaihingen. Landrat Erich Fuchslocher überließ mir dieses Exemplar. Trotz einer leichten Macke steht das gute Stück seit einem halben Jahrhundert bei mir in Lienzingen hinterm Glas. So gesehen lässt sich daraus eine Lienzinger Geschichte stricken, zumal die Kommune auch am Verfahren beteiligt war. Die Story sprengt jedoch den lokalen, umfasst auch den regionalen Rahmen – bis nach Ergenzingen und Stuttgart. Bringt viel Landespolitik und die Frage, wie sich zum Beispiel die Lienzinger dazu stellten. Denn ich war in den Phasen der Kreisreform journalistisch und politisch aktiv, schrieb über Wirren und Verwirrung beim Ziehen neuer Land- und Stadtkreis-Grenzen. Ein, nein, der Lienzinger Zeitzeugenbericht mit viel persönlichen Ein- und Dreinblicken.
Wie war das eigentlich vor 50 Jahren, als die Großkoalitionäre von CDU und SPD in Baden-Württemberg auf der Landkarte neue Grenzen der Stadt- und Landkreise zogen? Der Kreis Vaihingen war einmal, der Kreis Leonberg auch, trotz des eingängigen Slogans LEO muss bleiben. Eines der dabei entstandenen Konstrukte hieß Enzkreis. Der legt sich wie ein Kragen um den Stadtkreis Pforzheim. Zeit zum Jubiläumsjubel? Was Kreisräte bisher nicht wussten: Das Volk zwischen Neuenbürg und Illingen erwartet 2023 eine Rundum-Fünfziger-Feier. Zwölf Monate ohne Langeweile. Überrascht las ich heute eine Mitteilung aus dem Landratsamt in Pforzheim, dass jetzt die Geburtstagsmaschinerie angeworfen wird und dazu eine Extra-Internetadresse ans Netz geht.
Internet, Mail, soziale Medien – vor 50 Jahren unbekannt. Möglicherweise blieb manche Information 1970/71 deshalb eher in der internen Runde, in den Beratungszirkeln der Fraktionen. Einflussreiche Politiker in Land und Kreis zurrten das Gesamtpaket fest, ungeplantes Öffnen ward nicht erwünscht. Der Landtag hatte einen Sonderausschuss gebildet, der Vaihinger Kreistag eine achtköpfige Sonderkommission. Just die Kommission sollte dem Sonderausschuss in Stuttgart ein Schnippchen schlagen und dessen Teilungspläne für den Landkreis Vaihingen durchkreuzen. Fast hätte es die VAI-Task Force geschafft! Fast?
Lienzinger Geschichte(n) heute in einem größeren Zusammenhang. Denn die Lienzinger mussten vom 1. Januar 1973 an, wenn sie zum Beispiel einen Bauantrag stellten, nicht mehr nach Vaihingen, sondern nach Pforzheim. Wie nahmen sie die Kreisreform auf? Nebenbei Frage in der Blog-Serie: Was hatte unser Ort mit Ergenzingen zu tun? Persönliches verwebt mit Politischem der lokalen und regionalen sowie landespolitischen Ebene. Zusammenhänge werden hoffentlich deutlich
Das Fazit vorab: Zeitweise zweifelte seinerzeit der Betrachter doch heftig an der Fähigkeit mancher Menschen zum fairen und sachlichen Disput. Demokratie geht anders, selbst bei einem so kontroversen Fall wie einer Kreisgebietsreform. Die Realitäten damals: Beleidigungen, Geschmacklosigkeiten, Diskussionsverweigerung, persönliche Herabsetzung vor Ort - besonders zwischen der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes im Landtag und dem Streit darüber, ob der ganze Kreis Vaihingen zu Pforzheim geschlagen wird. Ein politischer Prozess, bei dem nicht wenige der lokalen Meinungsführer gerade im Bereich Vaihingen versagten, sonst hätte es die politische Entgleisung mit dem Aufbau eines Galgen vor dem Landratsamt in der Vaihinger Franckstraße nicht geben dürfen. Das muss offen gesagt werden. Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert.
Es gelang am 8. Juli 1971 in der zweiten Lesung des Kreisreformgesetzes im Plenum des Landtags von Baden-Württemberg, doch in der dritten Lesung am 22. Juli 1971 brachten die Regierungsfraktionen ihre Leute wieder auf Kurs und kassierten den Sündenfall Vaihingen – teilweise mit Unterstützung der oppositionellen FDP. Exakt zwei Wochen lang bestand der Großkreis Pforzheim/Vaihingen mit 210.000 Einwohnern, der Nachbarkreis Ludwigsburg hatte 353.000.
Das Innenministerium ließ in einem Erlass am 9. Juli 1971 die betroffenen Gemeinden wissen, sie gehörten nun zum neuen Kreis Pforzheim - den sie dann Enzkreis nannten – und damit zur Region Nordschwarzwald, der nun bis vor die Tore Stuttgarts reichte. Versehentlich schickte die Behörde ihren Brief auch an das Bürgermeisteramt Hochberg, das unzweifelhaft beim Kreis Ludwigsburg blieb, und sorgte dort für höchste Irritationen. Hochberg ist inzwischen Stadtteil von Remseck.
Doch dann platzte der Sommernachtstraum im Juli, als eine Mehrheit der Abgeordneten den Beschluss aus erster Lesung reaktivierten und den Landkreis Vaihingen an der Enz spalteten – eine Hälfte zum Kreis Ludwigsburg, die andere zum Enzkreis und Oberderdingen zum Kreis Karlsruhe. Traum und der Großkreis Pforzheim währten 14 Tage.
Der Großkreis Ludwigsburg war nun mit 411.000 Menschen weiter der drittgrößte Kreis unter den nun 35 Landkreisen, Pforzheim fiel auf 152.000 Köpfe zurück. Das Zugeständnis der Teiler: Der Kreis erhielt seinen Namen nicht nach dem jener Stadt, in der das Landratsamt seinen Sitz hatte, also Pforzheim, sondern eine landschaftsbezogene Bezeichnung und da bot sich als Namensgeber die das Kreisgebiet durchquerende Enz an. Der Fluß Enz als verbindendes blaues Band.
Mit 603 Quadratkilometer war er der Fläche nach der zweitkleinste vor Tübingen, schrieb der erste Landrat Dr. Heinz Reichert (vorher Erster Landesbeamter im Landratsamt Vaihingen) im Jahr 1976 in der ersten gemeinsamen Kreisbeschreibung. Er hielt aber nach Zahl der Gemeinden und Einwohner einen Mittelplatz, rangierte bei der Bevölkerungsdichte (274 Einwohner pro Quadratkilometer, zum Vergleich 240 im Kreis Vaihingen)) auf den zehn ersten Rängen (Heinz Reichert, Der Enzkreis in: Pforzheim und der Enzkreis, 1976. Konrad-Theiss-Verlag. S. 20 f). Seine Botschaft: So schwach sind wir auch in dem gewählten Zuschnitt nicht, selbst wenn die Verfechter der Fusion der Kreise Pforzheim und Vaihingen immer argumentierten, nur in dieser Formation erreiche das neue Gebilde eine ausreichende Stärke.
Schon mehrere Landesregierungen nahmen nach 1952 Anläufe für einen neuen Zuschnitt der Kreis-Karte im Südwesten, doch sie scheiterten, bekamen kalte Füße, schoben die Sache auf die lange Bank. 1968 kam es als Folge des Einzugs der Neo-Nazis in den Landtag – die NPD bekam auf Anhieb zehn Prozent - zur Großen Koalition mit Hans Filbinger (CDU) als Ministerpräsident an der Spitze und Walter Krause (SPD) als Innenminister. Die SPD habe die Regierungsbeteiligung bejaht, um die Verwaltungsreform anpacken zu können, sagte Krause. Gebietsreform tut weh, bekannte der CDU-Abgeordnete und Landrat von Überlingen, Karl Schiess, im Juli 1971 im Landtag. Wer sie durchführe, brauche daher Mut. Wer die Notwendigkeit dieser Reform bejahe, müsse aber diesen Schritt wagen, wenn er nicht unglaubhaft werden wolle (Protokoll, 5. Wahlperiode, S. 7026). Schiess löste 1972, als die Union die absolute Mehrheit im Landtag holte, Krause als Innenminister ab.
Jedenfalls ließen Union und Sozialdemokraten keine Zweifel daran, die Kreisgebietsreform durchzusetzen. Allerdings mit unterschiedlicher Schärfe. Am radikalsten fiel das Denkmodell von Walter Krause aus: 25 statt 63 Land-, 5 statt 9 Stadtkreise, 2 statt 4 Regierungsbezirke, dafür erstmals Regionalverbände, die die Landesplanung vor Ort in eigenen Plänen ausgestalten sollten. Die CDU ihrerseits schlug 38 Großkreise vor. Aufgrund eines Expertengutachtens verständigten sich die Koalitionäre auf 35 Land- und acht Stadtkreise. Schon damals war klar: Der Landkreis Vaihingen mit seinen 92.500 Einwohnern und 42 Gemeinden, darunter Lienzingen, ließ sich als eigenständige Einheit nicht halten.
Plötzlich gab es im Landratsamt an der Vaihinger Franckstraße ein seltenes, um nicht zu sagen Luxus-Problem: ein schon geplantes Kreisbuch. Das Manuskript lag fertig vor. Dann kam die Kreisreform. Hatte es einen Sinn, im letzten Lebensjahr des Landkreises Vaihingen noch ein Heimatbuch herauszugeben? Die Meinungen schwankten zwischen überholt und jetzt erst recht, schreibt Landrat Erich Fuchslocher (FDP) im Juli 1972 im Vorwort. Denn das Buch erschien. Gestrichen worden waren Beiträge über Behörden und Institute, die von der Verwaltungsreform hätten tangiert werden können, und beschränkte sich auf das, was bleibt: die Menschen, die Natur und die Landschaft – ihre Geschichte und ihre Geschichten, so Fuchslocher. Den Titel wandelte der Verlag ab: Um Stromberg und Mittlere Enz, heimatkundliche Beiträge aus dem Kreis Vaihingen. 372 Seiten, erschienen bei Kohlhammer.
Eine kluge Entscheidung, wie ich heute noch finde. Der Schutzumschlag, mit der Landkarte vom historischen Stromberger Vorst, zeigt bei meiner Ausgabe schon deutliche Gebrauchsspuren, aber der Band hat seit 51 Jahren einen festen Platz in meinem Bücherschrank. Denn ich bin das, was ein Zeitzeuge genannt wird. 1970/71 Volontär in der Bezirksausgabe der Pforzheimer Zeitung für den Kreis Vaihingen, die einen ungewöhnlichen und sich nach einem großen Verbreitungsgebiet anhörenden Titel im Kopf trug: Württembergisches Abendblatt (WAB), im Untertitel gar Süddeutsche Allgemeine, dann vom 1. Juli 1971 an als Redakteur bei der Ludwigsburger Kreiszeitung, bei der ich die Kreisredaktion verstärkte angesichts der erwarteten Gebiets- und hoffentlich auch Abonnentenzuwächse.
Sowohl fürs WAB als auch für die Leserschar der LKZ verfolgte ich die Debatten des Kreistags im ersten Stock auf dem Presseplatz, der im großen Saal des Landratsamtes Vaihingen an der Fensterfront zur Franckstraße stand, drei oder vier Schritte entfernt vom ovalen Riesen-Ratstisch, an dem die Kreisverordneten debattierten. Da saß ich mit meinen gerade knapp 20 Lenzen, vor mir der obligatorische Notizblock, neben mir die gestandenen Kollegen und Redaktionsleiter Michael Holtz vom Enzboten und Rudolf Pospischil vom Mühlacker Tagblatt, wobei letzterer nicht nur Steno beherrschte, sondern häufig auch ein Tonbandgerät vor sich aufbaute, um die Debatte festzuhalten. Bis heute zweifle ich daran, dass dies einen zeitlichen Vorteil brachte - aber auf Band festgehalten, ließ sich bei Beschwerden leichter Nachweis über die Richtigkeit des Geschriebenen führen, was wiederum ein Vorteil war. Doch die beiden Lokaljournalisten zeigten sich ob des jungen Kerls, obwohl auch aus der schreibenden Zunft, anfangs doch ausgesprochen zurückhaltend.
Zu den WAB-Redaktionsräumen am Marktplatz (im Halbuntergeschoss der Weinstube - heute Ratsstube - am Markt) war es nur ein Katzensprung. Der Dienstwagen: ein blaues Goggomobil, schon leicht betagt, mit dem ich meist unterwegs war zwischen Lienzingen, Vaihingen und dem Verlag in Pforzheim. Das Goggo klapperte, manchmal fuhr ich ohne vordere Stoßstange, ohne funktionierende Scheibenwischer, ohne schnell reagierende Bremsen - waren es 24 oder 26 PS unter der Motorhaube? Wenn die rollende Blechkiste mit Rückenwind und viel Gas mal die 80 km/h erreichte, beschlich einen rasch das Gefühl, jeden Moment fliege die Kiste auseinander. Das Auto sei doch lebensgefährlich, sagte ich dem äußerst sparsamen Verleger. Seine noch sparsamere Gattin antwortete trocken: Was wollen Sie mit Ihrem bissle Leben? Meine Konsequenz: Nach einigen Monaten legte ich mir ein eigenes Auto zu - einen Renault 4, gebraucht, aber allzeit fahrtüchtig.
Daneben meldete ich mich auch im Ehrenamt als Vorsitzender der zahlenmäßig kleinen, aber munteren Jungen Union im Landkreis Vaihingen zu Wort, wechselte mich im Vorsitz des Ringes politischer Jugend (RpJ) mit Eberhard Berg (Jungsozialisten, heute SPD-Stadtrat in Vaihingen) und Jörg Dutt (Jungdemokraten) ab, saß in den letzten Monaten des Kreises VAI mit beratender Stimme für den RpJ im Jugendwohlfahrtsausschuss des Kreistags – getagt hat der freilich in dieser Zeit nicht ein einziges Mal, denn der Kampf um den Kreis-Erhalt wog schwerer.
Eine Podiumsdiskussion des Kreisverbandes der Jungen Union im Sommer 1970 in der Aula der Kreisberufsschule in Mühlacker zur Zukunft des Kreises Vaihingen, von mir organisiert und geleitet, brachte unterschiedliche Protagonisten an den Tisch, allesamt lokale Größen: Landrat, Mühlackers Bürgermeister Gerhard Knapp, der Vaihinger Unternehmer Peter Conradt… Nicht einmal ganz 20 Jahre jung, wagte ich was. Da ging es schon nicht mehr um den Kreiserhalt als Solitär, sondern um den Plan, PF und VAI in Gänze zu fusionieren, um im neuen Großkreis das Einfluss-Potenzial zu steigern. Mit verbindlicher Mine unverbindliche Fragen gestellt hätte ich, las ich danach im Bericht der Stuttgarter Zeitung über diese Veranstaltung, geschrieben von meinem Kollegen Martin Hohnecker, den ich an diesem Abend erstmals traf. Ein Vollblutjournalist der besonderen Klasse.
Noch am 28. September 1968 hieß im WAB das Thema der Woche: 30 Jahre Kreis Vaihingen. Auf knapp zwei Zeitungsseiten zeichneten WAB-Redakteur Leonard Spielhofer, der im Jahr darauf für die Stuttgarter Zeitung als Wirtschaftskorrespondent nach Düsseldorf wechselte, und Rudolf Jourdan, damals rechte Hand des Vaihinger Landrats, später Beigeordneter in Mühlacker und danach Professor an der Verwaltungshochschule in Ludwigsburg, die Geschichte des zum 1. Oktober 1938 aus den Oberämtern Vaihingen und Maulbronn entstandenen Landkreises Vaihingen nach. Und stellten ihm ein gutes Zeugnis aus.
Doch schon ein gutes Jahr später legte Innenminister Walter Krause sein Denkmodell vor, das dem Landkreis Vaihingen keine Zukunftschancen einräumte. Der Mittelbereich um Mühlacker (…) zeigt schon deutlich Ansätze einer engeren Verflechtung mit dem Wirtschaftsraum Pforzheim, hieß es in dem Papier. Deshalb der Vorschlag, den Kreis Vaihingen zweizuteilen zwischen den Kreisen Pforzheim/Calw und Ludwigsburg. In einem Pressegespräch am 2. Dezember 1969 nannte Fuchslocher das Papier völlig übereilt und für seinen Landkreis nicht akzeptabel. Er sei nicht gegen jede Veränderung. Der Kreis habe sich gut entwickelt, es bestehe kein Grund, ihn zu zerstückeln. Der Kreis sei viel enger mit dem mittleren Neckarraum verbunden als mit Pforzheim. Bei einer Zweiteilung drohe Mühlacker zu einer Grenzgemeinde abzusinken.
Bei einer WAB-Umfrage unter den Bürgermeistern der westlichen Kreisgemeinden überwogen die vorsichtig bejahenden Stimmen. Die Bürgermeister von Wiernsheim und Wurmberg, Rolf Gockeler und Karl Seeger, konnten sich die Neuorientierung gut vorstellen, Ihre Kollegen Erich Wahl (Enzberg) und Fritz Menold (Ölbronn) äußerten sich ähnlich. Lienzingens Schultes Richard Allmendinger sagte, sich einen zukünftigen Schwerpunkt Pforzheim gut vorstellen zu können. Er misse aber den Plänen keine große Bedeutung bei und war sich mit seinem Maulbronner Kollegen Karl Lägler einig: Wir essen nicht so heiß wie in Stuttgart gekocht wird.
Für mich als Volontär und inzwischen praktisch Allein-Redakteur des WAB am Marktplatz in Vaihingen brachte das Denkmodell berufliche Herausforderungen, von denen ich meine, sie durchaus gemeistert zu haben.
So führte ich mit gerade 19 Jahren wohl mein erstes Interview, und zwar mit Vaihingens Bürgermeister Gerhard Palm. Vier Fragen zur Kreisreform. Die Überschrift kurz, knapp, knackig ließ keine Zweifel an Palms Meinung zum Denkmodell aufkommen: Palm: „Nein!“ (WAB, 3. Dezember 1969, S. 9). Regelmäßig berichtete ich auch über die Gemeinderatssitzungen in Mühlacker, Vaihingen und natürlich Lienzingen.
Selbst die moderateren Vorschläge der CDU-Landtagsfraktion hätten den Kreis Vaihingen nicht gerettet. Bei der Kreistagssitzung am 30. Juli 1970 kritisierten die Fraktionen, die Pläne der Landesregierung seien das Ergebnis eines politischen Kuhhandels, bei dem es nur um Parteiprestige gehe und es sei der Versuch, Vaihingen zum Hinterland zu machen. Es war die Zeit der 68er-Bewegung mit ihren Revolten gegen das Establishment – da redete sich ein Kreisverordneter so in Rage, dass er forderte, es den Studenten nachzumachen und im Landtag die Scheiben einzuschmeißen. Sowohl die Auflösung des Kreises als auch die Zuordnung zur neuen Region Nordschwarzwald wurde abgelehnt. Tatsächlich gehörte der Landkreis zu den Gründungsmitgliedern des Planungsverbandes Mittlerer Neckarraum (PWM), Vorläufer des heutigen Verbandes Region Stuttgart.
Diese latente Enttäuschung gründete sich auf eine Aussage von Ministerpräsident Hans Filbinger in Illingen, wonach eine Kreislösung, die zur Zerschneidung von Entwicklungsachsen führe, abzulehnen sei. Der FDP/DVP-Sprecher in Sachen Kreisreform, Hans Albrecht, gleichzeitig Leiter des Staatlichen Forstamtes in Wiernsheim, kritisierte diese Kluft zwischen Ankündigung und Ausführung später, ohne dies Wortbruch zu nennen. Denn: Im Kreis Vaihingen werden alle Entwicklungsachsen zerschnitten, und zwar nicht nur durch Regionsgrenzen, sondern auch durch Regierungsbezirksgrenzen (Protokoll der 100. Sitzung des 5. Landtags von Baden-Württemberg, S. 5838). Überhaupt: Nicht von der Hand zu weisen war, dass die Landesregierung mit ihrem Vorschlag die eigenen Reformgrundsätze nicht eingehalten hat (Drucksache 3300, 5. Landtag von Baden-Württemberg).
Dezidiert fiel die Stellungnahme des Gemeinderats von Mühlacker aus, sie wich von Knapps Meinung ab, forderte die Aufteilung des Kreises Pforzheim und den Erhalt des Kreises Vaihingen, die Abschaffung der Regierungspräsidien, eine Anbindung an den mittleren Neckarraum. In meinem Kommentar hieß es, Knapp habe ein doch reformfreudiges Papier als Stellungnahme vorgelegt, doch die Ratsmehrheit habe sich für das Unmögliche entschieden (WAB, 23. Juli 1970).
Die vom Kreistag eingesetzte achtköpfige Sonderkommission legte Mitte August 1970 einen alternativen Vorschlag vor: Fusion der Kreise Vaihingen und Pforzheim zum Großkreis Pforzheim, Zuordnung zur Region Mittlerer Neckarraum – nur die Kreisstadt-Frage blieb noch ungeklärt. Denn zwischen Vaihingen und Mühlacker herrschte seit dem Zusammenschluss der Oberämter Maulbronn (Sitz: Maulbronn) und Vaihingen (Sitz: Vaihingen) zum Landkreis Vaihingen mit Sitz in Vaihingen 1938 eine nie geendete Rivalität. Die politische Balance konnte nur gewahrt werden durch eine Aufteilung der Sonderbehörden. Vaihingen bekam neben dem Landratsamt auch den Sitz des Arbeitsamtes und eines der beiden Kreiskrankenhäuser, Mühlacker blieben Gesundheitsamt und Staatliches Schulamt und – nicht zu vergessen – das Finanzamt. Doch am 19. Oktober 1970 gab es sie doch, die Empfehlung, Mühlacker zur Kreisstadt zu machen. Der Kreistag stimmte am 5. November 1970 dem Vorschlag zu mit 26 Ja- und sechs Nein-Stimmen bei zwei Enthaltungen.
Freilich: Da war die Einheit schon perdu. Denn am 21. Oktober zeigte sich erstmals, dass die Vaihinger Front bröckelt. Vaihingens Bürgermeister Gerhard Palm, ansonsten dem Landrat gegenüber treu und brav ergeben, spielte den Spalter. Der Vaihinger Gemeinderat, noch Anfang August für die Erhaltung von VAI, forderte an jenem 21. Oktober die Zweiteilung des Landkreises und die Zuordnung des Mittelbereichs Vaihingen zum Kreis Ludwigsburg. Selbst als Anhängsel von Ludwigsburg und damit im mittleren Neckarraum wähnte man sich in einer besseren Lage als in Pforzheim und der Region Nordschwarzwald. Mühlacker als Kreissitz? Nein, Danke, hieß es in der Stadt unterm Kaltenstein.
Die alten Wunden brachen wieder auf. Ich erinnere mich noch an den Inhaber eines Hutgeschäftes in der Vaihinger Innenstadt, der sich vor mir in der Redaktion des WAB aufbaute, den rechten Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben riss und mich verächtlich wissen ließ, Vaihingen habe eine lange Geschichte, Mühlacker habe nichts und sei nur das Produkt einer langen Straße von Dürrmenz zum Bahnhof. So, jetzt hatte ich mein Fett weg. Dabei übersah der Vaihinger Überzeugungsredner, dass ich Lienzinger war und bin.
Nun waren die Kommunen am Zug, denn mit Erlass vom 12. Oktober 1970 (Nummer IV 770.1/43) forderte das Innenministerium die Gemeinden auf, zu den sie betreffenden gebietlichen Regelungen des Gesetzesentwurfs Stellung zu nehmen. Lienzingens Bürgermeister Richard Allmendinger setzte das Thema auf die Tagesordnung der Gemeinderatssitzung vom 13. November 1970. Sein Antrag, dem alle zustimmten, lag auf Fuchslocher-Linie: Die Bürgervertreter lehnten sowohl den Regierungsentwurf zur Kreisreform hinsichtlich seiner räumlichen Abgrenzung als auch eine Zerschneidung des Kreises Vaihingen ab. Der Gemeinderat forderte eine Fusion der Kreise Pforzheim und Vaihingen, die Zuordnung des neuen Großkreises zum mittleren Neckarraum und zum Regierungsbezirk Stuttgart und den Kreissitz in Mühlacker. Die Zuordnung zu einer Region Nordschwarzwald sei unannehmbar und ein Anachronismus, da keinerlei sozio-ökonomischen Beziehungen vorhanden seien noch geschaffen werden könnten. Die Mehrheit der Kreisgemeinden gehöre seit 1951 der Regionalen Planungsgemeinschaft Württemberg Mitte (RPW) an. Die gesamte wirtschaftliche und industrielle Entwicklung des Raumes sei von Stuttgart her erfolgt. Mühlacker biete sich als Kreissitz allein schon durch seine zentrale Lage in einem neuen Großkreis Pforzheim/Vaihingen geradezu an (Stadtarchiv Mühlacker=STAM. Li B 328, S. 58/59).
Doch Lienzingen hatte eigene, vor allem größere Sorgen, denn durch den zweiten Schritt des Landes zu einer Gebietsreform drohte der Verlust der Selbstständigkeit (STAM, Li B 328, Gemeinderatssitzung vom 21. Mai 1971, S. 92). Die Skepsis gegenüber einer Region Nordschwarzwald saß tief. Nicht nur in Lienzingen. Die CDU-Fraktion im Nagolder Gemeinderat hatte im November 1970 vorgeschlagen, den mittleren Neckarraum zweizuteilen und dem Westteil die Kreise Böblingen, Ludwigsburg, Calw und Pforzheim zuzuschlagen. Pforzheim biete sich als Regionssitz an. In einem Kommentar mit dem Kürzel bä schrieb ich: Dieser Nagolder Plan scheint überdenkenswert. Er zeigt nämlich eines deutlich: die Region Nordschwarzwald steht auf tönernen Füßen, ein aus der Verlegenheit geborenes Gebilde (WAB, 20. November 1970).
Ironie der Geschichte: Als bisher einziger Lienzinger gehöre ich seit 1984 ausgerechnet der Versammlung des Regionalverbandes Nordschwarzwald an, bin dort seit mehr als 20 Jahren Vorsitzender der CDU-Fraktion und mache mich für eine Stärkung des sicherlich nicht allzu ausgeprägten Regionalbewusstseins stark. Kann keine Spur von Anachronismus erkennen.
Dreiteilung des Kreises Vaihingen fand immer mehr Anhänger im östlichen Gebietsteil
Die beiden offiziellen Anhörungen der Kommunen 1970 und 1971 endeten im Landkreis Vaihingen mit dem Offenbarungseid. Zunächst elf, dann 18 der 42 Kommunen des Kreises Vaihingen plädierten letztlich für den Antrag der Landesregierung auf Zwei-, genauer Dreiteilung des Kreises Vaihingen, die Zuordnung des Mittelbereichs Vaihingen zu Ludwigsburg, die des Mittelzentrums Mühlacker zu Pforzheim. Damit blickte der Raum Mühlacker zur Region Nordschwarzwald und zum Regierungsbezirk Karlsruhe. Für den Bereich Vaihingen hieß es zweimal Stuttgart.
Trotzdem stimmte am 23. März 1971 eine Mehrheit des Vaihinger Kreistages für das Fuchslocher-Konzept. Der Landrat erwies sich erneut als Kämpfer. Seit 1966 stand er an der Spitze des Kreises Vaihingen, war von 1951 bis 1966 Bürgermeister von Mühlacker, davor Bürgermeister von Kirchheim am Neckar. Unverdrossen hielt er an seinem Plan fest, obwohl die politisch Verantwortlichen des Kreises Pforzheim um Landrat Werner Lutz diesem schon im November 1970 den Boden entzogen: Sie spielten durchaus mit dem Gedanken der Fusion der beiden Kreise (hätten gerne auch den Mittelbereich Bretten unters Pforzheimer Dach gebracht), sagten aber entschieden Nein zu einem Kreissitz in Mühlacker und der Zuordnung des neuen Großkreises zum mittleren Neckarraum. Insofern lässt sich sagen: Die Pforzheimer Kreisspitze verhinderte Mühlacker als Sitz des Landratsamtes.
Fertig zum letzten Gefecht um die Kreiszugehörigkeit
Wiewohl Volontär bei der PZ beziehungsweise deren WAB, versorgte ich schon vor meinem Wechsel zur Ludwigsburger Kreiszeitung die künftigen Kollegen mit Texten zur Lage in Vaihingen. Am 6. Februar 1971 erschien in der LKZ unter der Schlagzeile Vaihingen und Pforzheim in der Zwickmühle – Fertig zum letzten Gefecht um die Kreiszugehörigkeit mein Bericht, den ich hier einfach wiedergebe:
Landrat Erich Fuchslocher rüstet sich zum letzten Gefecht. Vaihingens Kreisoberhaupt fühlt sich von der Landesregierung verlassen. Vor einem halben Jahr legte ein unter seiner Leitung tagendes achtköpfiges Kreistagsgremium einen Alternativplan zum Verwaltungsreform-Konzept des Kabinetts Filbinger vor, das den Landkreis auf die neuen Großkreise Pforzheim und Ludwigsburg aufteilen wollte. Fuchslocher sah eine reelle Chance für seinen Vorschlag, die Kreise Pforzheim und Vaihingen zu vereinigen, den neuen Kreis der Region mittlerer Neckarraum zuzuordnen und Mühlacker zur Kreisstadt zu erheben.
Zwar versprach Ministerpräsident Dr. Filbinger bei einer Anhörung im Staatsministerium eine »wohlwollende Prüfung" dieses „konstruktiven Vorschlages", doch im vor wenigen Tagen vorgelegten Entwurf eines Kreisreformgesetzes stand kein Wort über Vaihingens Alternative. Im Landratsamt gestand man denn auch offen ein: „Wir sind maßlos enttäuscht!"
Der ersten Niedergeschlagenheit folgte jedoch bald ein erneutes Sammeln zum Angriff. Fuchslocher und seine Anhänger, die vor allem Im Bereich Mühlacker sitzen, zählten die letzten Pfeile im Köcher. Doch ob sie auch abgeschossen werden können, das dürfte zumindest fraglich sein. Denn die Landesregierung gab mit der Vorlage des Gesetzentwurfs die Zuständigkeit an die Landtagsabgeordneten ab. Und bei den Parlamentariern dürfen Fuchslocher und seine Mannen nur bitten, nicht angreifen. Deshalb verlegte der Landrat seine Aktivität auf den parteipolitischen Raum. Er erhofft sich das Heil von den Wahlkreisabgeordneten und den Vaihinger Kreisvorsitzenden von CDU, SPD und FDP, die sich dieser Tage im Landratsamt trafen. Kommentar eines Zuhörers: „Es war eine reine Bestandsaufnahme, mehr nicht". Die Parteivorsitzenden und Abgeordneten versprachen zwar, den Alternativplan „oben" zu propagieren, doch weitere Zusagen konnten sie aus Mangel an Zuständigkeit nicht geben.
Inzwischen zerschlug sich auch die Hoffnung, mit dem Landkreis Pforzheim zu einem annehmbaren Arrangement zu kommen. Dort zeigt man einer Fusion beider Landkreise zwar nicht die kalte Schulter, doch gibt man immer wieder klar zu verstehen, daß keinesfalls Mühlacker Kreisstadt und das neue Kreisgebilde der Region mittlerer Neckarraum zugeordnet werden dürften. Diese beiden unabänderlichen Punkte sind es jedoch, die Fuchslocher in die Zwickmühle bringen: Wenn die Senderstadt Mühlacker nicht den Sitz des Landratsamtes bekäme, würden einige Gemeinden im östlichen Kreisteil vom „Alternativzug" abspringen und ihre Gunst dem Kreis Ludwigsburg erweisen. Die Zahl dieser vermeintlich untreu gewordenen Orte würde in dem Moment beträchtlich steigen, sobald die Zuordnung nicht zur Region um Stuttgart, sondern zur Pforzheimer Region nördlicher Schwarzwald erfolgt.
Trotz der durch den Gesetzestext unnachgiebigen Haltung Pforzheims fühlen sich die Goldstädter nicht wohl in ihrer Haut. Denn Landrat Fuchslocher gelang es durch geschicktes Taktieren zwischen dem Stadt- und dem Landkreis Pforzheim einen Hauch von Uneinigkeit zu erzeugen. Während die Stadt Pforzheim vermutlich bereit wäre, eine Kreisstadt Mühlacker zu akzeptieren, aber keinesfalls auf den Sitz der Region zu verzichten, möchte der Landkreis auf jeden Fall den Landrat in Pforzheim sitzen sehen. Eine Einigkeit zwischen Vaihingen und Pforzheim in diesen Fragen wird es nicht geben.
Landrat Fuchslocher steht, sieht man von (noch) getreuen Bürgermeistern und Kreisverordneten ab, fast allein auf weiter Flur. Seine Hoffnungen ruhen jetzt auf dem Landtag. Dort fehlen ihm zwar sicherlich nicht die Argumente, doch die fast noch wichtigeren Verbündeten. Das Schicksal seines Planes war praktisch besiegelt, als sich die Kreisstadt Vaihingen dagegen und damit für Ludwigsburg ausgesprochen hatte.
Soweit meine Einschätzung im Februar 1971.
Doch bis dato lag nur der Gesetzentwurf der Landesregierung auf dem Tisch, den der Sonderausschuss des Landtags am 19. März 1971 billigte. Jetzt hatte das Plenum des Landesparlamentes das Wort. Im Vorfeld zeigte sich erneut das diplomatische Geschick, aber auch die Ausdauer und den Kampfgeist von Erich Fuchslocher. Er deutete an, zu weiteren Zugeständnissen bereit zu sein – das konnte nur die Zuordnung eines neuen Großkreises Pforzheim/Vaihingen zur Region Nordschwarzwald sein.
Denn Ziel der Landespolitik war es längst, zwischen den Räumen Stuttgart und Karlsruhe mit Pforzheim landesplanerisch ein Oberzentrum zu schaffen als Hauptstadt der Region Nordschwarzwald, die wiederum stark genug werden sollte durch eine entsprechende Zuordnung von Stadt- und Landkreisen. Fuchslocher machte die Kreis-Fusion zum Maßstab aller Dinge und damit einen entsprechenden politischen Einfluss im neuen Kommunalverbund, während die Gegner seines Planes auch im Landtag stärker das Regionale in die Waagschale warfen. Der Kreis Pforzheim hatte 76.000 Einwohner, der Kreis Vaihingen 92.000.
Präsident: Ich bitte, die Erregung draußen abzureagieren
Zuruf: Das ist unerhört! steht im Protokoll der 109. Sitzung des 5. Landtags von Baden-Württemberg (S. 6483). Und: Weitere Zurufe. Anhaltende Unruhe.
Dann der amtierende Landtagspräsident Hermann Veit (SPD): Meine Damen und Herrn, ich bitte, die Empörung draußen abzureagieren. Wir müssen hier weiterfahren. (Unruhe) Meine Herren, ich warte, bis etwas mehr Ruhe einkehrt.
Gerade hatte Veit über den Antrag Drucksache 5009 Ziffer 1 b der Pforzheimer Abgeordneten Fritz Bauer (SPD), Fritz Wurster (CDU) und Dr. Wolfgang Vogt (FDP/DVP) und anderer abstimmen lassen. Das erste war die Mehrheit. Der Antrag ist angenommen.
Mit dieser Entscheidung in der zweiten Lösung in den Abendstunden des 8. Juli hatte wohl kaum jemand gerechnet. Das Ergebnis war letztlich Erfolg der Fuchslocher-Strategie. Die LKZ rückte die Nachricht noch spät auf die Titelseite. Denn der Beschluss hieß nichts anderes als den bisherigen Landkreis Vaihingen nicht auf die beiden Kreise Ludwigsburg und Pforzheim aufzuteilen, sondern ihn als einheitlichen Raum dem Landkreis Pforzheim zuzuordnen. Mit diesem verbinde ihn eine ähnliche Topografie und Wirtschaftsstruktur, wodurch sich beide Gebiete hervorragend ergänzen würden, steht in der Begründung zum Antrag. Über das Stimmenverhältnis findet sich kein Hinweis im Protokoll.
Zehn Wortmeldungen zu einem Antrag, der bei Nummer 17 des Gesetzentwurfs - Landkreis Ludwigsburg mit dem Sitz des Landratsamtes in Ludwigsburg - gestellt wurde. Antragsteller Fritz Bauer, Stadtrat und Geschäftsführer aus Pforzheim, kritisierte das krasse Missverhältnis bei der Einwohnerzahl der Kreise Ludwigsburg und Pforzheim (411.000 zu 152.000), wenn es beim Antrag der Regierung bleibe. Dabei habe man durch die Kreisreform solche Missverhältnisse beseitigen wollen. Sowohl Bauer als auch sein Pforzheimer Kollege Vogt sagten, dieser Raum gehöre zusammen, über eine Feinabgrenzung könne man sich unterhalten. Der Pforzheimer CDU-Abgeordnete und Bürgermeister Fritz Wurster betonte. Wir sollten dafür sorgen, dass zwischen dem Ballungsraum um Stuttgart herum und zwischen dem Raum Karlsruhe eine starke und gesunde Region besteht. Diese kann aber nur zustande kommen, wenn dieser Bereich durch den ostwärtigen Teil des Kreises Vaihingen angereichert wird.
Überhaupt: Inwieweit sollte die alte badisch-württembergische Grenze, die bis 1973 die Grenze des Landkreises Vaihingen zum Kreis Pforzheim darstellte, überwunden werden? Bauer sagte in der Sitzung am 8. Juli 1971: Wir haben seit vielen Jahren immer wieder bedauert, dass diese Landesgrenze zwischen Mühlacker und Pforzheim nicht weggefallen ist. Diese solle nun mit dieser Kreis- und Verwaltungsreform überwunden werden. Und direkt an den jungen CDU-Abgeordneten Lothar Späth gewandt: Wenn uns das gelingt, dann wird auch die Frage der Regionsabgrenzung keine so entscheidende Rolle mehr spielen, weil ich doch hoffen darf, dass die zukünftigen Regionalgrenzen keine Landesgrenzen sein werden (Protokoll, S. 6483). Späth war damals Geschäftsführer der gewerkschaftseigenen Neuen Heimat in Stuttgart und Hamburg und im Vorstand der Baufirma Baresel AG.
Mitunterzeichner des Antrags war Hermann Gross, Bürgermeister der noch zum Kreis Calw, nach der Reform zum Enzkreis gehörenden Gemeinde Birkenfeld und Landtagsabgeordneter der SPD. Er begründete seine Zustimmung mit der Entscheidung des Sonderausschusses des Landtags, den Kreis Freudenstadt mit Horb der Region Neckar-Alb zuzuteilen. Das schwäche die Region Pforzheim wesentlich. Er halte diese Zuordnung für Unsinn. Wenn der Pforzheimer Bereich nicht aus anderen Bereichen angereichert werde, werde diese Region eines schönen Tages zwischen den Ballungsräumen Stuttgart und Karlsruhe erdrückt. Die Existenz Region Nordschwarzwald hänge von der Zuteilung des Mittelbereichs Vaihingen ab.
Mit Lothar Späth, Rolf Schöck (beide CDU) sowie Heinrich von Hacht (SPD) widersprachen alle drei Abgeordnete aus dem seinerzeitigen Kreis Ludwigsburg (303.000 Einwohner), zudem – gleich zweimal – Innenminister Krause. Doch keiner der vier Vertreter des Wahlkreises Leonberg/Vaihingen meldete sich zu Wort, sie enthielten sich bei der Entscheidung über den Bauer-Antrag der Stimme. Heinrich von Hacht, im Hauptberuf Geschäftsführer der Porzellanmanufaktur Ludwigsburg, sagte offen: Als Abgeordneter von Ludwigsburg schäme man sich beinahe, wenn man bei dieser Debatte das Wort ergreife, denn der Kreis Ludwigsburg könne wohl als Gewinner dieser Kreisreform bezeichnet werden.
Der Innenminister hielt seinem Fraktionskollegen Gross vor, der Schaden, der im Bereich Freudenstadt-Horb mit der Zuordnung zur Region Neckar-Alb entstanden sei, müsse auch dort beseitigt werden, wo er entstanden sei und nicht in Pforzheim. Tatsächlich korrigierte der Landtag später den Beschluss und ordnete den Kreis Freudenstadt zusammen mit Calw, dem Enzkreis und der Stadt Pforzheim der Region Nordschwarzwald zu.
Wiederum dieses Wortgeplänkel zwischen Gross und Krause belegt, wie schnell das Gesamtkonzept ins Rutschen geraten konnte, wenn an einer Stelle etwas verändert wurde. Zum Beispiel der Mittelbereich Horb: Der oder Teile von ihm wie der Nahbereich Ergenzingen wollten nicht zum Kreis Freudenstadt, sondern zu Tübingen. Wäre dies aber so beschlossen worden, hätte der Kreis Freudenstadt für den Verlust schadlos gehalten werden müssen auf Kosten des Kreises Calw. Wiederum dann hätte die Existenz des Kreises Calw auf dem Spiel gestanden. Wäre dieser von der Landkarte verschwunden, hätte der Enzkreis nicht nur das halbe, sondern das ganze Enztal geerbt. Das sprach Innenminister Walter Krause in der 112. Sitzung des Landtags ganz offen an. So aber blieb letztlich Horb – bisher Kreisstadt, aber immerhin noch Bundesausbauort - bei Freudenstadt, also war das Überleben des Kreises Calw, wenn auch mit 112.000 statt 145.000 Einwohnern, bewusst als Bäderkreis, gesichert. Was wiederum Hermann Gross wollte, denn schließlich war er Abgeordneter des Kreises Calw. Der neue Kreis Freudenstadt hatte rund 100.000 Einwohner (Quelle: Abgeordneter Norbert Schneider, CDU, 13. Juli 1971, 112. Sitzung des 5. Landtags, Protokoll, S. 6725).
Neuenbürg, Dennach und Waldrennach nicht zum Enzkreis?
So fiel für den Enzkreis nur das obere Enztal ab, wobei noch der Antrag aus dem Plenum kam, Neuenbürg mit Waldrennach und Dennach im Kreis Calw zu belassen. Fritz Weber (FDP/DVP), Landwirt aus Möttlingen-Hof Georgenau begründete dies unter anderem mit der selbständigen AOK Neuenbürg, deren Gebiet nicht durchtrennt werden dürfe und deshalb bei Calw bleiben müsse, während Dr. Wolfgang Vogt (FDP/DVP) dagegen hielt mit dem Hinweis, Neuenbürg gehöre seit eh und je zum Arbeitsamtsbezirk Pforzheim. Letztlich votierte die Landtagsmehrheit wie Vogt, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Pforzheim, für die Vorlage von Regierung und Sonderausschuss (S. 6730 f).
Und Lienzingen? Eigentlich zeigt dieses Spiel um Zuordnungen, dass die Stellungnahmen der Gemeinden nur eine Alibifunktion hatten und letztlich kaum etwas bewirkten. Der Regierung war es wichtig, ihr Gesamtkonzept durchzusetzen, um ihr Gesicht nicht zu verlieren.
Lienzingern lag die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit weitaus näher
Ein ähnliches Motiv trieb die Mitglieder des Sonderausschusses des Landtags zur Kreisgebietsreform um. Bei den einzelnen Punkten kam es entscheidend darauf an, wer gerade welches Argument in die Diskussion einbrachte, Kurz-Koalitionen schmieden konnte, Pro oder Kontra aktuell passend machte. Kreisreform erlebten viele Menschen nur aus der Distanz.
Den Lienzingern lag die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit weitaus näher als die neuen Grenzen der Landkreise. Doch obwohl sie im Januar 1974 mit mehr als 90 Prozent bei extrem hoher Beteiligung gegen die Eingemeindung nach Mühlacker stimmten, verloren sie die kommunale Selbstständigkeit zuerst durch Landtags-, dann durch Gerichtsbeschluss. Eine informelle Volksabstimmung oder -anhörung der Bürgerschaft per Stimmzettel gab es bei der Kreisreform im Kreis Vaihingen nicht. Somit blieb der Landrat der Herr des Verfahrens, solange die Mehrheit des Kreistags ihn stützte. Kurskorrekturen aus Gründen der Flexibilität in der Argumentation ließen sich bei diesem Verfahren rascher erreichen. Beweglich musste der Landrat sein.
Symbolisch Galgen für den Landrat vor dem Vaihinger Landratsamt
Diese Mehrheit bestand noch bei der Kreistagssitzung am 14. Juli 1971, obwohl sich schon der Volkszorn im Bereich Vaihingen entzündet hatte wegen der Zuordnung auch des östlichen Kreisteils zu Pforzheim. Dieses: Wir wollen nicht zu Pforzheim / Wir wollen nicht zu den Gelbfüßlern. Waren wir nicht alle Einwohner desselben Bundeslandes? Die Stadt Vaihingen telegrafierte noch am Abend des Sündenfalls den Fraktionsvorsitzenden im Landtag und forderte eine Korrektur der Entscheidung. Gegenüber dem Landratsamt an der Franckstraße errichteten empörte Bürger einen provisorisch gezimmerten Galgen, um – natürlich nur symbolisch - den Landrat daran aufzuknüpfen. Eine Geschmacklosigkeit! Blanker Hass. Fuchslocher schien in der Kreisstadt Feind Nummer eins zu sein, schrieb ich in meinem Bericht (LKZ, 12. Juli 1971). Der Landrat sei in den ersten beiden Nächten nach dem Landtagsspruch in seinem Haus in der August-Lämmle-Straße in Mühlacker regelmäßig aus dem Schlaf gerissen worden. Die Anrufer hätten zwar ihre Namen nicht genannt, hätten ihn aber beleidigt und mit unflätigen Worten beschimpft.
An einem Abend nagelten Unbekannte die Türe zum Landratsamt zu. Auf Vaihingens Straßen pinselten welche mit heller Farbe Sprüche auf den Asphalt wie Landrat raus und Fuchslocher hat uns verkauft. Seine Kritiker beschimpften ihn als Pforz-Landrat.
Mit Megafonen machten die Galgenbauer ihrem Unmut am Tag der Kreistagssitzung Luft. Wer gerade auf dem Weg ins Landratsamt vorüber ging und als Verfechter der Wir-wollen-alle-zu-Pforzheim-Linie erkannt wurde, den schmähten sie. Nachdem sich auch die Junge Union für diesen Kurs ausgesprochen hatte, traf es auch mich.
Landwirte rückten an jenem 14. Juli mit Traktoren zum Protestzug aus. Der Name Pforzheim auf Straßenschildern wurde schnell mal durchgestrichen. Innerhalb von zwei Tagen unterschrieben im Vaihinger Rathaus 2000 Menschen die Protestnote an den Landtag.
Über der Kreistagssitzung lag Abschiedsstimmung. Hans Albrecht, Landtagsabgeordneter und Kreisverordneter, begründete sein und das seiner Wahlkreis-Kollegen Schweigen in der zweiten Lesung. Sie seien der Meinung gewesen, das letzte versuchen zu müssen, um die Kreiseinheit zu bewahren, da die große Mehrheit der Gemeinden und des Kreistags das gefordert hätten. Viereinhalb Stunden dauerte die Sitzung, Vaihingens Bürgermeister Gerhard Palm (FWV) störte den Landrat durch ständige Zwischenrufe. Kein anderer Kreis im Land sei so uneinig, bedauerte Karl Krust (SPD, Mühlacker) und nannte dies tragisch. Ein anderer Sozialdemokrat, Artur Mayer aus Vaihingen, musste sich vom Landrat vorhalten lassen: Sie können es niemand verübeln, dass er den Auftrag, die Kreiseinheit zu erhalten, ernster nahm als Sie.
Kreisbauernführer Richard Beck, Kreisrat der FWV aus Eberdingen, Erfinder des Vaihinger Verkehrsübungsplatzes und Erdbeerzüchter, hatte dem Landrat als erster die Gefolgschaft aufgekündigt und in einer früheren Sitzung wiederum Palm als kleinkariert bezeichnet. Dafür entschuldigte sich nun Beck bei Palm, worauf ein Zuhörer klatschte - es war der Lokalchef des Enzboten, Michael Holtz. Fuchslocher empfahl ihm daraufhin, zur Beruhigung sauren Sprudel zu trinken. Vielleicht helfe dies.
Der Landrat hatte schon aufgegeben, er - der Realist - sah keine Chance mehr für den Großkreis Vaihingen/Pforzheim. Doch der Bürgermeister von Mühlacker (vor 1966 in Sersheim) rief zum Durchhalten auf: Gerhard Knapp (FWV, später SPD) gelang es, die große Mehrheit zu begeistern. Die Entscheidung falle erst in der dritten Lesung. Die nun abgewandelte Forderung dieser Mehrheit. Weiterhin ja zum Großkreis VAI + PF, aber der muss zum Regieungspräsidium Stuttgart kommen. Knapp vertrat offensiv diese Position, doch letztlich spielte diese Variante im Landtag keine Rolle mehr.
Für die dritte Lesung am 18. Juli 1971 legte der CDU-Abgeordnete Schöck aus Ludwigsburg einen interfraktionellen Antrag vor – die Drucksache 5264. Ziel: die Entscheidung aus der zweiten Lesung zu revidieren und den Kreis Vaihingen so aufzuteilen, wie es ursprünglich geplant war. Jetzt unterschrieben auch die Wahlkreisvertreter Dr. Hans Roth (CDU), Gottfried Haase (SPD) und Hans Albrecht (FDP/DVP). Eigentlich seien sie für den Erhalt des Landkreises gewesen, würden aber wegen des Drucks, der Verärgerung und des Willens der Bevölkerung für die Teilung votieren.
Rolf Schöck argumentierte vor allem unter regionalpolitischen Gesichtspunkten. Es sei nie bestritten gewesen, dass der Landkreis Vaihingen an der Enz zu der Region mittlerer Neckarraum gehöre. Mit Rücksicht auf die starke Region mittlerer Neckarraum und im Blick auf die schwache Region Nördlicher Schwarzwald könne es gerade noch hingenommen werden, dass der Verflechtungsbereich Mühlacker dort zugeschlagen werde, dagegen sei eine Zuordnung des ganzen Kreises Vaihingen zum Nordschwarzwald und damit weg vom mittleren Neckar völlig unsinnig.
Hans Albrecht aus Wiernsheim sagte, er respektiere voll die Willensäußerungen der Gemeinden und Bürger des Mittelbereichs Vaihingen. Wiederum Hans Roth räumte ein, die Entscheidung in der zweiten Lösung habe im Bereich Vaihingen große Überraschung und Bestürzung ausgelöst. Die Wahlkreisabgeordneten hätten in ihrem Zwiespalt in dieser Sache die zwiespältigen und widersprüchlichen Auffassungen widergespiegelt, die im Kreis Vaihingen selber bestanden hätten.
Kurz vor Mitternacht des 22. Juli stimmte nach sieben Rednern eine Mehrheit für den Antrag zu Nummer 7 Enzkreis mit Sitz des Landratsamtes in Pforzheim – für einen Enzkreis ohne den Mittelbereich Vaihingen. Diesmal verzeichnet das Protokoll weder Unruhe noch Zwischenrufe. Der amtierende Präsident Dr. Hermann Müller (FDP/DVP) ging zum nächsten Punkt über: Nummer 8 Landkreis Freudenstadt (115. Sitzung des 5. Landtags von Baden-Württemberg, Seiten 7111 f). Politisch vernünftig und gut - so lassen sich die Kommentare der Wahlkreisabgeordneten Roth, Haase und Albrecht überschreiben (Ludwigsburger Kreiszeitung, 24. Juli 1971, S. 7) überschreiben. Nun beginne die Fürsorgepflicht, titelte die LKZ auf derselben Seite. Das war ein Wort des SPD-Landtagsabgeordneten Claus Weyrosta (Bietigheim), der sagte, für den Kreis Ludwigsburg bestehe nun die Verpflichtung, die Integration der neuen Gemeinden einzuleiten. Landrat Dr. Ulrich Hartmann zeigte sich zufrieden auch mit dem Ergebnis seiner Taktik, sich nicht in die Angelegenheiten der Nachbarkreise einzumischen. Er habe damit einen Beitrag geleistet, die Unruhe in Grenzen zu halten.
Doch für die Seitenhiebe sorgten schon die Vaihinger selbst: Beim Spatenstich zum neuen Hallenbad im Egelsee Ende Mai 1971 meinte knitz der Vorsitzende des Hallenbadfördervereins Vaihingen, Walter de Pay, er vermisse Landrat Fuchslocher, aber auch einen Zuschuss aus der Kreiskasse. Fünf Prozent seien üblich. Vaihingen bezahle schließlich auch am neuen Kreiskrankenhaus in Mühlacke mit (Württembergisches Abendblatt, 1. Juni 1971, S. 4).
Dass wenige Monate nach Inkraftreten der Entscheidung, den Mittelbereich Vaihingen dem Kreis Ludwigsburg einzugliedern, der Ludwigsburger Landrat Ulrich Hartmann mit der Botschaft überraschte, der Kreis wolle bei Horrheim eine große Mülldeponie bauen, sorgte im Raum Mühlacker doch für eine gewisse Schadenfreude. Hartmann und sein Kreistag setzten diesen Plan dann um, bauten um Horrheim eine Umgehungsstraße als Anbindung an die Deponie und als Zugeständnis an die Protestler in dem Raum. Der Kreischef griff hier weitaus aktiver ein als vormals in die Debatte um die Kreisgebietsreform. Bei letzterer hielt er sich auffällig zurück und konnte letztlich die Früchte ernten, die andere für ihn säten.
Die Lienzinger Geschichte drehte sich weiter, ein großes Thema im Flecken war die Kreisreform nicht. Statt nach Vaihingen mussten die Menschen, wenn sie etwas zu erledigen hatten auf dem Landratsamt, ins einfacher zu erreichende Pforzheim und nicht mehr nach Vaihingen. Mit der Zwangseingemeindung 1975 gingen für die Lienzinger die Zuständigkeiten etwa für einen Bauantrag vom Landratsamt aufs Rathaus Mühlacker über. Somit wurden die Wege noch kürzer. 42 Gemeinden hatte zuletzt der Landkreis Vaihingen. Doch da lief die kommunale Gebietsreform erst an. Heute wären es nach all den Fusionen von Gemeinden nur noch 13 Kommunen. Etwas wenig für einen Landkreis. Der heutige Enzkreis bringt es auf immerhin 28.
Die baulichen Spuren der Kreisreform in Mühlacker sind vor mehr als zehn Jahren beseitigt worden. Das Bürohaus Wertle musste der Gartenschau 2015 Platz machen. Die Immobilie im Quadrat - 35 mehr lang und 35 Meter breit - war die Produktion einer Fertighausfirma in Ölbronn und als Provisorium für 20 Jahre gedacht. Inzwischen waren es 40 Jahre geworden. Damit war es so alt wie der Enzkreis. Und mit dessen Zustandekommen hing seine Geschichte zusammen. Das Bürohaus als Relikt eines verlorenen Kampfes, den um die Selbstständigkeit des Landkreises Vaihingen und ums eigene Kfz-Schild mit dem Kürzel VAI.
Zum 1. Januar 1973 entstand der Enzkreis, dessen östlicher Teil der westliche Teil des Kreises Vaihingen war. Um Balsam auf die wunden Seelen im Raum Mühlacker zu streichen, gab es dann dieses Bürogebäude als Außenstelle des Landratsamtes - ein Holzständerbauwerk mit Pressspanplatten und Betonwänden. In einem Teil residierte die Außenstelle der Kfz-Zulassung, die Statthalter einiger weiterer Enzkreis-Ämter, in einen übrigen Teil zog die vom Posten zum Revier erhobene Polizeifiliale ein. Mit dem Bau des neuen Rathauses 1990 nutzte das Jugendzentrum Pro Zwo die frei gewordenen Räume auf dem Wertle. Bis das neue Jugendhaus fertig war.
Was blieb vom Alt-Landkreis VAI? Dokumente, denen ihr Alter anzusehen ist wie dem des Amtsblattes des Landkreises aus den Nachkriegsjahren. Jedenfalls blieb mir die Schatulle, das Heimatbuch, mein erstes Kfz-Kennzeichen VAI - R 1, und die Überzeugung, es hätte besser laufen können für diesen Kommunalverbund. In den alten Kreisgrenzen arbeiten und denken die meisten Sportverbände, die Kirchen, manche Verbände auch nach 50 Jahren noch. Das nenne ich Beständigkeit.
Wieder verwendet werden darf inzwischen ganz amtlich VAI als Kfz-Kennzeichen. Die Enzkreisler fahren mit PF. Irgendwie genierten sich bisher alle Landräte, ein ENZ-Kennzeichen beim Bund durchzusetzen. Das könnte helfen, dass das WIR siegt.
Dazu ein Blick in die Pressemitteilung des Landratsamtes Enz für Silvester 2022: Die neue Verwaltungseinheit bestand sowohl bei der Fläche als auch der Bevölkerung zu etwa gleichen Teilen aus den früheren Ländern Baden und Württemberg: Schwaben und Badener unter einem Kreisdach also.Wer mit Menschen spricht, die diese Zeit miterlebt haben, erfährt schnell, dass die Fusion alles andere als konfliktfrei verlief; Vorurteile und Animositäten herrschten auf beiden Seiten der früheren Landesgrenze.
VAI - Der Landkreis in Abwicklung
Wie sahen die letzten knapp zwei Jahre des Landkreises in Abwicklung aus? Rutsch in die roten Zahlen, titelte ich in der LKZ vom 11. Dezember 1971. Die Erben aus Ludwigsburg, Pforzheim und Karlsruhe blicken in fast leere Kassen, wenn sie den ihnen vom Gesetzgeber zugewiesenen Teil des Landkreises Vaihingen übernehmen. Denn im 34. und somit letzten Jahr seines Bestehens fehlen 2,2 Millionen Mark, hatte Kreiskämmerer Wilhelm Stumpp vorgerechnet, der ein Jahr danach in gleicher Funktion zum Enzkreis wechselte. Die von den Städten und Gemeinden aufzubringende Kreisumlage betrug 20 Prozent (2023: 29,9 Prozent) und wie heutzutage lagen seinerzeit besonders die Sozialausgaben schwer im Magen, gleichzeitig sank die kommunale Steuerkraftsumme um 13 Prozent. Die am 24. Oktober 1971*) gewählten 35 Kreisverordneten (34 Männer und eine Frau) vernahmen die Botschaft mit Überraschung, allerdings wussten sie schon, dass im September 1972 die Übergangskreistage zusammentraten und sie mit neuen Kassenlagen zu rechnen hatten.
Knapp: Kreisgrenze darf kein Eiserner Vorhang sein
Schiedlich-friedlich lief der Übergang nicht ab. Streitpunkt: die Vereinbarung zwischen den Landkreisen Enzkreis und Ludwigsburg über den Vollzug des Kreisreformgesetzes als Teil davon die Sonderschule für Bildungsschwache in Vaihingen. Der Schulbezirk müsse künftig – neben dem Kreis Ludwigsburg – auch den gesamten Altkreis Vaihingen umfassen. Dies sollte nur für eine Übergangszeit von zwei Jahren gelten, dann hätten nur Kinder aus dem neuen Ludwigsburg die Einrichtung besuchen dürfen, was Landrat Fuchslocher ablehnte. Er forderte, gestärkt durch ein Votum seines Kreistags, dass auf Dauer der gesamte vormalige Kreis Vaihingen zum Schulbezirk gehören müsse. Fuchslocher war auch sauer auf seinen Ludwigsburger Kollegen Dr. Ulrich Hartmann, der angekündigt hatte, in einer Sitzung des Koordinierungsausschusses über die Vereinbarung weder verhandeln noch abstimmen zu lassen, dies dann aber doch tat (LKZ, 31. Juli 1972, S. 6).
Der Streit um Schulbezirke schwelte weiter. Wir werden uns wehren, rief der Landrat vor dem Kreistag aus, der im Juli 1972 in der Feuerwache in Mühlacker tagte. Eine Kreisgrenze dürfe kein Eiserner Vorhang sein, so Bürgermeister Gerhard Knapp. Die historischen Verbindungen zwischen Mühlacker und Vaihingen sollten nicht durchschnitten werden, denn im Landkreis Vaihingen teilten sich beide Städte die Standorte der kreisweit tätigen Behörden und Einrichtungen auf. Die Ludwigsburger wollten die neuen Grenzen zwischen den beiden Bereichen - so der Vorwurf - aber etwas hermetisch abriegeln (LKZ, 22. Juli 1972)
Beim Gipfeltreffen der Landräte Ulrich Hartmann (Ludwigsburg), Werner Lutz (Pforzheim) und Erich Fuchslocher (Vaihingen) im Januar 1972 ging es mal nicht um Immobilien und Bezirke, sondern um Menschen: das Schicksal der 150 Beamten, Arbeiter und Angestellten in Diensten des Kreises Vaihingen. Nähere Richtlinien über den Übergang von Personal war die Landesregierung bis dahin schuldig geblieben. Die Absicht der Ludwigsburger, eine Außenstelle in Vaihingen einzurichten, erleichterte das Verfahren (LKZ, 22. Januar 1972, S. 14).
Ganz locker verabschiedete sich die Bürgermeister-Elf des Kreises Vaihingen von der Bühne – mit einem 4:1-Sieg über die Auswahl des Deutschen Bundestages. Extra deshalb reiste eine Delegation für drei Tage nach Bonn, ich war einer der Schlachtenbummler. Per Ansichtskarte meldete der Illinger Bürgermeister Ewald Veigel dem daheim gebliebenen Landrat Fuchslocher: Wir haben einen der letzten Siege für den Kreis errungen.
Willkommen!
27 „Neue“ im Kreis Ludwigsburg stand über der vierseitigen Beilage der LKZ am 30. Dezember 1972. Davon kamen 18 vom alten Kreis Vaihingen. Die Kreisredaktion der Ludwigsburger Kreiszeitung stellte die Orte in der Ausgabe vom 30. Dezember 1972 vor, die vom 1. Januar 1973 an auch zum Kreis Ludwigsburg gehörten. Seit Sommer 1971 war ich Mitglied der Redaktion und blieb es mehr als 45 Jahre lang.
Ach so, am 8. April 1973 kandidierte ich erstmals für den Kreistag des Enzkreises. Weil Lienzingen noch selbstständig war, im Wahlkreis Stromberg mit überwiegend deutlich größeren Kommunen als mein Heimatort. Mit 2425 Stimmen auf dem 4. Platz der CDU-Liste bei insgesamt 12 Kandidaten - gutes Ergebnis für einen 22-Jährigen, aber es reichte nicht zum Mandat, denn nur Karl Krauth, Drogist in Illingen, mit 3395 Stimmen und Rektor Gerhard Duppel (Maulbronnn, 3126 Stimmen) zogen für die Liste in den Kreistag ein. Drei Kreistagskandidaten aller Wahlvorschläge kamen aus Lienzingen: Hans Lepple, Kommandant der Feuerwehr und Gemeinderat, bei der FWV sowie Albert Bäzner, Schlosser und Gemeinderat, für die SPD und ich für die CDU. Das Wahlkreisergebnis: Bächle 2425, Lepple 820, Bäzner 671. In Lienzingen holten Lepple und ich jeweils 550 Stimmen. Bäzner blieb dahinter. Die Kräfteverhältniss im ersten Enz-Kreistag 1973: CDU 20, SPD 19, FWV/FDP 10 (Quelle: Kreisarchiv des Enzkreises, Bestand Landratsamt Enzkreis, vorl. Nr. 103). - Fünf Jahre später schaffte ich es dann im Wahlkreis Mühlacker ins Kreisparlament.
Und Mühlacker? Die Stadt wurde zwar keine Kreisstadt, weil ihr der Sitz des Landratsamtes des Enzkreises verwehrt wurde, doch sie konnte sich mehr oder minder schadlos halten: Durch Eingemeindungen hatte sie inzwischen mehr als 20.000 Einwohner und avancierte zum 1. Januar 1973 automatisch zur Großen Kreisstadt, ihr Bürgermeister zum OB. Also auch vor 50 Jahren. Noch ohne Großglattbach und Lienzingen. Erst zum 7. Juli 1975 kam es zur letzten Eingemeindung - der von Lienzingen, angeordnet vom Staatsgerichtshof Baden-Württemberg. Die Klage der Lienzinger gegen den Verlust der Unabhängigkeit wies das Landesverfassungsgericht zurück. Die Entscheidung war endgültig.
Harrt noch die Frage auf eine Antwort, was Lienzingen und Ergenzingen gemeinsam haben. Beide wollten nicht in die Region Nordschwarzwald, beide kamen doch dazu, beide fühlen sich dort durchaus wohl.
Quellen: Eigenes Archiv, Erinnerungen als Zeitzeuge, frühere Aufzeichnungen und Berichte, Protokolle des Landtags von Baden-Württemberg. Aus Ludwigsburger Geschichtsblätter, Nr. 56/2002 der Beitrag von Thomas Schulz: Die Entstehung des „Großkreises“ Ludwigsburg, S. 153 ff) - Allerdings wirken vor allem die Zeitungsausschnitte aus meinem Fundus im heimischen Untergeschoss nimmt mehr wie druckfrisch. Kein Wunder, sind sie doch teilweise mehr als ein halbes Jahhrundert alt. Hier bitte ich um Nachsicht. Lieber mit Altersspuren als gar keine Spuren. Und bewusst auch ein bisschen schief - denn nicht alles verlief kerzengerade
Kommentare
Noch keine Kommentare