Der Zeisig, die Suche nach Wohnraum und Mühlackers ökologische Kehrtwende
Nehmen wir die drei großen Wohngebiete der Nachkriegszeit in der Kernstadt als Vergleich zum jüngsten, bisher nur auf dem Reißbrett vorhandenen Ziegelhöhe. Mühlacker entwickelte in den Nachkriegsjahren das Heidenwäldle, den Senderhang und den Stöckach als große Siedlungen. Die wohnungssuchenden Menschen warteten auf ein Dach überm Kopf. Die drei Quartiere entstanden nach einem jeweils einheitlichen städtebaulichen Konzept - auf Kosten der Natur. Denn der Siedlung Heidenwäldle fielen in den sechziger Jahren mehr als sieben Hektar Wald zum Opfer, bei Aischbühl und Senderhang wuchsen auf der grünen Wiese Wohnhäuser in die Höhe - alle drei Projekte, zeitversetzt geplant und realisiert, bedeuteten einen gewaltigen Flächenfraß.
Und nun das Contra-Programm: die alte Ziegelei - projektiert auf einer Gewerbebrache. Kehrtwende zun Nutzen der Ökologie. Wohnungen für voraussichtlich 1400 Menschen, dazu Baumarkt und Einkaufszentrum sowie das Traditionsuntertnehmen Craiss. Seit Jahrzehnten für die Ziegel-Produktion genutzte Fläche - als Industrieareal mit allen Nachteilen für die Umwelt - wird recycelt. Kein einziger Meter grüner Wiese wird in Anspruch genommen. Innentwicklung von der besten Seite. Kein Flächenfraß. Und trotzdem!?
Trotzdem: Die Stadt führe mit diesen Ziegeleiplänen einen Krieg gegen die Natur war am Samstag in einer Pressemitteilung des BUND im Mühlacker Tagblatt zu lesen. Krieg? Da fällt mir Putins Überfall auf die Ukraine ein. Ziegelei gleich Ukraine? So einen Unfug habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Tagelang trieb mich diese Entgleisung des BUND um, am Dienstagabend deshalb nach dem letzten Punkt der Tagesordnung meine Wortmeldung im Gemeinderat zum Thema, die wiederum Auslöser war für eine kurze, aber an Klarheit und Eindeutigkeit der Worte kaum zu übertreffende Debatte. OB und Fraktionen wiesen den Vorwurf mit Entschiedenheit zurück.
Bösartiges vom Bund für Umwelt-und Naturschutz (BUND) Mühlacker und Region Nordschwarzwald. Offenbar angestoßen von einem Bewohner der Ulmer Schanz, während der Landes-BUND eine zwar in Details kritische, aber insgesamt zustimmende Kommentierung zum Bebauungsplan vor einiger Zeit vorlegte.
Das gute demokratische Recht ist es, die gesamte Planung in Frage zu stellen oder Teile davon. Immerhin: Fortschritte erreichten die Kritiker aus der Ulmer Schanz schon. Auf ihre Einwände lockerte der Gemeinderat den westlichen Rand, nahm ihm den Mauer-Charakter. Das Plangebiet wird im Westen begrenzt durch das geschützte Hohlweg-Biotop Maulbronner Weg und eine sich östlich anschließende, seit März 2022 unter Schutz stehende Flachlandmähwiese, die – mit einer Gesamtfläche von 3170 Quadratmetern – letztlich komplett aus der Planung für das neue Baugebiet genommen wurde.
Eine zweite öffentliche Versammlung mit Information über die aktuellen Pläne sowie der Möglichkeit zur Diskussion darüber lockte kürzlich etwa 70 Besucher in den Uhlandbau, von denen ein Teil die Entwürfe ausgesprochen positiv aufnahm, andere wiederum erneut Kritik übten. Bürgermeister Winfried Abicht ließ als Versammlungsleiter allen, die sich zu Wort meldeten, so viel Zeit wie diese wollten - zurecht sollte sich niemand beklagen können, zu kurz gekommen zu sein. Inzwischen ist die erneute Offenlage abgeschlossen.
Also: Ein normaler demokratischer Prozess, kein Krieg gegen die Natur. Schon vor Tagen erschienen Leserbriefe, streckenweise durchaus sachlich, aber auch mit Aussagen, die nicht richtig waren.
Unterschätzt hat die Stadt die Öffentlichkeit. Im November 2018 bloggte ich zum Thema, griff eine in Stuttgart vorgestellte Studie des Bundesinstituts für Bau, Stadt und Raumforschung auf. Ein Fazit aus der Studie mit dem Ziel, mehr Tempo bei den Projekten zu machen: Eine koordinierende Stelle für den Wohnungsbau in einer Stadtverwaltung kann die Vorhaben unterstützen, indem sie die Abstimmungen zwischen Fachämtern in die Hand nimmt und den Dialog mit Bürgerschaft sowie kommunalpolitischen Gremien und Investoren aufeinander abstimmt.
Wohnungsbauvorhaben der Innenentwicklung sind zwar stadtpolitisch und planerisch erwünscht, verlaufen aber in den wenigsten Fällen ohne Widerstand zumindest in der Anwohnerschaft - so die Ergebnisse der Studie aus der Untersuchung von 13 Projekten der Innenentwicklung. Dazu passen auch die Differenzen in der Bewertung von Ziegelhöhe (geplant) und Ulmer Schanz (Bestand). Die damit verbundenen politischen Konflikte münden nicht selten in grundlegen den Auseinandersetzungen über wohnungs- und stadtentwicklungspolitische Fragen. Dies greift weit über die eigentliche Berücksichtigung von Anliegen der Betroffenen im Rahmen der vorgesehenen Beteiligung hinaus, so eine Erkenntnis aus der Studie.
Für notwendig gehalten werden Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, um in der Verbindung mit dokumentierten Qualitätsansprüchen auch in der Bürgerschaft für mehr Akzeptanz zu werben.
Die Studie belegt indirekt, dass Stadtverwaltung und Kommunikation doch Gegensätze sind in Mühlacker. Denn die Stadtverwaltung entschied sich, auf die teilweise nicht zu akzeptierende Kritik öffentlich nicht zu reagieren, den Mitgliedern des Gemeinderates aber ein Argumentationspapier zu den Punkten an die Hand zu geben. Ein fürwahr wunderlicher Vorgang. Handelte es sich um ein Geheimpapier? Durfte es bei kontroversen Debatten öffentlich verwendet werden? Oder sollten wir es wie einen Spickzettel bei der Klassenarbeit einsetzen? Geheim, verboten und doch nicht geheim? Unfair war es, diese Gegenargumente dem Leserbriefschreiber vorzuenthalten.
Bevor die schriftliche Kriegserklärung des BUND im MT erschien, warb ich bei der Verwaltung mündlich für eine öffentliche Stellungnahme auf Leserbriefe, stieß aber auf Ablehnung. Letztlich spitzte sich dies auf die irrsinnige Frage zu, ob Leserbriefschreiber ernst genommen werden. Die Meinungen, ob auf Leserbriefe reagiert werden soll, gehen grundsätzlich auseinander.
Bei festgefügten Meinungsbildern beider Seiten bringen Antworten in der Regel wenig. Wenn aber vermeintliche oder tatsächliche Fakten präsentiert werden, dann sieht dies mit Entschiedenheit anders aus, denn es gilt, bei Lesern (wenn möglich, auch bei den Schreibern) dem Festsetzen falscher Informationen vorzubeugen. Der Auffassung, niemand nehme Leserbriefe ernst, widerspreche ich entschieden. Die Ludwigsburger Kreiszeitung lässt sich seit Jahrzehnten die Erforschung der Meinung der Leserinnen und Leser zum Blatt regelmäßig etwas kosten und schaltet demoskopische Institute ein. Eines der Ergebnisse: Leserbriefe werden von fast 90 Prozent der Nutzer der Zeitungen zur Kenntis genommen. Wiederum andere Leser beziehen sich darauf und schreiben eigene Leserbriefe dafür oder dagegen, was belegt, dass Leserbriefe ernstgenommen werden.
Eines geht nicht - auf Leserbriefe mit einem internen Spickzettel für die Stadträte zu antworten und so dem Verfasser der Zuschrift an die Redaktion die Möglichkeit zu nehmen, a) seine Meinung zu revidieren oder b) auf seiner Ansicht zu beharren und c) den Lesern - sozusagen den Zaungästen - mehr Informationen zu bieten, auf dass sie sich ein eigenes Urteil bilden können.
Inzwischen reagierte die Stadtverwaltung mit einem Text zur Klarstellung und Aufhellung. Gut so! Objekt unterschiedlicher Wertungen ist inzwischen eine Hecke zirca zwölf Meter östlich der geschützten Mähwiese und auf freiem Feld in Süd-Nord-Richtung verlaufend, die im Norden des Plangebiets nach Osten abknickt. Die Hecke sei in der Kartierung der Landesanstalt für Umwelt nicht als Biotop erfasst, und die Naturschutzbehörde beim Landratsamt habe im Verfahren mitgeteilt, dass es sich nicht um ein geschütztes Biotop handle, so die Stadtverwaltung.
Einer der Leserbriefschreiber hält in einem Schreiben an alle Stadträte - Reaktion auf das interne Argumentationspapier der Verwaltung für den Gemeinderat - entgegen, die gewachsene Hecke am Ostrand der Mähwiese sei vernetzt und Teil des Gesamtbiotops Hohlwegs bzw. FFH-Gebiets im Norden. Eine angedachte Neupflanzung werde erst in etwa 10 bis 20 Jahren entsprechenden Schutzraum für Pflanzen und Tiere bieten. Bis dahin würden unter anderem Goldammern, Zeisige und verschiedene Fledermausarten auf der Roten Liste stehen oder ausgestorben sein. Das FFH-Gebiet, die Mähwiese und die Hecke seien Teil eines Gesamtverbunds. Dieser Artenschutz-Position hielt bei der kurzen Debatte im Gemeinderat der Ratskollege Jürgen Metzger als Fachmann für Grünes entgegen, eine neu gepflanzte Feldhecke erreiche in etwa vier Jahre die jetzige Wertigkeit.
Ist der Wohnraum eines Zeisig wichtiger als der für einen Menschen?
Ich jedenfalls schaute mir heute die Hecke trotz Regenwetters an. Obwohl ich ihren ökologischen Wert nicht herunterspielen will - aber wer auf dem Land aufwächst, sieht Hecken wachsen und fallen, alte verschwinden, neue gedeihen. Eine Hecke zum zentralen Streitpunkt eines Bebauungsplanverfahrens auszurufen, geht eher an der Sache vorbei. Kompromiss möglich? Die Stadtverwaltung will im Bebauungsplan Ersatz verlangen. Wo? Diese Information gehört in eine öffentliche Kommunikation eingebaut. An der darf es bei einem solchen Projekt nicht mangeln. Nicht umsonst begleiten Kommunikationsfachleute bei solchen Vorhaben die gesamte Arbeit bis zum Schluss. Nur Mühlacker meint, darauf verzichten zu können, riskiert somit hausgemachte Fehler.
Aber noch ist es nicht zu spät hier umzudenken. Denn der nächste Konflikt steht schon ins Rathaus. Im Cluster AO (südwestliche Ecke der Wohnbebauung) ist ein Baufenster im Bebauungsplanentwurf ausgewiesen, das weitaus größer ist als das in dem vom Gemeinderat verabschiedeten Rahmenplan. Eine Panne, die ausgemerzt werden muss - klare Linie ist auch hier besser als das Herunterspielen. Wichtiger zudem als die Hecken-Frage.
Entscheidend: Das neue Stadtquartier entsteht - hier die aktuelle Lage.
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