Pietà in der Röhre
Alte Dame und supermoderne Computerwelt: 42 Stunden lang musste die mehr als 500 Jahre alte und zudem ordentlich lädierte Pietà aus der Frauenkirche Lienzingen in der Röhre ausharren. Jetzt ist die traurige Mutter Gottes virtuell in Schichten zerlegt. Ein gewaltiger Datenberg wuchs heran. Über das spätgotische Skulpturenfragment, ihren inneren Zustand (Holzwürmer!) und ihre neue Beweglichkeit plauderte heute Dr. Michael Böhnel, Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen IIS in Fürth zum Abschluss einer sechsteiligen Veranstaltungsreihe der Volkshochschule Mühlacker.
Die 1,60 Meter hohe Skulptur aus Lindenholz gehört zu jener Gattung von Kandidaten, die das Maß für einen normalen Computertomographen sprengen. Extra für solch große und schwere Fälle unterhält das Entwicklungszentrum Röntgentechnik (EZRT) des Fraunhofer Instituts e.V. in Fürth seit Jahren eine hochmoderne CT-Anlage, eingesetzt auch für einzigartige Kunst und Kulturgüter. So soll eine zerstörungsfreie Analyse des Aufbaus und der inneren Strukturen ermöglicht werden. Das Institutsteam ermöglicht einen Einblick in die aktuelle CTTechnik und Resultate spannender Objekte aus den Bereichen der Paläontologie, Archäologie und musealen Sammlungen, heißt es denn auch auf der Web-Seite des Instituts.
Deshalb reiste die Pietà – seit 1977 im Heimatmuseum Mühlacker – am 11. Oktober 2021 nach Fürth zum Fraunhofer Institut. Dort wird eine Computertomographie von der Pietà gemacht. Im Blog des Historisch-Archäologischen Vereins Mühlacker (HAV) werden Stationen des Projektes beschrieben. Etwa zwei Wochen nach dem Ausflug ins Fränkische gab es erste Erkenntnisse. Es sei schon deutlich geworden, dass die Pietà einige – nicht immer leicht zu erschließende – Besonderheiten verberge. Der massive Kern sei mit mehreren Ergänzungen komplettiert, um darum die Skulptur zu gestalten oder zu verbessern, der Holzwurm sei im Inneren der Figur sehr aktiv. Die aufgetragene Farbe setze sich aus metallischen Bestandteilen zusammen, die als weißer Auftrag zu erkennen. Es verbergen sich Nägel aus Metall und hölzerne Dübel, mit Hilfe derer die Einzelteile, so die Köpfe befestigt wurden.
Die Pietà kehrte zunächst nicht nach Mühlacker zurück, sondern machte Station in Stuttgart zwecks weiterer Untersuchungen in der Kunstakademie nach allen Regeln der Restaurationskunst – das Original wie der Scan.
Besucher des Vortragsabends interessierten sich nicht nur für Pietà in der Röhre, sondern auch für diesen vielfältigen Wissenschaftskonzern, immer noch getragen von einem Verein. Zur Vorgeschichte: Alles begann einmal ganz klein: Am 1. Juli 1985 übernahm die Fraunhofer-Gesellschaft das Zentrum für Mikroelektronik und Informationstechnik ZMI als Abteilung Angewandte Elektronik mit 20 Mitarbeitern in die neu eingerichtete Fraunhofer-Arbeitsgruppe. Eine zweite Abteilung Bauelementetechnologie mit 15 Mitarbeitern wurde gleichzeitig gegründet.
Aus diesen beiden Abteilungen entstanden die seit 2003 in ihrer jetzigen Form bestehenden Institute IIS und IISB. Heute arbeiten an IIS und IISB nach Fraunhofer-Angaben zusammen mehr als 1100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem Jahresbudget von in Summe über 145 Millionen Euro. Das IIS ist mit 880 Mitarbeitern das größte Institut der Fraunhofer-Gesellschaft.
Maria aus der Liebfrauenkirche Lienzingen, einer Marien-Wallfahrtskiorche, schien während des Ausflugs in modernste Computertechnik in der historischen Kelter zu Mühlacker von ihrem Platz nebenan zu grüßen. Die von Bildhauer Thomas Hildenbrand geschnitzte Pietà-Replik wird wohl bald fertig sein. Jedenfalls soll das Duplikat am 11. September 2022 im Chor der Frauenkirche aufgestellt werden. Die Lienzinger sind gespannt. Offiziell ist dies dann der Abschluss des gemeinsamen Projekts von Stadt und HAV zur kulturhistorischen Aufarbeitung durch Hannah Backes, die darüber ihre Masterarbeit an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart schrieb.
Etwa 1486 hielt die Pietà Einzug in die Feldkirche, bunt bemalt, stand sie zunächst wohl vor dem Chor, fristete dann in den letzten Jahrzehnten vor ihrem Umzug nach Mühlacker 1977 ein tristes Dasein in der Sakristei - gleich neben den Särgen mit den Toten vor ihrem Begräbnis auf dem Friedhof.
Kommentare
B. Griffel am :