Vorzeitig, frühzeitig - was nun? - Die Nomenklatur der Weichensteller

Beteiligungsparadoxon – das neue Mühlacker Reizwort,  eingebracht  von  Oberbürgermeister und zuständigem Fachamt der Stadtverwaltung in der Antwort auf meine Gemeinderatsanfrage zu der Bürgerbeteiligung bei  der Planung Alte Ziegelei beziehungsweise jetzt Ziegelhöhe. Mit zunehmender Konkretisierung der Planung steige das Interesse der Beteiligten, aber verringerten sich zugleich die Gestaltungs-, Einfluss- und Spielräume, so die Botschaft aus dem Backsteingebäude am Kelterplatz.  Manche, die jetzt Änderungen fordern, hätten sich schon 2016 melden können – damals war jedoch von ihnen nichts zu hören, beklagt der OB.

Weder Mühlacker Marke noch Mühlacker Spezialität ist dies,  sondern ein Problem,  mit dem sich viele Kommunen herumschlagen, das jedoch bei der Entwicklung einer  Konversionsfläche garnicht so einfach gelöst werden kann oder von manchen gar als unlösbar dargestellt wird, weil sie dies auch nicht wollen. Die Kernfrage: Schalten wir früh genug die Bürgerinnen und Bürger in neue Planungen ein? 

Beispiel Filderstadt - wann soll die Bürgerbeteiligung einsetzen? (Quelle: Stadt Filderstadt)

Das Zauberwort heißt Kommunikation, mit der sich manche auch in Kommunalverwaltungen schwer tun. Übrigens auch  im Mühlacker Rathaus bei internen Informations- und Entscheidungswegen.  Dass sich mit dem Reizwort nicht alles entschuldigen lässt, macht heute Frank Goertz in einem lesenswerten MT-Kommentar mit  der Mühlacker Variante des Beteiligungsparadoxons. 

Gehen wir doch den Strängen nach.

Strang 1:

Was ganz formal und höchst amtlich ist, juristisch abgesichert gar: Der Gemeinderatsausschuss für Umwelt und Technik (UTA)  beschloss am 22. Februar 2022  für den Bereich Alte Ziegelei einen Bebauungsplan mit örtlichen Bauvorschriften aufzustellen und startete zudem die frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit – ersteres gemäß § 74 Landesbauordnung (LBO), zweiteres nach § 3 Abs. 1 BauGB. Gleichzeitig lud die Stadt für den 7. April 2022 zu einer  öffentlichen Vorstellungs- und Diskussionsrunde im Uhlandbau ein. Für Bedenken und Anregungen setzte die Kommune eine Frist bis 14. April 2022. 

Seitdem werden Kritiker aktiv, so als seien sie aus einem Tiefschlaf aufgewacht. Sie akzeptieren den Vorwurf aus dem Rathaus nicht, ihre Chancen nicht rechtzeitig genutzt zu haben. Allzu verständlich ist diese Reaktion etwa aus der Ulmer Schanz bei einem Blick auf die bisherige Zeitschiene. Kaum zu vermitteln ist den Menschen, dass ein Verfahren, das sich frühzeitige Bürgerbeteiligung nennt, offenbar garnicht frühzeitig ist.

Der Hinweis in der Antwort der Verwaltung auf meine Anfrage zur Bürgerbeteiligung im B-Verfahren erhellt, was die Verwaltungs- und Amtsspitze meint: Der Vorentwurf des Bebauungsplans mit Textteil und Begründung (Fassung vom 30.10.2015) sowie Vorentwurf des Umweltberichts (Fassung vom 02.10.2015) lag in der Zeit vom 30.11.2015 bis einschließlich 11.01.2016 aus. Ergo: Wer mehr wissen wollte, musste ins Rathaus marschieren. Parallel dazu fand die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange statt. Das war die vorzeitige Bürgerbeteiligung. Keine Versammlung, nur eine Offenlage. 

Strang 2:

Zur Erinnerung: Der städtebauliche Wettbewerb für dieses neue Stadt-Quartier lief schon 2013. Der damalige Eigentümer finanzierte den Wettbewerb, trennte sich aber im Dezember 2017 von dem großen Stück Land – die Stadt übernahm und bezahlte ihm 7,5 Millionen Euro. Der Gemeinderat verwarf die Variante, das Gebiet durch die Kommune selbst zu entwicklen, suchte deshalb nach einem Investor und fand diesen schlussendlich 2019 in der Hofkammer Projektentwicklung in Ludwigsburg – eine Unternehmen mit feiner Adresse, gehört es doch dem Haus Württemberg, das bis zur Revolution den Staat Württemberg, zuletzt Königreich, regierte. Das war und ist eine gute Entscheidung, ein solider Partner.

Der Skeptiker: https://www.bayika.de/de/aktuelles/meldungen/2021-11-26_Buergerbeteiligung-auf-Augenhoehe_Dieter_Raesch.php

Parallel dazu war das Bebauungsplanverfahren in die Warteschleife verschoben worden und nahm erst im Frühjahr 2020 wieder Fahrt auf, als die Hofkammer das Stück Innenstadt beim Bahnhof Mühlacker mit 22 Hektar für gut zwölf Millionen Euro der Stadt abkaufte (zu bezahlen nach Raten, je nach Stand und Fortschritt des Bebauungsplanes - bisher weitgehend Fehlanzeige).  

Der Kern des Problems steckt wohl hier: Wenn das Ratsinformationssystem die richtigen Vorlagen anzeigte, stand zwischen 2017 und 2020 etwa 16 Mal das Projekt auf der Tagesordnung, doch nur zu einem Drittel im öffentlichen Teil. Meist behandelte der Gemeinderat das Projekt Ziegelei hinter verschlossenen Türen. 
Die Entscheidung: Mit oder ohne Publikum? trifft der Oberbürgermeister. 

Auch wenn dieses Verfahren wohl rechtlich nicht zu beanstanden ist, sachlich und ohne Wertung bleibt festzustellen: Die Öffentlichkeit blieb im Tal der Ahnungslosen zurück. Selbst der Gemeinderat beklagte, nicht immer auf dem Laufenden zu sein. Teile des Gremiums wünschten sich eine interfraktionelle Gruppe, die vom OB bei Gesprächen mit der Hofkammer jeweils beizuziehen gewesen wäre. Doch es blieb bei dem Vorschlag, den die Verwaltungsspitze nicht aufgriff, zumal auch niemand einen Antrag stellte. Der Beschluss für den Kaufvertrag fiel dann einstimmig im März 2021 in öffentlicher Ratssitzung. Ende Januar 2021 legte der OB seine Verhandlungsergebnisse informell dem Gremium vor, das nun Gelegenheit hatte, vor der Endrunde der Verhandlungen mit der Hofkammer Änderungswünsche vorzubringen. 

Strang 3:

Klar war allen im Rat: Wenn die Stadt das Quartier verkauft, hat der neue Eigentümer das Sagen, aber die Kommune steuert über den Bebauungsplan, setzt den rechtlichen Rahmen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Die Gretchenfrage: Wie groß ist unser Spielraum als Bürgervertreter? Die Nagelprobe steht noch aus, möglicherweise wird es nie dazu kommen.

Der Gemeinderat traf sowohl die Entscheidungen zum B-Plan und als auch zum Kaufvertrag, weiß um die Verknüpfung. Die B-Plan-Beratungen waren öffentlich, doch ein Kaufvertrag kann nicht auf offenem Markt verhandelt werden. Die Verknüpfung ist da, doch diese Kombination erschwert der Öffentlichkeit auch die Information und Kommunikation. 

Der Bebauungsplan war immer öffentlich beraten worden, dagegen der Kaufvertrag weitgehend geheim. Beide bilden das Gesamtpaket, wobei dem Blick der Öffentlichkeit die zweite Hälfte verborgen blieb. 

Ruthard Hirschner, promovierter Jurist, Rechtsanwalt und Mediator, bis Juli 2017 Beigeordneter der südbadischen Stadt Schopfheim,  beschäftigt sich mit dem Beteiligungsparadoxon. Für ihn steht fest: Wer die  Bürger auf seiner Seite haben will, muss mit offenen Karten spielen und darf nichts zurückhalten. Er schreibt:

Eine Beteiligung von Akteuren der Zivilgesellschaft an Planungs- und Entscheidungsprozessen schafft Transparenz und Akzeptanz. Voraussetzung ist allerdings sowohl eine frühzeitige Information als auch eine solche über den gesamten Planungs- und Entscheidungsprozess hinweg. Entstehende Konflikte sind nicht aufzuschieben, sondern frühzeitig mit ei-ner Mediation zu lösen. Dadurch kann das Beteiligungs- oder Partizipationsparadoxon weitgehend verhindert werden. Nur so entsteht Vertrauen in das Planungs- und Entscheidungsverfahren sowie in das Ergebnis solcher Verfahren, was Nachvollziehbarkeit in dem Sinne voraussetzt, dass im Verfahren aufgeworfene Fragen und Einwände umfassend zu begründen und zu beantworten sind, um eine Entscheidung transparent zu machen. Es muss daher das Ziel und die Konsequenz sein, die Bürgerinnen und Bürger schon vor Beginn eines Verfahrens für eine möglichst breite Beteiligung (Partizipation) zur Gestaltung ihrer Lebensräume zu gewinnen, um dem Beteiligungsparadoxon entgegenzuwirken.

Das neue Stadt-Quartier auf den Gelände der alten Ziegelei soll nicht zu fern realisiert werde.

Ist uns das gelungen? Sicherlich nicht in der gesamten Breite des Projekts. Die Verwaltung hätte  mehr kommunizieren müssen sowohl mit dem Gemeinderat also auch mit der Bevölkerung – frühzeitig und laufend über das Gesamtpaket. Lernen wir daraus. Sehen wir ergo in Bürgern, die sich jetzt zu Wort melden, keine Störenfriede (siehe Zeitschiene).

Wie geht’s weiter?

Die Bedenken und Anregungen werden nun dem Gemeinderat vorgelegt. Der muss im Rahmen des B-Planes alle Gesichtspunkte gegeneinander abwägen und dann nachvollziehbar entscheiden – nicht die Verwaltung!  Zwar muss dies zügig geschehen, aber nicht unter Zeitdruck.  Natürlich wird einbezogen, dass es Abschläge geben könnte, wenn der Kaufvertrag Hofkammer./.Stadt tangiert wird, womöglich Abschläge drohen beim Kaufpreis, den die Hofkammer bezahlt. Allerdings zeigte sich das Unternehmen bisher konziliant. Doch heiße Debatten im Rat sind beim Abwägungsgrund Geld und Haushalt nicht auszuschießen. 

Eines dann doch noch:  die spezielle Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an der Bauleitplanung (UN-Kinderrechtskonvention/GemO B-W/Paragraf 3, Absatz 1 BauGB). Wenn wir keinen Jugendgemeinderat haben, müssen wir generell Wege finden zur Jugendbeteiligung. Corona stoppte leider das Projekt projektbezogene Beteiligung 2020 im Pro Zwo durch die Stadtverwaltung und Fraktionen.

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